Zu den Kapiteln
Laurentius Siemer war von 1932 bis 1946 Provinzial der deutschen Provinz des katholischen Predigerordens der Dominikaner (Ordo fratrum Praedicatorum, Ordenskürzel OP). Von Anfang an ein entschiedener Gegner der nationalsozialistischen Terrorherrschaft, beteiligte er sich seit 1941 auch aktiv am politischen Widerstand. Nach dem gescheiterten Attentat auf Hitler vom 20.7.1944 entging er nur knapp den Häschern der Gestapo. Nach dem Krieg engagierte sich Siemer für die Gründung der CDU als neue überkonfessionelle, christliche Partei. Von dem zwischen Köln und Bonn gelegenen Dominikanerkloster Walberberg (Stadt Bornheim) aus versuchte er gemeinsam mit seinem Ordensbruder Eberhard Welty die programmatische Entwicklung der CDU in Richtung der Idee eines „christlichen Sozialismus“ zu beeinflussen.
Siemer wurde am 8.3.1888 in Elisabethfehn bei Oldenburg als sechstes von zehn Kindern eines beamteten Kanalbaumeisters geboren und auf den Namen Josef Bernhard Franz getauft. Sein Elternhaus war tief religiös, neben Siemer wählten noch drei seiner Geschwister den geistlichen Stand. Siemer trat 1908 in den Dominikanerorden ein und erhielt den Ordensnamen Laurentius. Nach dem Noviziat studierte er an der ordenseigenen Hochschule in Düsseldorf Theologie, später schlossen sich Studien in Philologie und Geschichte an der Universität Münster an.
1920 wurde Siemer zum Rektor des ordenseigenen Internats und Gymnasiums in Vechta ernannt. Der von der Pfadfinderidee begeisterte Siemer versuchte den Gedanken der Verbindung von Geführtwerden und Eigenverantwortung bei der Erziehung der Internatsschüler umzusetzen. Er teilte die Schüler in Sippen ein, die ihre Angelegenheiten in weitem Maße selbst regeln durften – ein für damalige Verhältnisse, zumal an einer Ordensschule, ungewöhnlich liberales Erziehungskonzept.
1932 wurde Siemer zum Provinzial der deutschen Dominikaner gewählt. Er verlegte das Provinzialat von Düsseldorf nach Köln und das Generalstudium der deutschen Dominikaner nach Walberberg. Im wissenschaftlichen Bereich bleibt sein Name mit der Einrichtung der Herausgabe der deutschen Thomas-Ausgabe verbunden, der deutschen Übersetzung der Summa theologica des Heiligen Thomas von Aquin (um 1225-1274).
Gegenüber dem nationalsozialistischen Regime duldete Siemer in seinem Verantwortungsbereich kein Zurückweichen und erst recht keine Form von Anbiederung oder Kollaboration. Publizistisch forderte er die Katholiken zur Standhaftigkeit gegenüber der geistig-moralischen Degeneration jener Zeit auf. Und als ohne sein Wissen die Schüler des Gymnasiums von Vechta kollektiv in die Hitlerjugend überführt wurden, wirkte er erfolgreich auf die Rückgängigmachung dieser Maßnahme hin.
Dieses Maß an Intransigenz war für die nationalsozialistischen Machthaber freilich eine Provokation und blieb für Siemer nicht folgenlos. Im Frühjahr 1935 wurde er verhaftet und nach monatelanger Untersuchungshaft im Rahmen der damaligen „Devisenprozesse“ angeklagt. Diese Gerichtsverfahren, bei denen in den Jahren 1935 und 1936 nicht nur Siemer, sondern zahlreiche Priester und Ordensleute wegen Devisenvergehen angeklagt wurden, waren Teil einer Reihe von Maßnahmen, mit denen das NS-Regime versuchte, die Kirche zu diskreditieren.
Siemer wurde in Erster Instanz zu 15 Monaten Haft verurteilt, in der Berufungsverhandlung im Januar 1936 allerdings freigesprochen. Über neun Monate (Untersuchungs-)Haft, zum Teil in völliger Isolation erlitten, hatten ihn physisch und psychisch belastet, aber nicht gebrochen. Anders zwei Mitbrüder, die gemeinsam mit ihm verhaftet und angeklagt worden waren: Der schwer zuckerkranke Pater Thomas Stuhlweißenburg erhängte sich in seiner Zelle, Pater Titus Horten starb im Gefängniskrankenhaus. Nach seiner Freilassung erhielt Siemer von dem Ordensgeneral der Dominikaner eine Einladung nach Rom, wo er auch mit Kardinalstaatssekretär Eugenio Pacelli, dem späteren Papst Pius XII. (Pontifikat 1939-1958) Gespräche führte und von Papst Pius XI. (Pontifikat 1922-1939) empfangen wurde. Nach eigenem Bekunden fragten sowohl Pacelli als auch der Papst Siemer, ob man unter den gegebenen Umständen an dem Reichskonkordat von 1933 festhalten solle. Siemer erinnert sich, dass er dazu geraten hat. Einmal geschlossen, solle das Konkordat bestehen bleiben. Es trage dazu bei, den Unrechtscharakter des Nazi-Regimes offenzulegen, nicht nur am Maßstab des Naturrechts, sondern auch an dem des positiven Rechts.
Mit dem Beginn des Krieges weiteten die Nationalsozialisten ihre Maßnahmen gegen die Kirche aus. Im Rahmen des nationalsozialistischen „Klostersturms“ kam es zur Beschlagnahme und teilweise zur Enteignung von über 300 katholischen Klöstern. Aus diesem Grund konstituierte sich 1941 der Ausschuss für Ordensangelegenheiten, an dem neben Siemer und anderen führenden Ordensgeistlichen (Odilo Braun OP, Augustinus Rösch SJ, Lothar König SJ) auch die Bischöfe Konrad von Preysing (Berlin) und Johannes Dietz (Fulda) beteiligt waren. Georg Angermaier, Justitiar im Würzburger Ordinariat, war der einzige Laie unter den Hauptbeteiligten. Der Ordensausschuss sammelte Informationen über den NS-Terror und leitete diese an Rom sowie die Bischöfe weiter und trat auch für eine entschiedene öffentliche Opposition der Kirche gegen das Regime ein.
1942 erarbeitete der Ordensausschuss den Entwurf für ein gemeinsames Hirtenwort der deutschen Bischöfe, in dem der nationalsozialistische Terror klar benannt und unmissverständlich verurteilt wurde. Die Bischofskonferenz konnte sich allerdings nicht auf eine solche eindeutige öffentliche Anklage der Regierung verständigen. Erst im September 1943 kam es zur Verlesung des so genannten „Dekalog-Hirtenbriefs“, in dem – nun ohne ausdrücklichen Hinweis auf die Nazi-Verbrechen – das Gebot „Du sollst nicht töten“ in Erinnerung gerufen wurde, das auch für die staatliche Obrigkeit und auch im Hinblick auf Kriegsgefangene, unheilbar Kranke und Menschen fremder Rasse und Abstammung Geltung habe.
In Köln hatten 1941 führende Vertreter der ehemaligen christlichen Gewerkschaften und der katholischen Arbeiterbewegung Siemer gebeten, mit ihnen Sitzungen zu dem Thema der christlichen Staats- und Gesellschaftslehre abzuhalten. Man wollte sich für den Neuanfang in der Zeit nach der NS-Diktatur vorbereiten. Siemer willigte ein, und es fanden unter seiner Leitung regelmäßige Zusammenkünfte im Kölner Kettelerhaus statt. Zu diesem „Kölner Kreis“ gehörten unter anderem Otto Müller, Nikolaus Groß, Bernhard Letterhaus, Jakob Kaiser, Andreas Hermes, Johannes Albers und Christine Teusch. Da Siemer selbst kein Sozialethiker war, bat er seinen Ordensbruder Eberhard Welty, der in Walberberg Christliche Gesellschaftslehre unterrichtete, Referate auszuarbeiten, die Siemer vortrug und die in dem Kreis diskutiert wurden. Anschließend reichte Siemer das Manuskript, versehen mit Anmerkungen aus der Diskussion, an seinen Mitbruder zurück.
Der Kölner Kreis hatte Kontakte zu anderen Widerstandsgruppen, der Berliner Gruppe um Carl Goerdeler (1884-1945), dem Kreisauer Kreis und zu Münchener Widerstandskämpfern (unter anderem Josef Müller, 1898-1979). Alfred Delp (1907-1945) und Carl Goerdeler besuchten den Kölner Kreis Unter der NS-Diktatur aus der katholischen Arbeiterbewegung gebildetes Widerstandsnetzwerk rheinischer und westfälischer Katholiken, dessen Zentrale sich im Kölner Kettler-Haus, der Verbandszentrale des Westdeutschen Arbeiterverbandes, befand. Bedeutende Mitglieder waren unter anderem Otto Müller (1870-1944), Nikolaus Groß (1848-1945) und Bernhard Letterhaus (1894-1944). Ziel der auch mit anderen Widerstandszirkeln zusammen arbeitenden Gruppe war eine demokratische Neuordnung nach dem Ende des Nationalsozialismus. Nach dem missglückten Attentat vom 20.7.1944 geriet auch der Kölner Kreis ins Blickfeld der NS-Justiz. Zahlreiche Mitglieder wurden ermordet oder in den Konzentrationslagern interniert. Auf Goerdelers Bitte hin verfasste Siemer eine kurze Denkschrift zum zukünftigen Verhältnis von Kirche und Staat, die zur Grundlage eines Gesetzentwurfs nach dem Umsturz werden sollte. Nach dem gescheiterten Attentat auf Hitler vom 20.7.1944 wurden die Verbindungen des Kölner Kreises zu den Berliner Widerstandskämpfern schnell ermittelt. Einige Mitglieder wurden verhaftet, Müller, Letterhaus und Groß zum Tode verurteilt. Siemer entging der Verhaftung im Kloster Schwichteler bei Vechta nur knapp. Bis zur Befreiung durch die Engländer blieb er auf der ständigen Flucht. Sein Glück war, dass er in der Region Oldenburg viele Freunde hatte, die das Risiko auf sich nahmen, ihn bei sich zu verstecken.
Nach dem Ende des Nazi-Regimes kehrte Siemer nach Walberberg zurück. Die Dominikaner druckten Weltys gesammelte Referate aus dem Kölner Kreis als Buch unter dem Titel „Was nun? Grundsätze und Hinweise zur Neuordnung im deutschen Lebensraum“. Weltys Gedanken setzten wichtige geistige Impulse bei den bald nach Kriegsende an verschiedenen Orten aufkommenden Bestrebungen, eine überkonfessionelle, christlich-soziale beziehungsweise christlich-demokratische Partei zu bilden. Siemer unterstützte dieses Vorhaben lebhaft und öffnete die Klosterpforten von Walberberg, wo bereits Ende Juni 1945 Beratungen über Grundsätze einer solchen Partei begannen, an denen auch Welty und Siemer teilnahmen. Die beiden Dominikaner verfochten im Hinblick auf die Wirtschafts- und Sozialordnung das Konzept eines „christlichen Sozialismus“. Für die neu zu gründende Partei schlug Siemer den Namen „Christlich-Sozialistische Gemeinschaft“ vor. Auch wenn die Mehrheit das ablehnte, was Siemer dazu brachte, die Versammlung wutentbrannt zu verlassen, bekannten sich die am 1.7.1945 verabschiedeten „Kölner Leitsätze“, gleichsam das „Urprogramm“ der CDU, zu einem „wahren christlichen Sozialismus“.
Die beiden Dominikaner betonten dabei immer wieder, dass der „christliche Sozialismus […] etwas anderes als der marxistische Sozialismus, in mehr als einer Beziehung sogar etwas ganz anderes“ bedeute. Am Marxismus abgelehnt wurden vor allem das die individuelle Freiheit eliminierende Menschenbild, die materialistische Geschichtsauffassung und natürlich der damit verbundene Atheismus. Aber auch der Liberalismus, dessen individualistischer Freiheitsbegriff und das kapitalistische Wirtschaftssystem wurden verworfen. Ausgangspunkt des christlichen Sozialismus im Sinne Siemers und Weltys war das Verständnis des Menschen als selbstverantwortliche und sozial gebundene Person. Sie forderten eine strikte Gemeinwohlausrichtung der Wirtschaftsordnung, deren Prinzip nicht der Wettbewerb, sondern das Ziel der Bedarfsdeckung und der gerechte Güterausgleich sei.
Konrad Adenauer, der 1946 Vorsitzender der CDU wurde, lehnte den Terminus „christlicher Sozialismus“ entschieden ab, weil er missverständlich sei und die Abgrenzung gegenüber der Sozialdemokratie erschwere. Inhaltlich hat das Konzept der Dominikaner die programmatische Entwicklung der CDU aber weiter beeinflusst, was vor allem an dem im Februar 1947 von der CDU in der britischen Zone beschlossenen Ahlener Programm abzulesen ist. Dieses allerdings war schon recht bald überholt, spätestens als die Union vor der ersten Bundestagswahl 1949 die Wirtschaftspolitik Ludwig Erhards (1897-1977) und das Konzept der Sozialen Marktwirtschaft zur Grundlage ihres Wahlkampfprogramms machte.
Aus dem politischen Geschäft zog Siemer sich enttäuscht zurück, und auch als Provinzial wurde er 1946 abgelöst. Im Orden war nach dem Krieg Unmut über seinen Führungsstil laut geworden. Das harte Regiment, das er während der NS-Diktatur geführt hatte, war seinen Mitbrüdern nicht mehr zeitgemäß. 1947 wurde er zum Vorsitzenden der Vereinigung der bundesdeutschen Ordensoberen gewählt, 1949 war er Mitbegründer der Katholischen Deutschen Akademikerschaft, deren erster Generalsekretär er wurde.
Einem breiteren Publikum bekannt wurde Siemer durch Rundfunkvorträge, die er ab 1950 im Radio und später auch im jungen Medium Fernsehen hielt. Das Kölner Dominikanerkloster St. Andreas war der Ort seiner letzten Lebensjahre. Hier bereitete er gerade eine Fernsehsendung mit dem Titel „Der Regenbogen“ vor, als er am 21.10.1956 durch ein plötzliches Herzversagen aus dem Leben gerissen wurde.
Schriften (Auswahl)
Das deutsche Volk und der Militarismus, in: Die Neue Ordnung 1 (1946/47), S. 158-170.
Zum Problem des „Christlichen Sozialismus“, in: Die Neue Ordnung 2 (1948), S. 269-277.
Die katholische Kirche und die Krise der Gegenwart, in: Die Neue Ordnung 2 (1948), S. 362-367.
So sind wir Menschen, Frankfurt a. M. 1956.
Aufzeichnungen und Briefe, Frankfurt a. M. 1957.
Literatur
Bücker, Vera, Der Kölner Kreis und seine Konzeption für ein Deutschland nach Hitler, in: Historisch-politische Mitteilungen 2 (1995), S. 49-82.
Leugers, Antonia, Gegen eine Mauer bischöflichen Schweigens. Der Ausschuß für Ordensangelegenheiten und seine Widerstandskonzeption 1941 bis 1945, Frankfurt a. M. 1996.
Ockenfels, Wolfgang, Laurentius Siemer (1888-1956), in: Aretz, Jürgen/Morsey, Rudolf/Rauscher, Anton (Hg.), Zeitgeschichte in Lebensbildern, Band 5, Mainz 1982, S. 147-160.
Uertz, Rudolf, Christentum und Sozialismus in der frühen CDU. Grundlagen und Wirkungen der christlich-sozialen Ideen in der Union 1945-1949, Stuttgart 1981.
Uertz, Rudolf, Walberberg und Die Neue Ordnung. Vor 60 Jahren: Laurentius Siemer und Eberhard Welty, in: Die Neue Ordnung 60 (2006), S. 133-139.
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Küppers, Arnd, Laurentius Siemer, in: Internetportal Rheinische Geschichte, abgerufen unter: https://www.rheinische-geschichte.lvr.de/Persoenlichkeiten/laurentius-siemer/DE-2086/lido/57c9501ea179e4.74039935 (abgerufen am 05.12.2024)