Paul Martini

Mediziner (1889–1964)

Ralf Forsbach (Siegburg)

Paul Martini, Porträtfoto. (Universitätsarchiv Bonn)

Paul Mar­ti­ni war Pfäl­zer von Ge­burt und er­reich­te mit sei­nen Stu­di­en über the­ra­peu­ti­sche Me­tho­den in Ber­lin ers­ten Ruhm. In Bonn präg­te er die Uni­ver­si­täts­me­di­zin wäh­rend des „Drit­ten Reichs“ und in der Nach­kriegs­zeit. Nicht gänz­lich er­folg­los ver­such­te er, die von ihm ge­lei­te­te Kli­nik dem to­ta­li­tä­ren An­spruch des NS-Staats zu ent­zie­hen.

Mar­ti­nis Le­ben kreis­te um drei Fix­punk­te: den Ethos des Arz­tes, sei­nen ka­tho­li­schen Glau­ben und sei­ne Über­zeu­gung, dem Va­ter­land mi­li­tä­risch die­nen zu sol­len. Er­klär­bar ist die­se Tri­as auch durch die Zu­ge­hö­rig­keit zu ei­ner Ge­ne­ra­ti­on, die im Ers­ten Welt­krieg be­reits ih­ren Be­ruf ge­fun­den hat­te und 1933 ge­sell­schaft­lich voll eta­bliert war. Ver­hei­ra­tet war Mar­ti­ni seit dem 20.1.1914 mit der am 22.8.1890 ge­bo­re­nen Mat­hil­de Schuler. Das Paar hat­te sie­ben Kin­der.

Die äu­ße­ren Da­ten ver­deut­li­chen Mar­ti­nis Le­bens­tri­as Me­di­zin–Ka­tho­li­zis­mus–Mi­li­tär. Ge­bo­ren wur­de er am 25.1.1889 in Fran­ken­thal. Von 1898 bis 1907 be­such­te er die hu­ma­nis­ti­schen Gym­na­si­en in Land­au, Fran­ken­thal und Lud­wigs­ha­fen. An­schlie­ßend stu­dier­te er in Mün­chen, nur im Som­mer 1911 un­ter­bro­chen von ei­nem Se­mes­ter in Kiel, Me­di­zin. 1913/1914 be­gann sei­ne Me­di­zi­nal­prak­ti­kan­ten­zeit in Mün­chen, die 1919 auf ei­ne Stel­le als As­sis­tenz­arzt an der II. Me­di­zi­ni­schen Kli­nik Mün­chen führ­te, wo er sich 1922 ha­bi­li­tier­te und 1927 Ober­arzt wur­de. Be­reits zu­vor, am 1.10.1926, hat­te er ei­ne au­ßer­or­dent­li­che Pro­fes­sur er­hal­ten. Vom 1.12.1928 bis zum 31.3.1932 war Mar­ti­ni Chef­arzt der In­ne­ren Ab­tei­lung des Ber­li­ner St.-Hed­wigs-Kran­ken­hau­ses. Auch in Ber­lin über­nahm er ei­ne au­ßer­or­dent­li­che Pro­fes­sur. Am 23.3.1932 wur­de er or­dent­li­cher Pro­fes­sor und Di­rek­tor der Me­di­zi­ni­schen Kli­nik Bonn, die er bis zu sei­ner Eme­ri­tie­rung 1957 lei­te­te. 1953/1954 be­klei­de­te er das Amt des Rek­tors. 1957 er­hielt er die Pa­ra­cel­sus-Me­dail­le, die höchs­te Aus­zeich­nung der deut­schen Ärz­te­schaft.

Ne­ben der me­di­zi­nisch-aka­de­mi­schen Kar­rie­re stand die mi­li­tä­ri­sche: 1907/1908 aus­ge­bil­det, wur­de er 1914 mit Kriegs­be­ginn ein­ge­zo­gen und war bis zum De­zem­ber 1918 als Fron­tarzt und in Kriegs­la­za­ret­ten tä­tig. Als Ober­stabs­arzt und be­ra­ten­der In­ter­nist der IV. Ar­mee war er auch im Zwei­ten Welt­krieg zeit­wei­lig an der Front. Un­ter an­de­rem wur­de er mit EK II und KVK II mit Schwer­tern aus­ge­zeich­net.

Wäh­rend der Ent­na­zi­fi­zie­rung gab er an, der ka­tho­li­schen Stu­den­ten­ver­bin­dung Aena­niae Mün­chen im CV, dem Reichs­ver­band deut­scher Of­fi­zie­re und dem Zen­trum an­ge­hört zu ha­ben. Ob man sei­ne nicht nä­her zu be­stim­men­de Ak­ti­vi­tät im an­ti­de­mo­kra­tisch-rech­ten Frei­korps Epp in den Jah­ren nach dem Ers­ten Welt­krieg sei­ner Freu­de am Sol­da­ten­tum oder ei­ner de­zi­dier­ten Ab­leh­nung der Wei­ma­rer Re­pu­blik zu­schrei­ben soll, wer­den His­to­ri­ker noch zu klä­ren ha­ben. Wäh­rend der NS-Dik­ta­tur war er je­den­falls nur in po­li­tisch nach­ran­gi­gen Or­ga­ni­sa­tio­nen Mit­glied (NS-Volks­wohl­fahrt, Reichs­do­zen­ten­schaft, Deut­sche Jä­ger­schaft, Reichs­luft­schutz­bund, Reichs­bund der Kin­der­rei­chen, ADAC und Deutsch-ös­ter­rei­chi­scher Al­pen­ver­ein). Er er­klär­te, im No­vem­ber 1932 wie im März 1933 Zen­trum ge­wählt zu ha­ben.

Die Dis­tanz zum NS-Re­gime spie­gel­te sich in Mar­ti­nis Ver­hal­ten als Di­rek­tor der Me­di­zi­ni­schen (In­ter­nis­ti­schen) Kli­nik der Uni­ver­si­tät Bonn. Mar­ti­ni war 1932 erst auf Drän­gen des preu­ßi­schen Kul­tus­mi­nis­te­ri­ums und ge­gen den Wunsch der Fa­kul­tät nach Bonn ge­kom­men. Ins­be­son­de­re der Di­rek­tor der Po­li­kli­nik, Max Bür­ger (1885-1966), hat­te sich Hoff­nun­gen ge­macht, in die Me­di­zi­ni­sche Kli­nik wech­seln zu kön­nen.

Mag bei Mar­ti­nis Be­stel­lung nach Bonn durch die preu­ßi­schen Be­hör­den sei­ne Ka­tho­li­zi­tät durch­aus ei­ne po­si­ti­ve Rol­le ge­spielt ha­ben, so muss­te er sich nach der Macht­über­tra­gung an die Na­tio­nal­so­zia­lis­ten ge­ra­de­zu recht­fer­ti­gen – zu­mal er sich ein­deu­tig zu sei­ner Kon­fes­si­on und zu sei­nem an Frei­heit ori­en­tier­ten Staats­bür­ger­ver­ständ­nis be­kann­te. Dem Ku­ra­tor, dem Ver­wal­tungs­chef der Uni­ver­si­tät, schrieb er am 29.8.1933: "Ich stand tra­di­ti­ons­ge­mäß u. auch entspr. mei­ner welt­an­schau­li­chen Ein­stel­lung den ka­tho­li­schen Par­tei­en im­mer am nächs­ten, oh­ne mich da­durch in u. bei der Aus­übung mei­ner staats­bür­ger­li­chen Rech­te ge­bun­den zu füh­len. Auch ha­be ich zu Wahl­fonds die­ser Par­tei­en mei­ner Er­in­ne­rung nach Bei­trä­ge von Fall zu Fall ge­leis­tet, wie üb­ri­gens auch zu an­de­ren po­li­ti­schen Fonds, wenn sie ge­ra­de in mei­ner po­li­ti­schen Über­zeu­gung wirk­ten, z. B. für die 1. Wahl Hin­den­burgs zum Reichs­prä­si­den­ten."

Schon 1933 er­öff­ne­te der Kreis­lei­ter der NS­DAP Er­mitt­lun­gen ge­gen Mar­ti­ni. Dem Kli­nik­di­rek­tor wur­de vor­ge­wor­fen, „Pa­ti­en­ten der 3. Klas­se nur 1–2mal in der Wo­che zu be­su­chen“ und Pri­vat­pa­ti­en­ten in der zwei­ten Klas­se un­ter­zu­brin­gen. Mar­ti­ni konn­te die­se Vor­wür­fe voll­stän­dig ent­kräf­ten. Er ver­hielt sich nicht an­ders, als es all­ge­mein üb­lich war. Bei der Be­le­gung han­del­te Mar­ti­ni, so ließ er in ei­ner Ge­gen­äu­ße­rung wis­sen, so­gar ge­gen sei­ne ei­ge­nen pe­ku­niä­ren In­ter­es­sen, da er be­son­ders kran­ke Pa­ti­en­ten im­mer wie­der in hö­her­klas­si­ge Zim­mer ver­le­gen ließ. Am 18.11.1933 er­klär­te der NS­DAP-Kreis­lei­ter dem Ku­ra­tor, er se­he „die An­ge­le­gen­heit“ nun­mehr „als er­le­dig­t“ an.

In den ers­ten bei­den Jah­ren der NS-Herr­schaft wur­de Mar­ti­ni von meh­re­ren ver­folg­ten Ärz­ten mit der Bit­te um Hil­fe an­ge­schrie­ben, so von dem da­mals als Pri­vat­do­zent in Hei­del­berg tä­ti­gen Wal­ter Pa­gel (1898-1983). Ihm ant­wor­te­te Mar­ti­ni an­ge­sichts sei­ner feh­len­den Mög­lich­kei­ten, ihm kom­me jetzt „sehr deut­lich zum Be­wusst­sein“, dass er „recht we­nig Aus­land-Be­zie­hun­gen ha­be“. Im Fal­le des Ju­den Lo­thar See­wald be­müh­te sich Mar­ti­ni, ihm bei Erich Krauß im Knapp­schafts­kran­ken­haus in Sulz­bach/Saar ei­ne Stel­le zu ver­schaf­fen. Zu­gleich rea­lis­tisch, an­ge­sichts der Be­gren­zung des An­teils jü­di­scher Stu­die­ren­der auf 1,5 Pro­zent sar­kas­tisch und nicht gänz­lich oh­ne an­ti­jü­di­schen Vor­be­halt schrieb Mar­ti­ni sei­nem Kol­le­gen am 10.7.1933: „Ich möch­te Dich in der Sa­che nicht drän­gen, falls die Un­an­nehm­lich­kei­ten, die Dich tref­fen könn­ten ev. grö­ßer wä­ren als der Ge­fal­len, den Du dem be­dau­erns­wer­ten jun­gen Kol­le­gen er­weist – Pra­xis wird er in Deutsch­land ja doch nicht aus­üben kön­nen. Falls Du bei noch­ma­li­ger Über­le­gung glaubst, ihn nicht neh­men zu sol­len, so wird er schon dank­bar sein, wenn Du ihm mit freund­li­chen Wor­ten ab­schreibst. Ich ha­be im­mer noch ei­ne jü­di­sche Me­di­zi­nal­prak­ti­kan­tin, ob­wohl es mehr als 1,5 % mei­ner ge­sam­ten Me­di­zi­nal­prak­ti­kan­ten aus­macht; um 1,5 % zu be­kom­men, müss­ten wir erst die jü­di­schen Me­di­zi­nal­prak­ti­kan­ten ‚zer­wir­ken’ und dann ver­tei­len!! Ich ha­be im­mer noch die Hoff­nung, dass wenn erst in ei­ni­ger Zeit die Haupt­ge­fah­ren des jü­di­schen Ein­flus­ses be­sei­tigt sind, ei­ne mensch­li­che­re Pra­xis Platz grei­fen wird."

Als noch 1933 der Ju­de und So­zi­al­de­mo­krat Al­fred Kan­to­ro­wicz (1880-1962), der re­nom­mier­te Di­rek­tor der Zahn­kli­nik, ver­trie­ben wur­de, fand er kei­ne Un­ter­stüt­zung durch die Fa­kul­tät und auch nicht durch Mar­ti­ni. Gleich­wohl wur­de Mar­ti­ni im­mer wie­der um Hil­fe an­ge­gan­gen. So soll­te er im März 1934 ein Schrei­ben an den Ber­li­ner Bi­schof Ni­ko­laus Ba­res un­ter­zeich­nen, das ei­ne För­de­rung der ka­tho­li­schen Ta­ges­pres­se zum Ziel hat­te. Woll­te Mar­ti­ni sein Ver­blei­ben im Amt nicht ge­fähr­den, muss­te er zu­rück­hal­ten­der agie­ren. Ob er den Ba­res­brief un­ter­schrieb, ist un­klar; ein­deu­tig ist sei­ne Be­reit­schaft, sich bei dem ein­fluss­rei­chen Ras­sen­hy­gie­ni­ker Ernst Rü­din (1874-1952) für den die NS-Erb­bio­lo­gie ab­leh­nen­den Hans Gruh­le (1880-1958) ein­zu­set­zen.

Noch 1934 ver­öf­fent­lich­te Mar­ti­ni in der Münch­ner Me­di­zi­ni­schen Wo­chen­schrift ei­nen Auf­satz, der den Wi­der­spruch von Na­tio­nal­so­zia­lis­ten her­vor­rief. Er ver­tei­dig­te dar­in die „so­gen. ‚Schul­me­di­zin’“ als Wis­sen­schaft, die ei­ne „ra­tio­nel­le The­ra­pie“ an­stre­be. Da­bei kri­ti­sier­te er den an­ti­de­mo­kra­ti­schen fa­na­ti­schen Me­di­zi­ner Er­win Liek (1878-1935), weil die­ser „vom Arzt die künst­le­ri­sche Per­sön­lich­keit“ ein­for­der­te und ihm „ei­ne Art von Gottähn­lich­keit“ zu­sprach, eben­so wie den The­ra­peu­ten Ma­xi­mi­li­an Bir­cher-Ben­ner (1867-1939), bei dem er ei­ne Ana­ly­se sei­ner Heil­erfol­ge ver­miss­te. Ein als un­sach­lich ein­ge­stuf­ter Ge­gen­ar­ti­kel Lieks konn­te von Schrift­lei­ter Hans Spatz, dem Mar­ti­ni 1947 ein Ent­las­tungs­zeug­nis aus­stell­te, ab­ge­wehrt wer­den. 1935 droh­te Mar­ti­ni ei­ne neue Ge­fahr. Aus dem Reich­ser­zie­hungs­mi­nis­te­ri­um wur­de er ge­fragt, ob er an ei­nem Wech­sel nach Er­lan­gen in­ter­es­siert sei. Dies war Mar­ti­ni mit­nich­ten, der wohl an ei­ne Aus­gren­zung aus po­li­ti­schen Grün­den dach­te und nun in ei­nem drei­ein­halb­sei­ti­gen Brief die Vor­zü­ge sei­nes Ver­bleibs in Bonn für die Wis­sen­schaft schil­der­te. Das Pa­pier wur­de ein glü­hen­des Be­kennt­nis für die Bon­ner Fa­kul­tät, sei­ne Me­di­zi­ni­sche Kli­nik so­wie de­ren Mit­ar­bei­ter und Stu­die­ren­de: "Von vorn­her­ein er­scheint es mir si­cher, dass mei­ne Lehr­tä­tig­keit in Er­lan­gen ei­ne be­grenz­te­re wä­re wie hier; ich hat­te im ver­gan­ge­nen Se­mes­ter hier über 300 ein­ge­schrie­be­ne Hö­rer; tat­säch­lich wa­ren es we­sent­lich mehr, so­daß ich die Kli­nik 2x hielt, für die jün­ge­ren Se­mes­ter von 7–8 und für die äl­te­ren von 10–11 Uhr. Die Er­lan­ger Stu­den­ten­zah­len sind we­sent­lich klei­ner; wenn das auch ein per­sön­li­che­res Zu­sam­men­ar­bei­ten mit dem ein­zel­nen Stu­den­ten be­deu­tet, so se­he ich doch auch in der Mög­lich­keit, vie­le Stu­den­ten zu dem Ide­al der Me­di­zin zu er­zie­hen, wie es mir vor­schwebt, et­was Er­stre­bens­wer­tes. Die mir per­sön­lich be­son­ders ob­lie­gen­de wis­sen­schaft­li­che Auf­ga­be se­he ich in der the­ra­peu­ti­schen For­schung. […] Da­zu ge­hör­te vor al­lem ei­ne sehr fol­ge­rich­ti­ge und un­aus­ge­setz­te Er­zie­hung mei­ner As­sis­ten­ten und sons­ti­gen Mit­ar­bei­ter […]. Ich kann be­haup­ten, dass in­fol­ge die­ser Ar­beit ei­ner­seits mei­ne As­sis­ten­ten zu ei­ner be­son­de­ren Art von Kon­se­quenz, Kri­tik und Pflicht­be­wusst­sein ge­schult wur­den, dass wir an­de­rer­seits in den letz­ten 3 Jah­ren ei­ne gro­ße An­zahl von Kran­ken­ge­schich­ten ge­sam­melt ha­ben, die als mus­ter­gül­ti­ge und un­ge­wöhn­li­che Un­ter­la­gen für spä­te­re Schlüs­se ei­nen be­son­de­ren Wert ha­ben. [...] Ei­ne Auf­ga­be, wie ich sie mir in be­son­de­rem Ma­ße ge­stellt se­he, dem Stre­ben nach den Grund­la­gen ei­ner bes­se­ren Heil­kun­de, kann nur er­füllt wer­den in ei­ner kon­ti­nu­ier­li­chen Ar­beit an der glei­chen Wir­kungs­stät­te. […] So wür­de ein Tausch von Bonn ge­gen Er­lan­gen für mich ei­ne schwers­te Schä­di­gung mei­ner ärzt­li­chen-wis­sen­schaft­li­chen Ar­beit be­deu­ten. […] Daß ich mich hier mit der Uni­ver­si­tät, mit der med. Fa­kul­tät und mit den Stu­den­ten in­ner­lich ver­bun­den füh­le, ist selbst­ver­ständ­lich auch ein Grund, der mich eher zum Blei­ben als zum Weg­ge­hen ver­an­las­sen könn­te."

Es gab nie­man­den, der sich so ein­dring­lich wie Mar­ti­ni um Per­so­nal und Ma­te­ri­al be­müh­te, um die Leis­tungs­fä­hig­keit der Kli­nik zu er­hal­ten oder wei­ter aus­zu­bau­en. Da­bei scheu­te er den Kon­flikt auch dann nicht, wenn fun­da­men­ta­le An­lie­gen des na­tio­nal­so­zia­lis­ti­schen Re­gimes be­rührt wur­den. Schon 1933 be­schwer­te er sich nicht oh­ne Er­folg über den Ab­zug sei­ner As­sis­ten­ten Wil­helm Na­gel und Adolf Hey­mer (1902-1978) zu Wehr­sport­übun­gen. Deut­lich gab er zu er­ken­nen, dass er kon­fes­sio­nell ge­bun­de­nen Kran­ken­schwes­tern den Vor­zug vor Schwes­tern des Ro­ten Kreu­zes oder der NS­DAP gab.

Doch auch Mar­ti­ni be­tei­lig­te sich an der Kriegs­for­schung („Un­ter­su­chun­gen auf dem Ge­biet der ge­werb­li­chen Me­tall­ver­gif­tun­gen und ähn­li­cher kriegs­be­ding­ter Be­rufs­schä­di­gun­gen“), pu­bli­zier­te in Fach­zeit­schrif­ten, die NS-Ge­dan­ken­gut ver­brei­te­ten, und war Mit­glied in Ge­sell­schaf­ten, die Me­di­zin­ver­bre­chen un­ter­stütz­ten. Er beug­te sich ei­nem Mi­nis­te­ria­l­er­lass und trat im No­vem­ber 1938 aus der Ver­ei­ni­gung ka­tho­li­scher Aka­de­mi­ker aus.

Dass ihm die Wehr­me­di­zin ein wirk­li­ches An­lie­gen war, zei­gen nicht zu­letzt sein Schrift­wech­sel mit den mi­li­tä­ri­schen Vor­ge­setz­ten und sein er­folg­rei­ches Be­mü­hen um Lehr­ver­an­stal­tun­gen von Kol­le­gen aus der Wehr­macht. Im Ok­to­ber 1934 war auf Mar­ti­nis An­trag hin ein Stabs­arzt für drei Jah­re an die Me­di­zi­ni­sche Kli­nik kom­man­diert wor­den, um „vor Ärz­ten der Stadt und der Um­ge­bung ei­ne Vor­trags­rei­he über Hee­res­sa­ni­täts­we­sen und Sa­ni­täts­tak­ti­k“ zu hal­ten. Mar­ti­ni be­grün­de­te die­ses Kom­man­do nicht mit den Be­dürf­nis­sen der Kli­nik, son­dern mit der Tat­sa­che, dass im gan­zen links­rhei­ni­schen Ge­biet kein mit der der­zei­ti­gen Or­ga­ni­sa­ti­on des Hee­res­sa­ni­täts­we­sens ver­trau­ter Sa­ni­täts­of­fi­zier sta­tio­niert war und es an an­spre­chen­der Be­ra­tung fehl­te.

Ent­spre­chend zu­rück­hal­tend re­agier­te Mar­ti­ni, als ihn der Ku­ra­tor für den Fall ei­ner Mo­bil­ma­chung vom Mi­li­tär­dienst frei­stel­len woll­te. Nur zö­gernd gab er sei­ne Zu­stim­mung und ver­band sie mit ei­ner Kri­tik an dem Plan, im Kriegs­fall ei­ne „Ver­le­gung und Aus­ein­an­der­rei­ßun­g“ der Kli­ni­ken an­zu­ord­nen. Tat­säch­lich wur­de Mar­ti­ni mit Kriegs­be­ginn ein­ge­zo­gen und fun­gier­te als be­ra­ten­der In­ter­nist der IV. Ar­mee. Er vi­si­tier­te nicht nur Kriegs­la­za­ret­te, son­dern stell­te in den ers­ten Kriegs­wo­chen um­fas­sen­de or­ga­ni­sa­to­ri­sche Über­le­gun­gen an und un­ter­brei­te­te Ver­bes­se­rungs­vor­schlä­ge. So be­rich­te­te er aus Brom­berg, die Wehr­macht sei dort am 5. Sep­tem­ber ein­ge­rückt, aber erst am 14. Sep­tem­ber sei durch sei­ne und ei­nes Kol­le­gen Er­mitt­lun­gen zu Ta­ge ge­för­dert wor­den, dass seit sechs Wo­chen in Brom­berg ei­ne Ruh­re­pi­de­mie herr­sche. Um die für der­ar­ti­ge Er­kun­dun­gen not­wen­di­ge Frei­heit zu ha­ben, for­der­te Mar­ti­ni, die Bin­dung der be­ra­ten­den Ärz­te an die Sa­ni­täts­ab­tei­lung zu lo­ckern. Schon am 20.10.1939 wur­de bei ei­nem Hei­mat­auf­ent­halt Mar­ti­nis aber be­stimmt, dass er in Bonn blei­ben und „von hier aus“ ne­ben der Kli­nik „die be­nach­bar­ten La­za­ret­te be­treu­en“ sol­le. Mar­ti­nis zeit­wei­li­ge Mi­li­tär­nä­he passt in das Bild ei­nes sich fin­dig um Geld- und Sach­mit­tel be­mü­hen­den Kli­nik­chefs. Im Zu­ge des Schwes­tern­tauschs er­reich­te er die An­stel­lung ei­nes Apo­the­kers und nach ei­ni­ger Zeit die Auf­wer­tung der „Dis­pen­sier­an­stal­t“ in ei­ne kon­zes­sio­nier­te Apo­the­ke, ob­wohl die Recht­mä­ßig­keit gro­ßer kli­nik­ei­ge­ner Dis­pen­sier­an­stal­ten und Apo­the­ken in Fra­ge stand. Als in sei­nem Na­men der Ober­arzt Adolf Hey­mer im März 1938 be­an­trag­te, die Zahl von 2.190 Frei­bet­ten um 500 über­schrei­ten zu dür­fen, „um die Wirk­sam­keit ei­ner koch­salz­frei­en Di­ät wis­sen­schaft­lich klar­zu­stel­len“, wur­de die­sem vor­be­halt­los statt­ge­ge­ben.

Trotz sei­ner nicht an­zu­zwei­feln­den Kom­pe­tenz und sei­nem Ver­ständ­nis für mi­li­tä­ri­sches Den­ken war Mar­ti­ni den na­tio­nal­so­zia­lis­ti­schen Ideo­lo­gen ein Dorn im Au­ge. Wäh­rend des Krie­ges wur­den mas­si­ve Vor­wür­fe ge­gen ihn mit dem Ziel er­ho­ben, ei­ne Amts­ent­he­bung zu er­rei­chen. Dies lag wohl vor al­lem dar­an, dass Mar­ti­ni im­mer wie­der recht of­fen sei­ne An­schau­un­gen ver­trat und sich um ent­spre­chen­des Per­so­nal be­müh­te. In der Me­di­zi­ni­schen Kli­nik ar­bei­te­ten wäh­rend des „Drit­ten Reichs“ we­nigs­tens 14 As­sis­ten­ten. Von die­sen, so er­in­ner­te sich Mar­ti­ni im April 1945, hät­ten „min­des­tens 10 nur mit in­ne­rem Wi­der­wil­len“ ei­ner Glie­de­rung der Par­tei an­ge­hört. Von den sechs As­sis­ten­ten, die im „Drit­ten Reich“ un­ter Mar­ti­ni die Do­zen­tur er­wor­ben ha­ben, sei nur ei­ner Na­tio­nal­so­zia­list ge­we­sen, die an­de­ren hät­ten zwar der NS­DAP an­ge­hört, die­se aber in­ner­lich ab­ge­lehnt. Wei­te­re zwei As­sis­ten­ten lehn­ten ei­nen Par­tei­ein­tritt ab und ver­zich­te­ten auf ei­ne wis­sen­schaft­li­che Lauf­bahn.

Ei­ner der As­sis­ten­ten war Bru­no An­ton Schuler, der trotz sei­ner Mit­glied­schaft in na­tio­nal­so­zia­lis­ti­schen Glie­de­run­gen mit Ver­tre­tern des Re­gimes in Kon­flikt ge­riet. Von Schuler ist be­zeugt, dass er im Herbst 1942 den bis 1933 als au­ßer­or­dent­li­cher Pro­fes­sor an der Uni­ver­si­tät leh­ren­den jü­di­schen Chir­ur­gen Adolf Nuß­baum (1885-1962) we­gen ei­ner Herz­er­kran­kung be­han­del­te. Mar­ti­ni wird da­von zwei­fel­los ge­wusst ha­ben, be­mer­kens­wert ist gleich­wohl, dass er nicht selbst die Be­hand­lung des Kol­le­gen über­nom­men hat. Nuß­baum er­klär­te 1948 zu Schuler: "Er war sehr freund­lich ge­gen mich und hat mich in kei­ner Wei­se mei­ne da­ma­li­ge Dif­fa­mie­rung füh­len las­sen."

Zum wich­tigs­ten Mit­ar­bei­ter Mar­ti­nis ent­wi­ckel­te sich in den Jah­ren des „Drit­ten Reichs“ Adolf Hey­mer, 1958 sein Nach­fol­ger als Kli­nik­di­rek­tor . Hey­mer war Mar­ti­ni vom ka­tho­li­schen Ber­li­ner Hed­wigs­kran­ken­haus nach Bonn ge­folgt und der idea­le „zwei­te Man­n“. 1946 er­in­ner­te sich Mar­ti­ni: "Seit der sog. Macht­über­nah­me im Jah­re 1933 kam es nie­mals zu ei­ner ir­gend­wie we­sent­li­chen Dif­fe­renz un­se­rer An­schau­un­gen über die Ver­werf­lich­keit der Zie­le des Na­tio­nal­so­zia­lis­mus, über die Ver­lo­gen­heit sei­ner Me­tho­den, über die schreck­li­chen Fol­gen, die die Un­frei­heit und die Heu­che­lei, der er über Deutsch­land brach­te, zur Fol­ge ha­ben mu­ß­te. […] Er hat selbst nicht nur ge­wusst, dass ich dau­ernd Ju­den als Pa­ti­en­ten be­han­del­te, son­dern er hat es selbst eben­so ge­hal­ten, ob­wohl dies bei ihm bei der Ex­po­niert­heit sei­ner Sprech­stun­de in ei­ner staat­li­chen Kli­nik ei­ne Ge­fahr für ihn war."

In die­ser Art ur­teil­te Mar­ti­ni nach dem En­de des NS-Re­gimes über zahl­rei­che ihm be­kann­te Kol­le­gen, eben­so ein­deu­tig po­si­tiv wie ne­ga­tiv. Die „Ent­na­zi­fi­zie­run­g“, auch „Ent­na­zi­sie­run­g“ ge­nannt, weck­te rasch Zwei­fel, ob­wohl sel­ten die Fra­ge nach ei­ner Al­ter­na­ti­ve be­frie­di­gend be­ant­wor­tet wer­den konn­te. Mar­ti­ni re­sü­mier­te 1948, es sei­en „von bei­den Sei­ten aus un­zäh­li­ge Feh­ler ge­macht wor­den“. „Die ei­nen“ sei­en „un­ver­dient un­ter die Rä­der ge­kom­men“, „die an­de­ren“ hät­ten „ei­ne noch un­ver­dien­te­re Wie­der­auf­er­ste­hung er­fah­ren“. Tat­säch­lich fäll­te auch Mar­ti­ni Ur­tei­le, die heu­te auf Un­ver­ständ­nis sto­ßen. So wur­de er zu ei­nem Für­spre­cher des Di­rek­tors der Frau­en­kli­nik, Ha­rald Sieb­ke (1899-1964), der Zwangs­ste­ri­li­sie­run­gen und Zwangs­ab­trei­bun­gen zu ver­ant­wor­ten hat­te. In ei­nem an­de­ren Fall – es ging um den Phar­ma­ko­lo­gen Wer­ner Schu­le­mann (1888-1975) – such­te Mar­ti­ni so­gar den Kon­takt zur ge­ra­de ein­ge­setz­ten Düs­sel­dor­fer Kul­tus­mi­nis­te­rin Chris­ti­ne Teusch.

Mar­ti­nis mo­ra­li­sche Po­si­ti­on war bei den Be­sat­zungs­mäch­ten wie bei der neu­en nord­rhein-west­fä­li­schen Lan­des­re­gie­rung un­be­strit­ten. Sein Ein­satz in en­ger Ko­ope­ra­ti­on mit Teuschs Vor­gän­ger, dem zeit­wei­li­gen Bon­ner Rek­tor Hein­rich Ko­nen, trug ma­ß­geb­lich da­zu bei, dass die Me­di­zi­ni­sche Fa­kul­tät be­reits im Ok­to­ber 1945 und bald dar­auf die ge­sam­te Uni­ver­si­tät of­fi­zi­ell wie­der ih­re Ar­beit auf­neh­men konn­ten.

Schon am 19.4.1945 hat­te er der Mi­li­tär­re­gie­rung die Si­tua­ti­on an sei­ner Kli­nik und die Di­lem­ma­ta ge­schil­dert, vor de­nen jun­ge Wis­sen­schaft­ler stan­den. Recht un­ver­blümt sprach er da­mals den Al­li­ier­ten die Be­rech­ti­gung ab, über „je­de Kon­zes­si­on im mo­ra­li­schen Ge­bie­t“ – auch Mar­ti­ni hat­te Kon­zes­sio­nen ma­chen müs­sen – zu ur­tei­len: „Von de­nen […], die noch nicht die Feu­er­pro­be auf ih­re ei­ge­ne Im­mu­ni­tät ge­gen­über den Druck- und Er­pres­sungs­mit­teln ei­ner Ty­ran­nis ab­ge­legt ha­ben, ha­ben nur we­ni­ge das Recht, von sich zu be­haup­ten, dass sie die­se Pro­be mit Si­cher­heit bes­ser be­stan­den hät­ten. Ho­mo sum, nil hu­ma­ni a me ali­e­num pu­to“.

Bald dar­auf, im Ju­li 1945, ver­fass­te Mar­ti­ni ei­ne neun­sei­ti­ge Denk­schrift, in der er auch an die deut­schen nicht­jü­di­schen Op­fer in den Kon­zen­tra­ti­ons­la­gern er­in­ner­te und sich ge­gen die The­se ei­ner Kol­lek­tiv­schuld wand­te. Mar­ti­ni glaub­te an die Selbst­hei­lungs­kräf­te, auch an der Uni­ver­si­tät. Gleich­wohl fand er sich auch noch Jah­re spä­ter nicht da­mit ab, wenn Lob­re­den auf Ärz­te ge­hal­ten wur­den, die sich ver­bre­che­ri­scher Me­tho­den be­dient hat­ten. Als der Tü­bin­ger Gy­nä­ko­lo­ge Au­gust May­er (1876-1968) die For­schun­gen sei­nes Kol­le­gen Her­mann Stie­ve (1886-1952) an den Lei­chen von zum To­de ver­ur­teil­ten Op­fern des NS-Re­gimes auf ei­ner Ärz­te­ver­samm­lung in Frei­burg als „ver­dienst­vol­l“ be­zeich­ne­te, war er „na­he dar­an“, vor Ort „zu pro­tes­tie­ren“, be­schränk­te sich je­doch aus „Ehr­furcht und Sym­pa­thie“ für May­er auf ei­ne kla­re schrift­li­che Re­ak­ti­on.

Auch nach den Jah­ren des Wie­der­auf­baus – Mar­ti­ni stand zeit­wei­lig der wich­ti­gen Bau­kom­mis­si­on der Uni­ver­si­tät vor, fun­gier­te als De­kan und war mit­ver­ant­wort­lich für das neue Kli­nik­ge­län­de auf dem Bon­ner Ve­nus­berg – be­schränk­te sich der Di­rek­tor der Me­di­zi­ni­schen Kli­nik nicht auf sei­ne Tä­tig­keit als For­scher und Arzt, der im­mer mehr Po­li­ti­ker in der jun­gen Bun­des­haupt­stadt be­han­del­te, dar­un­ter Kon­rad Ade­nau­er. Er en­ga­gier­te sich für die Ein­rich­tung ei­ner öku­me­nisch nutz­ba­ren Kli­nik­ka­pel­le, wur­de Prä­si­dent der Deut­schen Ge­sell­schaft für In­ne­re Me­di­zin und Rek­tor der Uni­ver­si­tät Bonn. Er starb am 8.9.1964 in sei­nem Jagd­haus in Ga­len­berg in der Ei­fel. Heu­te be­wahrt ei­ne nach ihm be­nann­te Stif­tung sein An­denken und för­dert me­di­zi­nisch-phar­ma­ko­lo­gi­schen Nach­wuchs.

Nachlass

Me­di­zin­his­to­ri­sches In­sti­tut der Uni­ver­si­tät Bonn.

Werke (Auswahl)

Die un­mit­tel­ba­re Kran­ken-Un­ter­su­chung. Ärzt­li­ches Se­hen, Hö­ren und Füh­len, Mün­chen 1927.
Me­tho­den­leh­re der the­ra­peu­tisch-kli­ni­schen For­schung, 3. verb. Aufl. Ber­lin u.a. 1953 (Erst­auf­la­ge 1932).
Ein­sei­tig­keit und Mit­te in der Me­di­zin. Re­de zum An­tritt des Rek­to­ra­tes der Rhei­ni­schen Fried­rich-Wil­helms-Uni­ver­si­tät in Bonn am 7. No­vem­ber 1953, Bonn 1954.

Literatur

Fors­bach, Ralf, Die Me­di­zi­ni­sche ­Fa­kul­tät ­der Uni­ver­si­tät Bonn im „Drit­ten Reich“, Mün­chen 2006.
Schott, Hein­z  (Hg.), Uni­ver­si­täts­kli­ni­ken und Me­di­zi­ni­sche ­Fa­kul­tät Bonn 1950–2000. Fest­schrift zum 50jäh­ri­gen Ju­bi­lä­um des Neu­an­fangs auf dem Ve­nus­berg, Bonn 2000.

Online

http-blank://www.paul-mar­ti­ni-stif­tung.de. [On­line]

 
Zitationshinweis

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Forsbach, Ralf, Paul Martini, in: Internetportal Rheinische Geschichte, abgerufen unter: https://www.rheinische-geschichte.lvr.de/Persoenlichkeiten/paul-martini/DE-2086/lido/57c9488b69d9a0.01478519 (abgerufen am 28.03.2024)