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Karl Viktor Klingemann war von 1913 bis 1928 Generalsuperintendent der rheinischen Provinzialkirche. Der glänzende Redner und begabte Organisator engagierte sich politisch im Alldeutschen Verband und zählte zu den aggressivsten Exponenten in der nationalistisch-monarchistischen Hauptrichtung der evangelischen Pfarrerschaft vor 1933.
Klingemann wurde am 29.11.1859 in London als Sohn des hannoverschen Legationsrates Karl Viktor Klingemann (1798-1862) und seiner Ehefrau Sophie geborene Ballhorn-Rosen (1822-1901) geboren. Die musisch begabte Familie war unter anderem eng mit Felix Mendelssohn Bartholdy (1809-1847) befreundet; 1909 publizierte der Sohn eine Edition des Briefwechsels zwischen dem Komponisten und dem älteren Klingemann. Der Vater verstarb bereits 1862 und die Familie kehrte nach Deutschland zurück. Nach dem Studium der evangelischen Theologie in Bonn und Marburg absolvierte Klingemann 1883 die theologischen Prüfungen in Koblenz.
Bereits dem jungen, frisch ordinierten Theologen, der die englische und französische Sprache fließend beherrschte, war eine gewisse diplomatische Weltläufigkeit zu eigen. Dies äußerte sich in der Wahl seiner ersten Pfarrstelle, der deutsch-französischen evangelischen Gemeinde im ägyptischen Alexandria. Die Erfahrung der guten Zusammenarbeit mit den Kaiserswerther Diakonissen, die das dortige Krankenhaus betreuten, führte zu einer fortdauernden Verbundenheit mit dem Mutterhaus.
Ein kurzes, aber prägendes Intermezzo bildete seine erste Pfarrstelle nach der Rückkehr in Deutschland. 1890-1891 amtierte er als Vereinsgeistlicher und Reiseprediger des rheinischen Provinzialausschusses für Innere Mission in Langenberg (heute Stadt Velbert). Hierdurch erwarb er sich ein vertieftes Verständnis der Sozialen Frage und engagierte sich fortan für die evangelischen Arbeitervereine. In Langenberg heiratete er Margarethe Conze (1866-1956), die Tochter eines dort ansässigen Seidenfabrikanten. Aus der Ehe gingen vier Kinder hervor.
Es war nur konsequent, dass er sich für die nächste Berufsstation in die rasch wachsende Großstadt Essen orientierte. In Essen-Altstadt erwarb er sich durch seine geschickte Verhandlungsführung rasch einen guten Ruf in den kirchlichen und kommunalen Gremien. Allseits gerühmt wurden seine Kindergottesdienste, zu denen sich in der Pauluskirche (1944 zerstört) bis zu 1.300 Kinder mit etwa 50 Helferinnen und Helfern einfanden. Darüber hinaus hatte Klingemann zahlreiche überregionale Funktionen inne wie etwa den Vorsitz im Rheinischen Kirchengesangverein, dem Dachverband der evangelischen Kirchenchöre. In Essen selbst rief er einen Bach-Verein ins Leben. Weitere Herzensanliegen waren ihm die Diasporaarbeit des Gustav-Adolf-Vereins sowie die Tätigkeit der Rheinischen Mission in Afrika und Asien. Seine lebhafte Publikationstätigkeit begründete er 1898 mit der Schrift „Buddhismus, Pessimismus und moderne Weltanschauung“. Als im Jahr 1900 von der überdimensionierten Ruhrsynode der Bereich der Großstadt Essen mit elf Kirchengemeinden abgetrennt wurde, wurde der gerade 40-Jährige zum Superintendenten des neuen Kirchenkreises gewählt.
Im gleichen Jahr sprang Klingemann kurzfristig - und erfolgreich - als Redner bei einer Kundgebung des Alldeutschen Verbandes am Niederwalddenkmal ein. Aus dieser Zeit datiert die lebenslange Freundschaft mit dem Mainzer Rechtsanwalt Heinrich Claß (1868-1953), der 1908 den Vorsitz des Verbandes antrat und Klingemann zu seinem Stellvertreter bestimmte. Im Vorstand bearbeitete er speziell die Ressorts Englandfragen, Kultur und Grenzland-Deutschtum. In letzterer Zuständigkeit polemisierte er 1911 mit zahlreichen Eingaben gegen den Plan von Reichskanzler Theobald von Bethmann-Hollweg (1856-1921), im bisherigen Reichsland Elsass-Lothringen eine Verfassung einzuführen. Die seit 1908 von Claß propagierte gesteigerte aggressive und expansionistische Ausrichtung des Verbandes trug der strenge Lutheraner voll mit, wobei er in seiner intensiven politischen Agitation offensichtlich keinen Widerspruch zur Zwei-Reiche-Lehre sah.
1913 wurde Klingemann, der nun zu den profiliertesten rheinischen Pfarrerpersönlichkeiten zählte, zum neuen Generalsuperintendenten der Provinzialkirche ernannt. Damit war er Dienstvorgesetzter aller Pfarrer im Rheinland, von denen er in den nächsten 13 Jahren viele anlässlich von Jubiläen oder besonderen Gemeindeereignissen in ihren Pfarrhäusern besuchte. Neuer Dienstsitz war nun Koblenz, wo auch der preußische Oberpräsident amtierte. Er folgte dort dem nach nur einjähriger Amtszeit verstorbenen Christian Rogge nach. Aus dem Vorstand des Alldeutschen Verbandes zog sich Klingemann nun wegen Arbeitsüberlastung zurück, er blieb aber Mitglied.
Ganz im Sinne der Verbandsdoktrin begrüßte er 1914 den Kriegsausbruch „als ein Mittel zur Erreichung göttlicher Ziele“. Sein beim Evangelischen Preßverband erschienener Traktat „Wofür kämpfen wir?“ stellte unmissverständlich den Kampf um deutschen Lebensraum in den Mittelpunkt der Kriegsziele: „Der Gewinn menschenarmer oder menschenleerer Gebiete [...] für unsere Kriegsverstümmelten, soweit sie für Landarbeit und ländlichen Kleinbetrieb sich eignen [...]“. Im Sommer 1915 folgte seine Schrift „Das Heldentum in der Bibel“. Wenige Wochen nach Erscheinen fiel sein einziger Sohn Hermann an der Ostfront. In dem Buch „Vaterleid“ (1918) suchte Klingemann seine Trauer literarisch zu bewältigen.
Die Weimarer Republik lehnte der weiterhin monarchistisch gesinnte Generalsuperintendent scharf ab. Dies manifestierte sich bereits 1919 mit seinem Flugblatt „Wer verschuldete den Schmach- und Hungerfrieden?“ Aber er arrangierte sich mit den neuen politischen Verhältnissen und stellte gemeinsam mit Präses Walther Wolff die Weichen für die neue Kirchenverfassung. Auf der Weltkonferenz für Praktisches Christentum in Stockholm 1925, einem Meilenstein der ökumenischen Bewegung, zählte er zu den Wortführern der 40-köpfigen deutschen Delegation. Seine dortige Rede, in der er seiner Skepsis über den Völkerbund und der Not der besetzten Rheinlande Ausdruck verlieh, führte zu einer heftigen politischen Kontroverse. Der bekannte Ökumeniker Friedrich Siegmund-Schultze (1885-1969) sprach in diesem Zusammenhang gar von „Terrorismus einer nationalistischen Gruppe“.
1928 trat Klingemann hochgeehrt von Kirche und Politik in den Ruhestand. Mehrere Jahre nahm er noch eine Honorarprofessur an der Universität Bonn wahr. Er näherte sich wieder dem weiterhin bestehenden Alldeutschen Verband an, dessen Vorsitzender Claß ihm attestierte, dass Klingemann in den folgenden Jahren „einer der führenden Männer der Nationalen Opposition gegen die schwarz-rote Systemherrschaft“ gewesen sei. Seine 1929 erschienene Schrift über „Rasse und Volkstum in ihrem Verhältnis zu Religion und Glauben“ rezipierte weitgehend die zeitgenössischen Rasselehren. An die Herrschaftsübernahme der Nationalsozialisten 1933 knüpfte er folgerichtig hohe Erwartungen, insbesondere auch an die Bemühungen der „Deutschen Christen“, eine zentralisierte evangelische Reichskirche zu schaffen.
Klingemann verstarb am 1.2.1946 in Bonn. Gemäß testamentarischer Verfügung trug sein dortiger Grabstein die Inschrift: „Ein deutscher Zeuge der Auferstehung Jesu Christi."
Werke (Auswahl)
Buddhismus, Pessimismus und moderne Weltanschauung, Essen 1898.
Pilatus. Ein Passionsspiel, Essen 1904.
Das Heldentum in der Bibel, Bonn 1915.
Vaterleid, Essen 1918.
Rasse und Volkstum in ihrem Verhältnis zu Religion und Glauben. Ein Missionsproblem, Essen 1929.
Die Lebenskräfte der evangelischen Kirche Rheinlands, Essen 1931.
Literatur
Baecker, Roger, Klingemann, Karl, in: Biographisch-Bibliographisches Kirchenlexikon, Band 4, 1992, Sp. 61-64
Rosenkranz, Albert, D. Karl Klingemann. Zum hundertjährigen Geburtstag am 29. November 1959, in: Monatshefte für Evangelische Kirchengeschichte des Rheinlandes 9 (1960), S. 1-6
[ohne Autor], D. Klingemann. Zum achtzigsten Geburtstag am 29. November 1939, Essen 1939.
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Flesch, Stefan, Karl Klingemann, in: Internetportal Rheinische Geschichte, abgerufen unter: https://www.rheinische-geschichte.lvr.de/Persoenlichkeiten/karl-klingemann/DE-2086/lido/57c9359edcc264.22887285 (abgerufen am 14.11.2024)