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Marie Kahle hat als Frau des Bonner Orientalistikprofessors Paul Kahle zusammen mit dem ältesten ihrer fünf Söhne im November 1938 nach den Verwüstungen der Pogromnacht verfolgten jüdischen Mitbürgern aus christlichem Mitgefühl geholfen. Diese in den Augen des Hitlerregimes volksverräterische Tat führte zu ihrer Drangsalierung durch die Gestapo, der Relegation ihres ältesten Sohnes von der Universität, der Entlassung ihres Mannes aus seiner Professur und schließlich zur Flucht der ganzen Familie nach England.
Marie Kahle, geborene Gisevius, wurde am 6.5.1893 in Dahme bei Berlin geboren. Der Vater Paul Gisevius war zunächst Gutsbesitzer in Ostpreußen und später Professor für Landwirtschaft an der Universität Gießen. Dort lernte Marie Gisevius, die damals als Volksschullehrerin tätig war, während des Ersten Weltkrieges den 18 Jahre älteren Professor für Orientalische Philologie und Islamkunde Paul Kahle kennen und heiratete ihn an Ostern 1917. Das Ehepaar hatte sieben Söhne, von denen zwei schon im Säuglingsalter starben. 1923 übersiedelte die Familie in die rheinische Universitätsstadt Bonn, wohin Paul Kahle als Ordinarius berufen worden war, und bezog ein Haus in der Kaiserstraße 61.
Marie Kahle war eine politisch sehr interessierte Persönlichkeit und zeichnete sich durch ein spontanes soziales Verantwortungsbewusstsein aus. Zu ihrem großen Freundes- und Bekanntenkreis gehörten auch zahlreiche Katholiken und katholische Theologen. 1936 trat die Ehefrau des vormaligen evangelischen Pfarrers Paul Kahle zum katholischen Glauben über. Schon vor 1933 hatte sie Adolf Hitlers (1889-1945, Amtszeit 1933-1945) „Mein Kampf" und Alfred Rosenbergs (1893-1946) „Mythus des 20. Jahrhunderts" gelesen und war zur entschiedenen Gegnerin des Nationalsozialismus geworden.
Gleichermaßen energisch wie sensibel veranlagt, war Marie Kahle der Mittelpunkt der Professorenfamilie. Während der Vater durch seinen großen Altersabstand und seine Gelehrtenpersönlichkeit den Söhnen eher entrückt erschien, standen diese ihrer Mutter sehr nahe, die ihre Mitgliedschaft in der HJ zu verhindern wusste und dafür sorgte, dass keiner der Söhne der nationalsozialistischen Indoktrination verfiel. 1938 studierte der älteste Sohn, Wilhelm Kahle (1919-1993), an der Bonner Universität Musikwissenschaft, sein nächst jüngerer Bruder Hans (1920-2003) im Hauptfach orientalische Sprachen. Theodor (1922-1988) lernte am Deutschen Kolleg in Bad Godesberg, während die beiden Jüngsten, Paul (1923-1955) und Ernst (1927-1993), das Städtische Gymnasium in Bonn besuchten.
Nach der so genannten „Reichskristallnacht", bei der auch in Bonn am 10.11.1938 die jüdische Synagogen in der Tempelstraße und im Poppelsdorfer Jagdweg zerstört und jüdische Geschäfte verwüstet wurden, half Marie Kahle zusammen mit ihren Söhnen verfolgten jüdischen Freunden und Bekannten. Am 12.11.1938 wurde sie zusammen mit ihrem ältesten Sohn Wilhelm von einem Polizisten dabei überführt, wie sie einer jüdischen Geschäftsfrau beim Aufräumen ihres Miederwarengeschäftes half. Wenige Tage später, am 17.11.1938 erschien im Lokalteil des „Westdeutschen Beobachters", der nationalsozialistischen Tageszeitung für Köln und Umgebung, ein Schmähartikel unter der Schlagzeile „Das ist Verrat am Volke. Frau Kahle und ihr Sohn halfen der Jüdin Goldstein bei Aufräumungsarbeiten".
Der Artikel berichtete über die Hilfe der Professorenfamilie Kahle für eine jüdische Ladenbesitzerin und prangerte an, dass auf diese Weise die „impulsive Empörung der deutschen Volksgemeinschaft" über die Ermordung des deutschen Legationssekretärs Ernst vom Rath (1909-1938) in Paris durch den polnischen Juden Herschel Grynspan (1921-1942/ 1943) von einzelnen Deutschen offen in Frage gestellt würde. Die Bonner Bevölkerung wurde durch die Inszenierung des so genannten „Skandals Kahle" auf eine noch härtere Gangart gegen die Juden vorbereitet. In den folgenden Wochen und Monaten stand die ganze Familie unter dem wachsenden Terrordruck der Nationalsozialisten in Bonn. Schon am Tage der Veröffentlichung des Zeitungsartikels wurden die Kahles in ihrem Haus in der Kaiserstraße angegriffen: Die Fenster im ersten Stock wurden zertrümmert, auf Plakaten bezeichnete man sie als „Volksverräter" und „Judenfreunde". Wilhelm Kahle wurde Anfang Dezember vom Universitätsgericht "wegen des eines Studenten unwürdigen Verhaltens gelegentlich der Protestaktion gegen die jüdischen Geschäfte mit der Entfernung von der Hochschule, verbunden mit Nichtanrechnung des Semesters bestraft" und damit vom Studium an jeder anderen deutschen Universität ausgeschlossen. Die drei jüngeren Söhne wurden in der Schule gehänselt und angepöbelt, der jüngste als Sextaner von seinen Mitschülern mit Steinen vertrieben. Der Ehemann Marie Kahles, Professor Paul Kahle, erhielt zunächst vom Rektor der Universität ein Hausverbot und wurde vom Dienst suspendiert, bevor er in Verhandlungen mit dem Reichserziehungsministerium in Berlin eine vorzeitige Emeritierung erreichen konnte.
Doch in Bonn wurde das Kesseltreiben gegen die Familie und insbesondere gegen Marie Kahle fortgesetzt. Schon in der Begründung des Disziplinarurteils gegen den ältesten Sohn war die Mutter als die eigentliche Übeltäterin bezeichnet worden. Marie Kahle wurde von der Gestapo vorgeladen und musste sich einige Tage im Kloster der Benediktinerinnen in Bonn-Endenich verstecken. Ein „Familienfreund" legte ihr nahe, durch Selbstmord ihrem Mann und den Kindern Schlimmeres zu ersparen. Als die Gestapo Marie Kahle mit der Einweisung in ein Konzentrationslager drohte, reifte Anfang 1939 der Entschluss zur Flucht aus Deutschland. Er ging von der Mutter aus, wurde aber von den Söhnen mitgetragen und schließlich auch vom Vater akzeptiert. Auf abenteuerliche Weise gelang in den Monaten Februar bis April 1939 der gesamten Familie die Ausreise nach England.
In England erfuhr die Familie Kahle das beschwerliche Schicksal vieler Flüchtlinge. So wurden die drei ältesten Söhne 1940 als „enemy aliens" interniert und erst nach zehn Monaten entlassen. In der zweiten Hälfte der 1940er Jahre hielt sich die deutsche Professorenfamilie in Südengland mühsam auf einer Farm über Wasser. Die Paul Kahle zustehenden Ruhestandsbezüge und Wiedergutmachungsleistungen erreichten seine Familie erst zu Beginn der 1950er Jahre.
Da Marie Kahle immer wieder nach den Ursachen und Umständen der Flucht ihrer Familie gefragt wurde, schrieb sie bereits 1939 darüber einen Bericht. Er wurde von ihren Söhnen ins Englische übersetzt und erschien 1945 nach Kriegsende unter dem Titel „What Would You Have Done?" als Privatdruck. Da das deutschsprachige Original verschollen ist, musste dieser Text bei seiner Buchpublikation in Deutschland (1998) ins Deutsche zurückübersetzt werden. Außerdem schrieb Marie Kahle 1941 einen Bericht für die Wiener Library, eine schon 1933 gegründete Londoner Forschungseinrichtung zur Geschichte der nationalsozialistischen Judenverfolgung: „Mein Leben in Deutschland vor und nach dem 30. Januar 1933", in dem sie ebenfalls die Ereignisse der Jahre 1938 und 1939 schildert, jedoch sehr viel knapper. Marie Kahles Berichte vermitteln einen anschaulichen Eindruck vom Alltag der Verfolgung und Resistenz im "Dritten Reich", auf die zu Recht in historischen Darstellungen immer wieder zurückgegriffen worden ist.
Marie Kahle hat die bundesrepublikanische Nachgeschichte ihrer mutigen Tat im "Dritten Reich" nicht mehr erlebt. Sie starb nach einem langen und schweren Leiden, das auf die physische und psychische Erschöpfung durch die Vertreibung ihrer Familie aus Bonn und die Flucht nach England zurückging, im Alter von 55 Jahren am 18.12.1948. Ihre hinterbliebenen Familienmitglieder hoben in der Traueranzeige hervor, dass sie ihnen bis zum letzten Tag ein Vorbild gewesen sei durch „ihren großen Glauben, ihre unerschütterliche Energie, ihre Selbstaufopferung und ihren untrüglichen Gerechtigkeitssinn".
Marie Kahle liegt auf dem Friedhof des kleinen südenglischen Dorfes Wadhurst begraben, auf dem inzwischen auch ihre Söhne Wilhelm und Ernst ihre letzte Ruhe gefunden haben. Bestrebungen, Marie Kahle durch die Anpflanzung eines Baumes im „Hain der Gerechten" in der Gedenkstätte Yad Vashem in Jerusalem zu ehren, sind nicht erfolgreich gewesen, weil nicht nachgewiesen werden konnte, dass sie das Leben eines jüdischen Mitmenschen gerettet hat. Im Dezember 2001 ist am früheren Familienhaus der Kahles in der Bonner Kaiserstraße 61 eine kleine Gedenktafel angebracht worden. Am 28.5.2002 hat unter Teilnahme von Hans (John) Kahle, dem damals letzten noch lebenden Sohn Marie Kahles, auf der Rückseite der Bonner Bundeskunsthalle eine breite Zufahrtsstraße den Namen „Marie-Kahle-Allee" erhalten. Mit dem Beginn des 2010/2011 trägt eine im Vorjahr neugegründete Bonner Gesamtschule den Namen Kahles. Auch in der Bonngasse im Stadtzentrum erinnert im Rahmen des dortigen „Walk of Fame" ein in das Straßenpflaster eingelassenes Bild an die mutige Hilfe dieser aufrechten Christin für verfolgte jüdische Mitbürger.
Literatur
Kahle, Marie, Was hätten Sie getan? Die Flucht der Familie Kahle aus Nazi-Deutschland, hg. von John H. Kahle und Wilhelm Bleek, 1. Auflage, Bonn 1998, 3. erweiterte Auflage, Bonn 2005 .
Multhaupt, Hermann, Jeder Grashalm hat einen Engel, Dillingen 1986.
Online
Marie Kahle- ein Beispiel für Zivilcourage (Homepage der NS-Gedenkstätten und Dokumentationszentren in NRW, Gedenkstätte Bonn). [Online]
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Bleek, Wilhelm, Marie Kahle, in: Internetportal Rheinische Geschichte, abgerufen unter: https://www.rheinische-geschichte.lvr.de/Persoenlichkeiten/marie-kahle/DE-2086/lido/57c9314cd6b912.48453145 (abgerufen am 11.11.2024)