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Mit seiner individuellen und unangepassten Ästhetik gilt Karlheinz Stockhausen als einer der bedeutendsten und einflussreichsten deutschen Komponisten der Nachkriegszeit. Als radikaler Erneuerer in den Konzertsälen rief er ebenso Begeisterungsstürme wie Skandale hervor und stellte sein ganzes Leben konsequent in den Dienst seines Schaffens. Über 370 Stücke hat er der Nachwelt hinterlassen, zu denen neben Bühnen- und Orchesterwerken Vokalmusik, Kammermusik und elektronische Kompositionen gehören. Nicht selten wurde er für sein exzentrisches Auftreten und seine esoterisch geprägte Lebensweise kritisiert oder sogar verspottet. Das stellt jedoch seine Bedeutung in der Musikgeschichte des 20. Jahrhunderts nicht in Frage und hat nichts daran geändert, dass die Schar seiner Anhänger in der Szene für Neue Musik bis heute groß ist.
Geboren wurde Karlheinz Stockhausen am 22.8.1928 als Sohn des Volksschullehrers Simon Stockhausen (1899-1945) und seiner Ehefrau Gertrud (1900–1941), geborene Stupp, in Mödrath, einem kleinen, nicht mehr bestehenden Ort im Braunkohlerevier westlich von Köln. Die Familie war katholisch. Obwohl die Eltern wenig Geld besaßen, bekam der Sohn die Möglichkeit Klavier zu lernen, und sobald er gewisse Fähigkeiten auf dem Instrument erworben hatte, trug er durch abendliches Spielen in Kneipen und bei Vereinsfeiern zum Lebensunterhalt der Familie bei. Kindheit und Jugend waren überschattet von dem frühen Verlust seiner Eltern: Die Mutter, die an Depressionen litt, einen Suizidversuch unternommen hatte und 1932 in die Heilanstalt Galkhausen eingewiesen worden war, wurde am 27.5.1941 in der Tötungsanstalt Hadamar im Rahmen des NS-Euthanasie-Programms ermordet, der Vater fiel 1945 im Zweiten Weltkrieg. Nach Kriegsende holte Stockhausen am Gymnasium in Bergisch Gladbach sein Abitur nach und begann an der Kölner Musikhochschule Klavier und Schulmusik zu studieren. Außerdem schrieb er sich an der Kölner Universität für Musikwissenschaft, Philosophie und Germanistik ein. Um sein Studium zu finanzieren, trat er als Barpianist auf oder begleitete Tanzstunden.
Anfang der 1950er Jahre kam er in Kontakt mit Werken des Komponisten Olivier Messiaen (1908–1992), die ihn nachhaltig beeinflussten und die 1951 zur Entstehung von „Kreuzspiel“ für Oboe, Bassklarinette, Klavier und drei Schlagzeuger führte. Der deutliche Bruch mit der traditionellen Melodik, Rhythmik und Gestaltung wurde von dem Publikum als so radikal wahrgenommen, dass die Uraufführung unter Stockhausens Leitung in Darmstadt 1952 mit einem Skandal endete. 1952/1953 studierte er bei Messiaen in Paris; von dort wurde er durch den Komponisten und Musikkritiker Herbert Eimerts (1897–1972) zur Mitarbeit im Kölner Studio für elektronische Musik eingeladen, an dem er zunächst als Mitarbeiter tätig war, von 1963 bis 1977 als Leiter und anschließend bis 1990 als Berater. Zu seinen ersten beiden Produktionen elektronischer Musik „Studie I“ (1953) und „Studie II“ (1954) wurden ein Arbeitsbericht und eine vollständige Partitur veröffentlicht. In späteren Jahren folgten Werke wie „Gesang der Jünglinge“, „Kontakte“, „Hymnen“, „Sirius“ und „Oktophonie“. Während viele der früheren elektronischen Kompositionen bis ins kleinste Detail festgelegt waren, experimentierte Stockhausen später damit, den Interpreten im Rahmen der Aufführung künstlerischen Spielraum zu lassen.
Rückblickend werden insbesondere Stockhausens elektronische Kompositionen als Pionierleistungen in der Musikgeschichte der Nachkriegszeit angesehen. Auch war er einer der ersten Komponisten des 20. Jahrhunderts, der in seinen „Raumkompositionen“ gezielt den Klang der Räumlichkeiten, in denen Musik aufgeführt wurde, mit in die Konzeption seiner Werke einbezog. In diese Kategorie gehören Stücke wie „Gruppen für drei Orchester“ (1955–1957), „Carré“ (1959–1960) und „Sternklang“ (1971). Die in der Nachkriegszeit auf dem Gebiet der Neuen Musik intensiv erprobten seriellen Kompositionstechniken finden sich bei Stockhausen beispielsweise in Werken wie „Kreuzspiel“, „Punkte“ oder „Kontra-Punkte“. Etwa seit den 1950er Jahren wurde er in der Öffentlichkeit neben Pierre Boulez (1925–2016) und Luigi Nono (1924–1990) als einer der bekanntesten und wichtigsten Komponisten der Neuen Musik wahrgenommen. Zwischen Stockhausen und anderen in Köln lebenden Komponisten, von denen einige ebenfalls am Elektronischen Studio des WDR produzierten, kam es zu einem vielseitigen künstlerischen Austausch, so unter anderem mit Gottfried Michael Koenig (geboren 1926), auch ein Pionier der elektronischen Musik, Herbert Eimert und dem nach Ende des ungarischen Volksaufstands geflüchteten György Ligeti (1923–2006).
Stockhausen, der von dem rheinisch-katholischen Milieu seiner Heimat stark geprägt war, begann sich etwa seit den 1960er Jahren mit spirituellem, esoterischem Gedankengut zu beschäftigen, welches auch zunehmend Einfluss auf sein musikalisches Schaffen und die Wahrnehmung seiner Person in der Öffentlichkeit gewann. Hiervon zeugen Werktitel wie beispielsweise „Mantra“, „Sternklang“, „Atem gibt das Leben“ und „Sirius“. Auf Äußerungen wie das bekannte Stockhausen-Zitat: „Ich bin auf Sirius ausgebildet worden und will dort auch wieder hin, obwohl ich derzeit noch in Kürten bei Köln wohne“, reagierten viele Zeitgenossen mit Unverständnis und Ablehnung. Seiner internationalen Berühmtheit tat dies jedoch keinen Abbruch. Für die 1970 im japanischen Osaka veranstaltete Weltausstellung „Expo ‘70“ wurde nach Stockhausens künstlerischen Plänen ein „Kugelauditorium“, also ein kugelförmiger Konzertsaal, gebaut, in welchem das Publikum von allen Seiten elektroakustische Raumkompositionen live oder aus Lautsprechern erleben konnte.
1977 begann Stockhausen mit der Komposition seines außergewöhnlich umfangreichen Musiktheater-Zyklus mit dem Titel „Licht, Die sieben Tage der Woche“. Erst im Jahr 2003 wurde das gigantische Opus fertiggestellt, in dem religiöse, mythische und autobiographische Aspekte gebündelt sind und das mit einer Aufführungsdauer von 29 Stunden in seiner Gesamtheit praktisch als unspielbar gilt. Die einzelnen sieben Teile des Werkes wurden zwischen 1981 und 2012 in Mailand, Leipzig, Köln und Birmingham produziert, an anderen Orten wurden bisweilen auch Ausschnitte aus dem Werk halbszenisch oder konzertant gespielt. Elemente wie der Auftritt eines Streichquartetts in vier Hubschraubern, die den Aufführungsort überfliegen, tragen dazu bei, dass es nur selten zu Aufführungen kommt. Ein im Anschluss an „Licht“ begonnenes weiteres Riesenwerk mit dem Titel „Die 24 Stunden des Tages“ blieb Fragment und wurde 2010 postum an verschiedenen Orten in Köln uraufgeführt.
Neben seiner Tätigkeit als Komponist arbeitete Stockhausen auch als Pädagoge. So wirkte er als Dozent bei den internationalen Ferienkursen für Neue Musik in Darmstadt mit, hatte mehrere Gastprofessuren inne – unter anderem in der Schweiz, den USA, Finnland und Dänemark –, unterrichtete von 1963 bis 1968 Komposition bei den „Kölner Kursen für Neue Musik“ an der Rheinischen Musikschule und gründete ein Ensemble, das mit seinen Kompositionen weltweite Tourneen unternahm. Zwischen 1971 und 1977 leitete Stockhausen an der Kölner Musikhochschule seine eigene Kompositionsklasse, zu seinen Schülern gehörten unter anderem die Komponisten Urs Peter Schneider (geboren 1939), Robert HP Platz (geboren 1951), Clarence Barlow (geboren 1945) und Claude Vivier (1948–1983). Aufgrund seiner vielen Auslandsaufenthalte und seiner regen Kompositionstätigkeit kam es 1977 zum Eklat: Der damalige Wissenschaftsminister von Nordrhein-Westfalen, Johannes Rau, entschied, dass Stockhausen seine Aufgaben als Hochschul-Professor vernachlässigt hatte und entließ ihn fristlos.
Neben seinen vielfältigen anderen Aktivitäten war Stockhausen, der während seines Studiums auch darüber nachgedacht hatte, den Beruf des Schriftstellers zu ergreifen (einige seiner literarischen Versuche hatten damals zu einem Briefwechsel mit Hermann Hesse geführt), auch als Autor von zahlreichen musiktheoretischen Schriften präsent. 1975 begann seine verlegerische Tätigkeit mit der Gründung des Stockhausen-Verlags, in welchem neben seinen Werken und Schriften seine sämtlichen Werke auf CD erschienen sind.
Ebenso bewegt wie Stockhausens berufliches Leben verlief auch sein privates. 1951 heiratete er die aus Hamburg gebürtige Doris Andreae (geboren 1924), mit der er vier Kinder bekam. Sein 1957 geborener Sohn Markus Stockhausen schlug später die gleiche berufliche Laufbahn ein wie der Vater. Er studierte an der Musikhochschule Köln Klavier, klassische Trompete und Jazztrompete, gründete gemeinsam mit seinem Halbbruder, dem Komponisten Simon Stockhausen (geboren 1967), das Trio „Aparis“ und arbeitete im Lauf der Jahre mehrfach mit seinem Vater zusammen, der für ihn einige Stücke schrieb.
1957 lernte Stockhausen bei einem seiner Konzerte die damals in der Kölner Kulturszene bekannte Künstlerin Mary Bauermeister (geboren 1934) kennen, mit der er eine Liaison einging. Eine Zeit lang bemühten er, seine Frau und Mary Bauermeister sich, in einer Dreiecksbeziehung gemeinsam zu leben – der Versuch scheiterte jedoch. Nach der Scheidung von seiner ersten Frau heirateten Stockhausen und Bauermeister 1967. Aus der Ehe gingen zwei Kinder hervor, 1972 kam es zur endgültigen Trennung.
Auch in den folgenden Jahrzehnten arbeitete Stockhausen unermüdlich weiter, komponierte und brachte seine Werke im Rahmen von Konzerten und Festivals in allen Teilen der Welt zur Aufführung, wobei er fast immer als Leiter oder als Ausführender daran mitwirkte. Darüber hinaus kam es in der Öffentlich zunehmend zu einer theoretischen Auseinandersetzung mit seinem Werk: Vom 2.-9.8.1998 fanden erstmals die Stockhausen-Kurse in Kürten mit einem Programm aus Konzerten und Seminaren statt, an denen Musiker, Komponisten und Musikwissenschaftler aus verschiedenen Ländern teilnahmen. Im gleichen Jahr veranstaltete die Universität Köln vom 11.-14.11.1998 ein Stockhausen-Symposion.
Nach den Terroranschlägen vom 11.9.2001 auf das World Trade Center in New York rief eine Äußerung von Stockhausen weltweit Empörung hervor. So hatte er die Formulierung gebraucht, die Anschläge seien das „das größte Kunstwerk, das es je gegeben hat“. Auch die Ergänzung, dass es ein Verbrechen gewesen sei, da die Opfer nicht freiwillig an diesem Ereignis teilgenommen hätten, die spätere Entschuldigung für die unbedachten Worte sowie seine ausdrückliche Distanzierung von dem Terroranschlag konnten den Schaden, die den Äußerungen angerichtet hatte, nicht tilgen. Kurzfristig wurden zwei im Rahmen des Hamburger Musikfestes geplante Konzerte abgesagt.
Dennoch wurde Stockhausen posthum am 22.8.2008 (seinem 80. Geburtstag) in mehreren Städten der Welt wie in London, Lissabon, Bologna und Sydney mit großen Feierlichkeiten geehrt. Zu den vielen Auszeichnungen, mit denen Stockhausen für sein Schaffen geehrt wurde, zählen das Bundesverdienstkreuz 1. Klasse, der Siemens-Musikpreis, der Hamburger Bach-Preis, die Ehrendoktorwürde der Freien Universität Berlin und der Polar Music Prize. Der Einfluss Stockhausens beschränkte sich übrigens nicht nur auf die sogenannte „E-Musik“ in den Konzertsälen. Auch Rock- und Popmusiker wie die Beatles, Pink Floyd, Kraftwerk und Frank Zappa beschäftigten sich mit seinen Werken und sahen diese als Inspirationsquelle an. Auf dem Cover des Beatles-Albums „Sgt. Pepper’s Lonely Hearts Club Band“ von 1967 ist sein Portrait unter 70 anderen Berühmtheiten verewigt.
Karlheinz Stockhausen starb am 5.12.2007 in Kürten-Klettenberg. Er wurde auf dem Waldfriedhof in Kürten beigesetzt. Die Flötistin Kathinka Pasveer (geboren 1959) und der Klarinettistin Suzanne Stephens (geboren 1946), mit denen Stockhausen über Jahrzehnte eng zusammengearbeitet hatte, leiten die 1994 gegründete „Stockhausen-Stiftung für Musik“ in Kürten.
Werke (Auswahl)
1951 – Kreuzspiel für Oboe, Bassklarinette, Klavier, 3 Schlagzeuger Nr. 1/7
1952–1953 – Kontra-Punkte für 10 Instrumente (Dir.) Nr. 1
1952 – Klavierstücke I–IV Nr. 2
1953 – Studie I Elektronische Musik Nr. 3/I
1954 – Studie II Elektronische Musik Nr. 3/II
1954–1955 – Klavierstücke V–X Nr. 4 (IX und X beendet 1961)
1955–1957 – Gruppen für 3 Orchester (3 Dir.) Nr. 6
1955–1956 – Gesang der Jünglinge Elektronische Musik Nr. 8
1958–1960 – Kontakte für elektronische Klänge Nr. 12
1964 – Mikrophonie I für 6 Spieler mit Tamtam, 2 Mikrophonen, 2 Filtern mit Reglern Nr. 15
1966–1967 – Hymnen Elektronische und Konkrete Musik Nr. 22
1968 – Aus den sieben Tagen 15 Textkompositionen für Intuitive Musik Nr. 26
1974/1975 – Tierkreis 12 Melodien der Sternzeichen für ein Melodie- und/oder Akkordinstrument Nr. 41½
1975–1977 – Sirius Elektronische Musik und Trompete, Sopran, Bassklarinette, Bas
1977–2003 – Licht Die sieben Tage der Woche für Solo-Stimmen, Solo-Instrumente, Solo-Tänzer / Chöre, Orchester, Ballett und Mimen / Elektronische und Konkrete Musik
1992/1993 – Helikopter-Streichquartett (3. Szene vom MITTWOCH aus LICHT)
2004–2007 – Klang Die 24 Stunden des Tages Nr. 81–101
Literatur
Bauermeister, Mary, Ich hänge im Triolengitter. Mein Leben mit Karlheinz Stockhausen, München 2011.
Blumröder, Christoph von, Die Grundlegung der Musik Karlheinz Stockhausens, Stuttgart 1993.
Frisius, Rudolf, Karlheinz Stockhausen I: Einführung in das Gesamtwerk; Gespräche mit Karlheinz Stockhausen, Mainz 1996.
Frisius, Rudolf, Karlheinz Stockhausen II: Die Werke 1950–1977; Gespräch mit Karlheinz Stockhausen, „Es geht aufwärts“, Mainz [u.a.] 2008.
Kurtz, Michael, Stockhausen – eine Biographie, Kassel 1988.
Online
Internetseite der Stockhausen-Stiftung für Musik [Online]
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Sträter, Nina, Karlheinz Stockhausen, in: Internetportal Rheinische Geschichte, abgerufen unter: https://www.rheinische-geschichte.lvr.de/Persoenlichkeiten/karlheinz-stockhausen/DE-2086/lido/5f74724ad64f10.00441443 (abgerufen am 06.12.2024)