Zu den Kapiteln
Paul Martini war Pfälzer von Geburt und erreichte mit seinen Studien über therapeutische Methoden in Berlin ersten Ruhm. In Bonn prägte er die Universitätsmedizin während des „Dritten Reichs“ und in der Nachkriegszeit. Nicht gänzlich erfolglos versuchte er, die von ihm geleitete Klinik dem totalitären Anspruch des NS-Staats zu entziehen.
Martinis Leben kreiste um drei Fixpunkte: den Ethos des Arztes, seinen katholischen Glauben und seine Überzeugung, dem Vaterland militärisch dienen zu sollen. Erklärbar ist diese Trias auch durch die Zugehörigkeit zu einer Generation, die im Ersten Weltkrieg bereits ihren Beruf gefunden hatte und 1933 gesellschaftlich voll etabliert war. Verheiratet war Martini seit dem 20.1.1914 mit der am 22.8.1890 geborenen Mathilde Schuler. Das Paar hatte sieben Kinder.
Die äußeren Daten verdeutlichen Martinis Lebenstrias Medizin–Katholizismus–Militär. Geboren wurde er am 25.1.1889 in Frankenthal. Von 1898 bis 1907 besuchte er die humanistischen Gymnasien in Landau, Frankenthal und Ludwigshafen. Anschließend studierte er in München, nur im Sommer 1911 unterbrochen von einem Semester in Kiel, Medizin. 1913/1914 begann seine Medizinalpraktikantenzeit in München, die 1919 auf eine Stelle als Assistenzarzt an der II. Medizinischen Klinik München führte, wo er sich 1922 habilitierte und 1927 Oberarzt wurde. Bereits zuvor, am 1.10.1926, hatte er eine außerordentliche Professur erhalten. Vom 1.12.1928 bis zum 31.3.1932 war Martini Chefarzt der Inneren Abteilung des Berliner St.-Hedwigs-Krankenhauses. Auch in Berlin übernahm er eine außerordentliche Professur. Am 23.3.1932 wurde er ordentlicher Professor und Direktor der Medizinischen Klinik Bonn, die er bis zu seiner Emeritierung 1957 leitete. 1953/1954 bekleidete er das Amt des Rektors. 1957 erhielt er die Paracelsus-Medaille, die höchste Auszeichnung der deutschen Ärzteschaft.
Neben der medizinisch-akademischen Karriere stand die militärische: 1907/1908 ausgebildet, wurde er 1914 mit Kriegsbeginn eingezogen und war bis zum Dezember 1918 als Frontarzt und in Kriegslazaretten tätig. Als Oberstabsarzt und beratender Internist der IV. Armee war er auch im Zweiten Weltkrieg zeitweilig an der Front. Unter anderem wurde er mit EK II und KVK II mit Schwertern ausgezeichnet.
Während der Entnazifizierung gab er an, der katholischen Studentenverbindung Aenaniae München im CV, dem Reichsverband deutscher Offiziere und dem Zentrum angehört zu haben. Ob man seine nicht näher zu bestimmende Aktivität im antidemokratisch-rechten Freikorps Epp in den Jahren nach dem Ersten Weltkrieg seiner Freude am Soldatentum oder einer dezidierten Ablehnung der Weimarer Republik zuschreiben soll, werden Historiker noch zu klären haben. Während der NS-Diktatur war er jedenfalls nur in politisch nachrangigen Organisationen Mitglied (NS-Volkswohlfahrt, Reichsdozentenschaft, Deutsche Jägerschaft, Reichsluftschutzbund, Reichsbund der Kinderreichen, ADAC und Deutsch-österreichischer Alpenverein). Er erklärte, im November 1932 wie im März 1933 Zentrum gewählt zu haben.
Die Distanz zum NS-Regime spiegelte sich in Martinis Verhalten als Direktor der Medizinischen (Internistischen) Klinik der Universität Bonn. Martini war 1932 erst auf Drängen des preußischen Kultusministeriums und gegen den Wunsch der Fakultät nach Bonn gekommen. Insbesondere der Direktor der Poliklinik, Max Bürger (1885-1966), hatte sich Hoffnungen gemacht, in die Medizinische Klinik wechseln zu können.
Mag bei Martinis Bestellung nach Bonn durch die preußischen Behörden seine Katholizität durchaus eine positive Rolle gespielt haben, so musste er sich nach der Machtübertragung an die Nationalsozialisten geradezu rechtfertigen – zumal er sich eindeutig zu seiner Konfession und zu seinem an Freiheit orientierten Staatsbürgerverständnis bekannte. Dem Kurator, dem Verwaltungschef der Universität, schrieb er am 29.8.1933: "Ich stand traditionsgemäß u. auch entspr. meiner weltanschaulichen Einstellung den katholischen Parteien immer am nächsten, ohne mich dadurch in u. bei der Ausübung meiner staatsbürgerlichen Rechte gebunden zu fühlen. Auch habe ich zu Wahlfonds dieser Parteien meiner Erinnerung nach Beiträge von Fall zu Fall geleistet, wie übrigens auch zu anderen politischen Fonds, wenn sie gerade in meiner politischen Überzeugung wirkten, z. B. für die 1. Wahl Hindenburgs zum Reichspräsidenten."
Schon 1933 eröffnete der Kreisleiter der NSDAP Ermittlungen gegen Martini. Dem Klinikdirektor wurde vorgeworfen, „Patienten der 3. Klasse nur 1–2mal in der Woche zu besuchen“ und Privatpatienten in der zweiten Klasse unterzubringen. Martini konnte diese Vorwürfe vollständig entkräften. Er verhielt sich nicht anders, als es allgemein üblich war. Bei der Belegung handelte Martini, so ließ er in einer Gegenäußerung wissen, sogar gegen seine eigenen pekuniären Interessen, da er besonders kranke Patienten immer wieder in höherklassige Zimmer verlegen ließ. Am 18.11.1933 erklärte der NSDAP-Kreisleiter dem Kurator, er sehe „die Angelegenheit“ nunmehr „als erledigt“ an.
In den ersten beiden Jahren der NS-Herrschaft wurde Martini von mehreren verfolgten Ärzten mit der Bitte um Hilfe angeschrieben, so von dem damals als Privatdozent in Heidelberg tätigen Walter Pagel (1898-1983). Ihm antwortete Martini angesichts seiner fehlenden Möglichkeiten, ihm komme jetzt „sehr deutlich zum Bewusstsein“, dass er „recht wenig Ausland-Beziehungen habe“. Im Falle des Juden Lothar Seewald bemühte sich Martini, ihm bei Erich Krauß im Knappschaftskrankenhaus in Sulzbach/Saar eine Stelle zu verschaffen. Zugleich realistisch, angesichts der Begrenzung des Anteils jüdischer Studierender auf 1,5 Prozent sarkastisch und nicht gänzlich ohne antijüdischen Vorbehalt schrieb Martini seinem Kollegen am 10.7.1933: „Ich möchte Dich in der Sache nicht drängen, falls die Unannehmlichkeiten, die Dich treffen könnten ev. größer wären als der Gefallen, den Du dem bedauernswerten jungen Kollegen erweist – Praxis wird er in Deutschland ja doch nicht ausüben können. Falls Du bei nochmaliger Überlegung glaubst, ihn nicht nehmen zu sollen, so wird er schon dankbar sein, wenn Du ihm mit freundlichen Worten abschreibst. Ich habe immer noch eine jüdische Medizinalpraktikantin, obwohl es mehr als 1,5 % meiner gesamten Medizinalpraktikanten ausmacht; um 1,5 % zu bekommen, müssten wir erst die jüdischen Medizinalpraktikanten ‚zerwirken’ und dann verteilen!! Ich habe immer noch die Hoffnung, dass wenn erst in einiger Zeit die Hauptgefahren des jüdischen Einflusses beseitigt sind, eine menschlichere Praxis Platz greifen wird."
Als noch 1933 der Jude und Sozialdemokrat Alfred Kantorowicz (1880-1962), der renommierte Direktor der Zahnklinik, vertrieben wurde, fand er keine Unterstützung durch die Fakultät und auch nicht durch Martini. Gleichwohl wurde Martini immer wieder um Hilfe angegangen. So sollte er im März 1934 ein Schreiben an den Berliner Bischof Nikolaus Bares unterzeichnen, das eine Förderung der katholischen Tagespresse zum Ziel hatte. Wollte Martini sein Verbleiben im Amt nicht gefährden, musste er zurückhaltender agieren. Ob er den Baresbrief unterschrieb, ist unklar; eindeutig ist seine Bereitschaft, sich bei dem einflussreichen Rassenhygieniker Ernst Rüdin (1874-1952) für den die NS-Erbbiologie ablehnenden Hans Gruhle (1880-1958) einzusetzen.
Noch 1934 veröffentlichte Martini in der Münchner Medizinischen Wochenschrift einen Aufsatz, der den Widerspruch von Nationalsozialisten hervorrief. Er verteidigte darin die „sogen. ‚Schulmedizin’“ als Wissenschaft, die eine „rationelle Therapie“ anstrebe. Dabei kritisierte er den antidemokratischen fanatischen Mediziner Erwin Liek (1878-1935), weil dieser „vom Arzt die künstlerische Persönlichkeit“ einforderte und ihm „eine Art von Gottähnlichkeit“ zusprach, ebenso wie den Therapeuten Maximilian Bircher-Benner (1867-1939), bei dem er eine Analyse seiner Heilerfolge vermisste. Ein als unsachlich eingestufter Gegenartikel Lieks konnte von Schriftleiter Hans Spatz, dem Martini 1947 ein Entlastungszeugnis ausstellte, abgewehrt werden. 1935 drohte Martini eine neue Gefahr. Aus dem Reichserziehungsministerium wurde er gefragt, ob er an einem Wechsel nach Erlangen interessiert sei. Dies war Martini mitnichten, der wohl an eine Ausgrenzung aus politischen Gründen dachte und nun in einem dreieinhalbseitigen Brief die Vorzüge seines Verbleibs in Bonn für die Wissenschaft schilderte. Das Papier wurde ein glühendes Bekenntnis für die Bonner Fakultät, seine Medizinische Klinik sowie deren Mitarbeiter und Studierende: "Von vornherein erscheint es mir sicher, dass meine Lehrtätigkeit in Erlangen eine begrenztere wäre wie hier; ich hatte im vergangenen Semester hier über 300 eingeschriebene Hörer; tatsächlich waren es wesentlich mehr, sodaß ich die Klinik 2x hielt, für die jüngeren Semester von 7–8 und für die älteren von 10–11 Uhr. Die Erlanger Studentenzahlen sind wesentlich kleiner; wenn das auch ein persönlicheres Zusammenarbeiten mit dem einzelnen Studenten bedeutet, so sehe ich doch auch in der Möglichkeit, viele Studenten zu dem Ideal der Medizin zu erziehen, wie es mir vorschwebt, etwas Erstrebenswertes. Die mir persönlich besonders obliegende wissenschaftliche Aufgabe sehe ich in der therapeutischen Forschung. […] Dazu gehörte vor allem eine sehr folgerichtige und unausgesetzte Erziehung meiner Assistenten und sonstigen Mitarbeiter […]. Ich kann behaupten, dass infolge dieser Arbeit einerseits meine Assistenten zu einer besonderen Art von Konsequenz, Kritik und Pflichtbewusstsein geschult wurden, dass wir andererseits in den letzten 3 Jahren eine große Anzahl von Krankengeschichten gesammelt haben, die als mustergültige und ungewöhnliche Unterlagen für spätere Schlüsse einen besonderen Wert haben. [...] Eine Aufgabe, wie ich sie mir in besonderem Maße gestellt sehe, dem Streben nach den Grundlagen einer besseren Heilkunde, kann nur erfüllt werden in einer kontinuierlichen Arbeit an der gleichen Wirkungsstätte. […] So würde ein Tausch von Bonn gegen Erlangen für mich eine schwerste Schädigung meiner ärztlichen-wissenschaftlichen Arbeit bedeuten. […] Daß ich mich hier mit der Universität, mit der med. Fakultät und mit den Studenten innerlich verbunden fühle, ist selbstverständlich auch ein Grund, der mich eher zum Bleiben als zum Weggehen veranlassen könnte."
Es gab niemanden, der sich so eindringlich wie Martini um Personal und Material bemühte, um die Leistungsfähigkeit der Klinik zu erhalten oder weiter auszubauen. Dabei scheute er den Konflikt auch dann nicht, wenn fundamentale Anliegen des nationalsozialistischen Regimes berührt wurden. Schon 1933 beschwerte er sich nicht ohne Erfolg über den Abzug seiner Assistenten Wilhelm Nagel und Adolf Heymer (1902-1978) zu Wehrsportübungen. Deutlich gab er zu erkennen, dass er konfessionell gebundenen Krankenschwestern den Vorzug vor Schwestern des Roten Kreuzes oder der NSDAP gab.
Doch auch Martini beteiligte sich an der Kriegsforschung („Untersuchungen auf dem Gebiet der gewerblichen Metallvergiftungen und ähnlicher kriegsbedingter Berufsschädigungen“), publizierte in Fachzeitschriften, die NS-Gedankengut verbreiteten, und war Mitglied in Gesellschaften, die Medizinverbrechen unterstützten. Er beugte sich einem Ministerialerlass und trat im November 1938 aus der Vereinigung katholischer Akademiker aus.
Dass ihm die Wehrmedizin ein wirkliches Anliegen war, zeigen nicht zuletzt sein Schriftwechsel mit den militärischen Vorgesetzten und sein erfolgreiches Bemühen um Lehrveranstaltungen von Kollegen aus der Wehrmacht. Im Oktober 1934 war auf Martinis Antrag hin ein Stabsarzt für drei Jahre an die Medizinische Klinik kommandiert worden, um „vor Ärzten der Stadt und der Umgebung eine Vortragsreihe über Heeressanitätswesen und Sanitätstaktik“ zu halten. Martini begründete dieses Kommando nicht mit den Bedürfnissen der Klinik, sondern mit der Tatsache, dass im ganzen linksrheinischen Gebiet kein mit der derzeitigen Organisation des Heeressanitätswesens vertrauter Sanitätsoffizier stationiert war und es an ansprechender Beratung fehlte.
Entsprechend zurückhaltend reagierte Martini, als ihn der Kurator für den Fall einer Mobilmachung vom Militärdienst freistellen wollte. Nur zögernd gab er seine Zustimmung und verband sie mit einer Kritik an dem Plan, im Kriegsfall eine „Verlegung und Auseinanderreißung“ der Kliniken anzuordnen. Tatsächlich wurde Martini mit Kriegsbeginn eingezogen und fungierte als beratender Internist der IV. Armee. Er visitierte nicht nur Kriegslazarette, sondern stellte in den ersten Kriegswochen umfassende organisatorische Überlegungen an und unterbreitete Verbesserungsvorschläge. So berichtete er aus Bromberg, die Wehrmacht sei dort am 5. September eingerückt, aber erst am 14. September sei durch seine und eines Kollegen Ermittlungen zu Tage gefördert worden, dass seit sechs Wochen in Bromberg eine Ruhrepidemie herrsche. Um die für derartige Erkundungen notwendige Freiheit zu haben, forderte Martini, die Bindung der beratenden Ärzte an die Sanitätsabteilung zu lockern. Schon am 20.10.1939 wurde bei einem Heimataufenthalt Martinis aber bestimmt, dass er in Bonn bleiben und „von hier aus“ neben der Klinik „die benachbarten Lazarette betreuen“ solle. Martinis zeitweilige Militärnähe passt in das Bild eines sich findig um Geld- und Sachmittel bemühenden Klinikchefs. Im Zuge des Schwesterntauschs erreichte er die Anstellung eines Apothekers und nach einiger Zeit die Aufwertung der „Dispensieranstalt“ in eine konzessionierte Apotheke, obwohl die Rechtmäßigkeit großer klinikeigener Dispensieranstalten und Apotheken in Frage stand. Als in seinem Namen der Oberarzt Adolf Heymer im März 1938 beantragte, die Zahl von 2.190 Freibetten um 500 überschreiten zu dürfen, „um die Wirksamkeit einer kochsalzfreien Diät wissenschaftlich klarzustellen“, wurde diesem vorbehaltlos stattgegeben.
Trotz seiner nicht anzuzweifelnden Kompetenz und seinem Verständnis für militärisches Denken war Martini den nationalsozialistischen Ideologen ein Dorn im Auge. Während des Krieges wurden massive Vorwürfe gegen ihn mit dem Ziel erhoben, eine Amtsenthebung zu erreichen. Dies lag wohl vor allem daran, dass Martini immer wieder recht offen seine Anschauungen vertrat und sich um entsprechendes Personal bemühte. In der Medizinischen Klinik arbeiteten während des „Dritten Reichs“ wenigstens 14 Assistenten. Von diesen, so erinnerte sich Martini im April 1945, hätten „mindestens 10 nur mit innerem Widerwillen“ einer Gliederung der Partei angehört. Von den sechs Assistenten, die im „Dritten Reich“ unter Martini die Dozentur erworben haben, sei nur einer Nationalsozialist gewesen, die anderen hätten zwar der NSDAP angehört, diese aber innerlich abgelehnt. Weitere zwei Assistenten lehnten einen Parteieintritt ab und verzichteten auf eine wissenschaftliche Laufbahn.
Einer der Assistenten war Bruno Anton Schuler, der trotz seiner Mitgliedschaft in nationalsozialistischen Gliederungen mit Vertretern des Regimes in Konflikt geriet. Von Schuler ist bezeugt, dass er im Herbst 1942 den bis 1933 als außerordentlicher Professor an der Universität lehrenden jüdischen Chirurgen Adolf Nußbaum (1885-1962) wegen einer Herzerkrankung behandelte. Martini wird davon zweifellos gewusst haben, bemerkenswert ist gleichwohl, dass er nicht selbst die Behandlung des Kollegen übernommen hat. Nußbaum erklärte 1948 zu Schuler: "Er war sehr freundlich gegen mich und hat mich in keiner Weise meine damalige Diffamierung fühlen lassen."
Zum wichtigsten Mitarbeiter Martinis entwickelte sich in den Jahren des „Dritten Reichs“ Adolf Heymer, 1958 sein Nachfolger als Klinikdirektor . Heymer war Martini vom katholischen Berliner Hedwigskrankenhaus nach Bonn gefolgt und der ideale „zweite Mann“. 1946 erinnerte sich Martini: "Seit der sog. Machtübernahme im Jahre 1933 kam es niemals zu einer irgendwie wesentlichen Differenz unserer Anschauungen über die Verwerflichkeit der Ziele des Nationalsozialismus, über die Verlogenheit seiner Methoden, über die schrecklichen Folgen, die die Unfreiheit und die Heuchelei, der er über Deutschland brachte, zur Folge haben mußte. […] Er hat selbst nicht nur gewusst, dass ich dauernd Juden als Patienten behandelte, sondern er hat es selbst ebenso gehalten, obwohl dies bei ihm bei der Exponiertheit seiner Sprechstunde in einer staatlichen Klinik eine Gefahr für ihn war."
In dieser Art urteilte Martini nach dem Ende des NS-Regimes über zahlreiche ihm bekannte Kollegen, ebenso eindeutig positiv wie negativ. Die „Entnazifizierung“, auch „Entnazisierung“ genannt, weckte rasch Zweifel, obwohl selten die Frage nach einer Alternative befriedigend beantwortet werden konnte. Martini resümierte 1948, es seien „von beiden Seiten aus unzählige Fehler gemacht worden“. „Die einen“ seien „unverdient unter die Räder gekommen“, „die anderen“ hätten „eine noch unverdientere Wiederauferstehung erfahren“. Tatsächlich fällte auch Martini Urteile, die heute auf Unverständnis stoßen. So wurde er zu einem Fürsprecher des Direktors der Frauenklinik, Harald Siebke (1899-1964), der Zwangssterilisierungen und Zwangsabtreibungen zu verantworten hatte. In einem anderen Fall – es ging um den Pharmakologen Werner Schulemann (1888-1975) – suchte Martini sogar den Kontakt zur gerade eingesetzten Düsseldorfer Kultusministerin Christine Teusch.
Martinis moralische Position war bei den Besatzungsmächten wie bei der neuen nordrhein-westfälischen Landesregierung unbestritten. Sein Einsatz in enger Kooperation mit Teuschs Vorgänger, dem zeitweiligen Bonner Rektor Heinrich Konen, trug maßgeblich dazu bei, dass die Medizinische Fakultät bereits im Oktober 1945 und bald darauf die gesamte Universität offiziell wieder ihre Arbeit aufnehmen konnten.
Schon am 19.4.1945 hatte er der Militärregierung die Situation an seiner Klinik und die Dilemmata geschildert, vor denen junge Wissenschaftler standen. Recht unverblümt sprach er damals den Alliierten die Berechtigung ab, über „jede Konzession im moralischen Gebiet“ – auch Martini hatte Konzessionen machen müssen – zu urteilen: „Von denen […], die noch nicht die Feuerprobe auf ihre eigene Immunität gegenüber den Druck- und Erpressungsmitteln einer Tyrannis abgelegt haben, haben nur wenige das Recht, von sich zu behaupten, dass sie diese Probe mit Sicherheit besser bestanden hätten. Homo sum, nil humani a me alienum puto“.
Bald darauf, im Juli 1945, verfasste Martini eine neunseitige Denkschrift, in der er auch an die deutschen nichtjüdischen Opfer in den Konzentrationslagern erinnerte und sich gegen die These einer Kollektivschuld wandte. Martini glaubte an die Selbstheilungskräfte, auch an der Universität. Gleichwohl fand er sich auch noch Jahre später nicht damit ab, wenn Lobreden auf Ärzte gehalten wurden, die sich verbrecherischer Methoden bedient hatten. Als der Tübinger Gynäkologe August Mayer (1876-1968) die Forschungen seines Kollegen Hermann Stieve (1886-1952) an den Leichen von zum Tode verurteilten Opfern des NS-Regimes auf einer Ärzteversammlung in Freiburg als „verdienstvoll“ bezeichnete, war er „nahe daran“, vor Ort „zu protestieren“, beschränkte sich jedoch aus „Ehrfurcht und Sympathie“ für Mayer auf eine klare schriftliche Reaktion.
Auch nach den Jahren des Wiederaufbaus – Martini stand zeitweilig der wichtigen Baukommission der Universität vor, fungierte als Dekan und war mitverantwortlich für das neue Klinikgelände auf dem Bonner Venusberg – beschränkte sich der Direktor der Medizinischen Klinik nicht auf seine Tätigkeit als Forscher und Arzt, der immer mehr Politiker in der jungen Bundeshauptstadt behandelte, darunter Konrad Adenauer. Er engagierte sich für die Einrichtung einer ökumenisch nutzbaren Klinikkapelle, wurde Präsident der Deutschen Gesellschaft für Innere Medizin und Rektor der Universität Bonn. Er starb am 8.9.1964 in seinem Jagdhaus in Galenberg in der Eifel. Heute bewahrt eine nach ihm benannte Stiftung sein Andenken und fördert medizinisch-pharmakologischen Nachwuchs.
Nachlass
Medizinhistorisches Institut der Universität Bonn.
Werke (Auswahl)
Die unmittelbare Kranken-Untersuchung. Ärztliches Sehen, Hören und Fühlen, München 1927.
Methodenlehre der therapeutisch-klinischen Forschung, 3. verb. Aufl. Berlin u.a. 1953 (Erstauflage 1932).
Einseitigkeit und Mitte in der Medizin. Rede zum Antritt des Rektorates der Rheinischen Friedrich-Wilhelms-Universität in Bonn am 7. November 1953, Bonn 1954.
Literatur
Forsbach, Ralf, Die Medizinische Fakultät der Universität Bonn im „Dritten Reich“, München 2006.
Schott, Heinz (Hg.), Universitätskliniken und Medizinische Fakultät Bonn 1950–2000. Festschrift zum 50jährigen Jubiläum des Neuanfangs auf dem Venusberg, Bonn 2000.
Online
http-blank://www.paul-martini-stiftung.de. [Online]
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Forsbach, Ralf, Paul Martini, in: Internetportal Rheinische Geschichte, abgerufen unter: https://www.rheinische-geschichte.lvr.de/Persoenlichkeiten/paul-martini/DE-2086/lido/57c9488b69d9a0.01478519 (abgerufen am 06.12.2024)