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Otto Löwenstein war ein Wegbereiter der Kinder- und Jugendpsychiatrie. In Bonn gründete er eine entsprechende Anstalt. Nach seiner Vertreibung durch die Nationalsozialisten arbeitete er zunächst in Nyon, dann in New York. Bonn, wo man ihm nach 1945 vergleichsweise schnell großen Respekt bekundete, besuchte er in den zwei Jahrzehnten bis zu seinem Tod mehrfach zu Vorträgen und Ehrungen.
Otto Löwenstein kam am 7.5.1889 in Osnabrück als drittes von fünf Kindern in der Familie des Kaufmanns Julius Löwenstein (1852–1939) und seiner Frau Henriette, geborene Grunewald (1856–1933) zur Welt. Er besuchte höhere Schulen in Witten, Magdeburg und zuletzt in Minden, wo er 1908 das Abitur bestand.
Der als ruhig und nachdenklich beschriebene Otto entschloss sich im Alter von 20 Jahren zur Konversion vom Judentum zum Protestantismus. Seiner Neigung entsprechend studierte er in Göttingen und Bonn zunächst Philosophie und Mathematik. Dann wechselte er zur Medizin, nicht ohne die gewonnenen philosophischen Erkenntnisse insbesondere zur Kritik der Vernunft in sein Denken über die Seele des Menschen einfließen zu lassen. Zu seinen Lehrern zählten Benno Erdmann (1851–1921) und Erich Becher (1882–1929).
Nach der ärztlichen Staatsprüfung in Bonn am 20.3.1913 begann er am 28.3.1913 seine Zeit als Medizinalpraktikant in der Provinzial-Heil- und Pflegeanstalt Bonn. Gleichzeitig arbeitete er an seiner Doktorarbeit „Die Zurechnungsfähigkeit der Halluzinanten nach psychologischen Prinzipien beurteilt“ mit der er ein Jahr später bei Alexander Westphahl (1863–1941) promoviert wurde.
Seinem Fachgebiet konnte Löwenstein auch im Ersten Weltkrieg treu bleiben, als er Erster Garnisonsarzt in einer Militärnervenstation in Metz wurde. 1918 nach Bonn zurückgekehrt, erhielt er 1919 eine Anstellung als Anstaltsarzt. Bereits 1920 stieg er zum Oberarzt auf und wurde zugleich Dozent für Psychiatrie an der Medizinischen Fakultät der Universität Bonn.
Im selben Jahr 1920 heiratete Löwenstein im Standesamt Garmisch seine Cousine Marta Grunewald (1889–1965). Sie war Zoologin und gehörte zu den ersten promovierten Frauen in Deutschland. Aus der Ehe gingen zwei Töchter hervor, Anne (geboren 1922), verheiratete Perls, und Marieli (geboren 1926), verheiratete Rowe.
1923 folgte Löwensteins Ernennung zum nichtbeamteten außerordentlichen Professor. 1926 wurde er unter Beibehaltung seiner bisherigen Positionen leitender Arzt in der neu gegründeten Provinzial-Kinderanstalt für seelisch Abnorme. Diese Gründung ging maßgeblich auf seine Initiative zurück. Die Bonner Provinzial-Kinderanstalt war die erste eigenständige kinder- und jugendpsychiatrische Anstalt in Deutschland, in dieser Form wohl sogar weltweit.
Löwenstein unterteilte sie in von ihm so genannte Laboratorien, in denen unterschiedliche Methoden angewandt und miteinander in Verbindung gebracht wurden. Löwensteins Psychologie benötigte ein chemisches Labor zur Untersuchung von Blut und Liquor ebenso wie Bereiche, wo die geistigen Fähigkeiten durch Teste ermittelt wurden und andere Räume, in denen Patienten gezielt beobachtet wurden. So wurde in den Schlafsälen gefilmt und ein physiologisch-optisches Laboratorium war unter anderem mit einem Pupillographen zur Beobachtung der Augenbewegungen ausgestattet. Um endogene und exogene Krankheitsbilder zu bestimmen und die Folgen für eine Therapie zu ermessen, gründete Löwenstein zudem ein Erbbiologisches Institut. Beabsichtigt war, Hunderttausende von individuellen Krankheitsbildern aus dem Rheinland zu erfassen. Ganz im Gegensatz zu Löwensteins Intentionen wurde das Institut mit seinen Daten in der NS-Zeit für „rassenhygienische“ Zwecke missbraucht.
Über jene Jahre vor 1933 schrieb Otto Löwensteins Tante und Schwiegermutter Julie Grunewald, geborene Rubensohn (1864–1966) in ihren Erinnerungen, die sie im Alter von 90 Jahren verfasst hat. Danach hätten „Marta und Otto“ in einer „sehr eigenartige[n] Wohnung in Grau-Rheindorf“ gewohnt, von der Otto mit dem Auto jeden Morgen zur Anstalt gefahren sei.
Die Gründung der Kinderanstalt machte Löwenstein nicht nur Freunde. Denn die Kinderanstalt nutzte das Haus Kaiser-Karl-Ring 22, wo zuvor ein Hirnverletzten-Institut insbesondere für im Ersten Weltkrieg verletzte Soldaten untergebracht war. Dieses Institut wurde wegen Missständen und Unterbelegung nach Düsseldorf verlegt, für in Bonn verbleibende Patienten wurde im Malteser-Krankenhaus eine Belegabteilung geschaffen, die von Löwenstein betreut wurde. Löwenstein erfüllte nunmehr das Feindbild der Nationalsozialisten. Ihnen galt er trotz Konversion als Jude, zudem als Vertreiber verdienter Soldaten – obwohl Löwenstein selbst zu diesen gehört hatte. Hinzu kam seine Orientierung an einer Psychologie, die als solche schon als undeutsch und jüdisch angesehen wurde.
1931 verschärfte sich die Situation weiter. Löwenstein übernahm die Stiftungsprofessur der Rheinischen Provinzialanstalt für Pathopsychologie. Die Herauslösung dieser Fachrichtung aus der Klinischen Psychiatrie war höchst umstritten, in Deutschland bis dahin einmalig und hatte bei der Mehrheit der Medizinischen Fakultät keine Zustimmung erfahren. So stand schon damals fest, dass Löwensteins Stellung in der Fakultät keine starke war. Im selben Jahr begann die offensive Propaganda der NSDAP gegen Löwenstein. Im „Westdeutschen Beobachter“ erschien unter der ironischen Überschrift, er sei „eine Zierde der Universität“, ein Hetzartikel gegen ihn.
Hinter diesem Hetzartikel stand Professor Walter Poppelreuter (1886-1939). Er war der Leiter des nach Düsseldorf verlegten Hirnverletzten-Instituts, wollte sich aber nicht aus Bonn verdrängen lassen. Er hielt engen Kontakt zum Vorsitzenden des Verbandes der Westdeutschen Hirnverletzten Josef Braun, der lautstark gegen den Umzug des alten Hirnverletzten-Instituts nach Düsseldorf protestierte und für die Rückgabe des nun von Löwensteins Kinderanstalt genutzten Gebäudes am Kaiser-Karl-Ring 22 focht. Von Seiten Brauns und Poppelreuters prasselte noch vor 1933 eine Reihe von Vorwürfen auf Löwenstein, die von kommunistischer Propaganda über die Erschleichung der pathopsychologischen Professur bis hin zu Unterschlagungen reichten.
Mit Unterstützung von Löwensteins ältestem Mitarbeiter und Oberassistenten am Erbbiologischen Institut Wilhelm Karl Prinz von Isenburg (1903–1956), der zuvor wiederholt Löwensteins Fürsprache erfahren hatte, wurden die Vorwürfe nach der Machtübertragung an die Nationalsozialisten noch verschärft. Am 8.3.1933 erfolgte der offene Angriff, den Löwenstein 1946 anschaulich schilderte. Demnach hatten 100 SS-Leute – neuere Forschungen gehen von 80 SA-Leuten aus – unter Führung Poppelreuters den Auftrag, Löwenstein „in Ketten durch die Stadt zu fuehren“. Da sie ihn aber „nicht vorfanden, hissten sie die Hakenkreuzfahne auf den Institutsgebäuden“, erklärten Löwenstein „für abgesetzt“ und „misshandelten einige […] Assistenten“. Löwenstein selbst verlor wichtige von ihm selbst gefertigte medizinische Instrumente sowie mehrere Manuskripte. Der nächste reguläre Nachfolger, Aloys Schmitz (1899-1973), fand später nur noch, wie es in einer Quelle heißt, einen „Schrotthaufen“ vor.
Löwenstein war vorgewarnt gewesen, erhielt bei den Behörden – zuständig war der Düsseldorfer Landeshauptmann – aber keine Unterstützung. Am 10.3.1933 floh er zunächst ins Saargebiet zu einem befreundeten Pfarrer namens Allewelt. Zwischenzeitlich war ein sogenannter „Schutzhaftbefehl“ gegen ihn erlassen und seine Wohnung durchsucht worden.
Bemerkenswerterweise stellte sich am 10.3.1933 der Universitätskurator Alfons Proske (1881–1950) als Leiter der Universitätsverwaltung auf die Seite Löwensteins und unterstützte dessen Wunsch nach disziplinarrechtlichen Untersuchungen gegen sich selbst. Diesen kam angesichts der faktischen Vertreibung Löwensteins aber keine Bedeutung mehr zu. Seine unter der Ortsangabe „z.Zt. auf Reisen“ an Kurator und Oberpräsident am 27. März gesandte Bitte um Hilfe angesichts der „vorgebrachten Gehässigkeiten“ blieb folgenlos.
Auch nach seiner Vertreibung blieb Löwenstein Opfer von Verleumdungen, die zum Teil weiterhin mit den Richtungskämpfen innerhalb der Interessenvertretungen „hirnverletzter Krieger“ in Verbindung standen. Dessen von Poppelreuter und Braun dominierter rheinischer Landesverband erregte noch Ende März 1933 den Zorn des Reichsverbands. Der Reichsverband fand sogar den Mut, in einem Schreiben an den Bonner Oberbürgermeister seine Stimme für Löwenstein zu erheben: „Wir verlangen daher die sofortige Aufhebung des Schutzhaftbefehls, weil er unberechtigt ist, weil Prof. Dr. Löwenstein politische Gesichtspunkte stets abgelehnt hat, und weil wir unseren Arzt brauchen, der uns selbstlos hilft.“
Auch die noch nicht vollständig von der NSDAP kontrollierte Justiz stellte ein Verfahren ein und äußerte sich zu Gunsten Löwensteins. Der „Verdacht, Prof. Löwenstein habe Gelder, die ihm von der Notgemeinschaft der Deutschen Wissenschaft zur Verfügung gestellt wurden, veruntreut“, habe sich „nicht bestätigt“.
An eine Rückkehr Löwensteins, der sich zwischenzeitlich in der Schweiz niedergelassen hatte, in das Deutsche Reich war jedoch nicht mehr zu denken. Landeshauptmann Heinz Haake, der Löwenstein gegen den Unterschlagungsvorwurf Isenburgs und Poppelreuters in Schutz genommen hatte, lud ihn zwar nach Düsseldorf ein, doch fand sich auf dem entsprechenden Schreiben von unbekannter Hand eine Warnung: „Kommen Sie nicht; die aufgeregte Menschenmenge, die ihre Verhaftung fordert[,] steht schon bereit“. Gemäß dem „Gesetzes zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums“ war Löwenstein zum 1.3.1933 von Landeshauptmann Haake in den Ruhestand versetzt worden; in seiner Universitätsfunktion geschah dies offiziell am 14.9.1933. Löwenstein fand keinerlei Entgegenkommen mehr. Als er 1939 um eine Promotionsbescheinigung nachsuchte, verwies ihn Dekan Friedrich Tiemann (1899-1982) an Vertretungen des Deutschen Reichs in den USA.
Bis 1939 wirkte Löwenstein als neurologisch-psychiatrischer Consilarius in einem privaten Sanatorium in Nyon am Genfer See. Hier gründete er wiederum eine kleine Kinderklinik, in dem ein nahezu optimales Betreuungsverhältnis möglich war. Zudem kaufte er sich neue Apparate zur Untersuchung von Pupillen, ein Forschungsgebiet, das ihn später zu großem Ruhm führen sollte. Mit nach Nyon war von Bonn aus nicht nur seine Familie, sondern auch ein treuer Techniker namens Driessen gekommen. Er unterstützte ihn in der Pupillopgraphie. Löwensteins Forschungsinteresse war es unter anderem zu untersuchen, wie sich Emotion, auch Müdigkeit und lange Wachheit in den Pupillen spiegelt. Er entwickelte Spezialgeräte zur Pupillenbeobachtung, ein erstes schon 1925 in Bonn. Höhepunkt war 1957 der elektronische Pupillograph, der Frucht der Zusammenarbeit mit seiner Mitarbeiterin Irene Loewenfeld (1922–2009) war.
Die Familie fühlte sich angesichts der aggressiven Außenpolitik Hitlers auch in der Schweiz nicht sicher. Eine Vortragsreise, die ihn unter anderem nach Montreal und New York führte, ließ in Löwenstein den Gedanken reifen, ganz nach Amerika überzusiedeln. 1938/1939 folgte er einem Ruf an die New York University. Dieser Entschluss war mit neuen Aufgaben verbunden. Löwenstein musste sein Englisch verbessern und die in den USA erforderlichen Staatsexamina nachholen, um als Arzt tätig zu sein. 1947 wechselte er an die Columbia University, wo er bis sich zu seinem Lebensende in dem von ihm begründeten Laboratory of Puppillography ganz seinem Lieblingsgebiet widmen konnte.
Mit der erwähnten Irene Loewenfeld fand er eine kongeniale Forscherin, die nach seinem Tod 1965 Löwensteins Werk vollendete. Er hatte die 19-jährige Irene im Juni 1940 als Technikerin angestellt. Sie hatte ein ähnliches Schicksal wie Löwenstein hinter sich. Sie stammte aus einer jüdischen Juristenfamilie. Der Vater war Sozialdemokrat und Nazigegner und floh 1933 nach Zürich, wohin ihm seine Familie ein Jahr später folgte. Nach vier Jahren in der Schweiz entschlossen sich auch die Loewenfelds, in die USA auszuwandern. Irene studierte dann bei Löwenstein und wurde nach 1945 extern an der Bonner Universität promoviert.
Irene Loewenfeld veröffentlichte aus einem 3.000-seitigen Manuskript Löwensteins 1993 zwei dickleibige Bände, die Löwensteins pupillographische Forschung zusammenfassen und heute für Ophtalmologen ein Standardwerk darstellen.
In Deutschland beauftragte Löwenstein seinen Schwager August Wimmer (1899-1988) mit der Vertretung seiner Interessen. Schon kurz nach seiner Flucht hatte Löwenstein aus der Schweiz vergeblich auf die Weiterzahlung ihm zustehender Gelder gedrängt und einen umfangreichen Schriftverkehr der in Deutschland für Löwenstein zuständigen Behörden ausgelöst. Nach dem Ende des NS-Regimes intensivierte sich auch der Kontakt zu Medizinischer Fakultät und Universität Bonn. Diese nahm Löwenstein wieder in das Vorlesungsverzeichnis auf, nachdem Dekan Erich von Redwitz (1883-1964) unmissverständlich zu Löwensteins Rehabilitierung geraten hatte. 1948 wollte Kultusministerin Christine Teusch Löwenstein „den Lehrstuhl wieder verleihen“, doch lehnte der Vertriebene ab. So blieb es „bei der Entbindung vom Amte“, nun aber „unter Zuerkennung der Emeritenbezüge“. Im selben Jahr hielt Löwenstein zwei Gastvorträge in der Universität, 1951 einen weiteren. 1954 zahlte ihm der Landschaftsverband Rheinland in einem Vergleich 200.000 DM. Und doch dauerte es bis 1957, bis Löwenstein seinen – fehlerhaften – „Wiedergutmachungsbescheid“ erhielt. 1964 war es die Philosophische Fakultät der Universität Bonn, die Löwenstein aufgrund seiner Forschungen im Grenzbereich von Psychiatrie und Psychologie die Ehrendoktorwürde verlieh. Löwensteins Bonn-Reise von 1964 markiert gleichsam seine öffentliche Rehabilitation. Aus diesem Anlass wurde in der Bonner Kinder- und Jugendpsychiatrie der Rheinischen Landesklinik Bonn eine Bronzebüste von ihm enthüllt. Vier Monate nach seinem Bonn-Besuch starb Löwenstein am 25.3.1965 in New York.
1993 wurde der Neubau der Bonner Kinder- und Jugendpsychiatrie unter dem Namen „Otto-Löwenstein-Haus“ eingeweiht. 2000 fand Löwenstein nochmals öffentliches Interesse, als eine Teilbiographie, verfasst von Annette Waibel, im Schatten seiner Büste vorgestellt wurde.
Quellen
Universitätsarchiv Bonn, Personalakte Löwenstein.
Privatbesitz Raimund Wimmer.
Literatur
Forsbach, Ralf, Die Medizinische Fakultät der Universität Bonn, München 2006.
Loewenfeld, Irene, The Pupil, Physiology and Clinical Applications, Ames/Iowa 1993.
Orth, Linda, Die Transportkinder aus Bonn. „Kindereuthanasie“, Köln/Bonn 1989.
Orth, Linda, Walter Poppelreuter, in: Der Nervenarzt 75 (2004), S. 610.
Peters, Leo (Hg.), Eine jüdische Kindheit am Niederrhein. Die Erinnerungen des Julius Grunewald (1860 bis 1929), Köln/Weimar/Wien 2009.
Waibel, Annette, Die Anfänge der Kinder- und Jugendpsychiatrie in Bonn. Otto Löwenstein und die Provinzial-Kinderanstalt 1926–1933, Köln/Bonn 2000.
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Forsbach, Ralf, Otto Löwenstein, in: Internetportal Rheinische Geschichte, abgerufen unter: https://www.rheinische-geschichte.lvr.de/Persoenlichkeiten/otto-loewenstein/DE-2086/lido/57c942b85ceb60.44383422 (abgerufen am 15.10.2024)