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Der Radsportler Rudi Altig war ein Wegbereiter des deutschen Profi-Radsports. Viermal wurde er Weltmeister: Dreimal in der Einerverfolgung auf der Bahn und einmal im Straßenrennen der Profis 1966 auf dem Nürburgring – ein Erfolg, der vor ihm nur einem einzigen Deutschen, Heinz Müller (1924-1975) im Jahre 1952, gelungen war und bis 2016 keinem weiteren.
Geboren wurde er am 18.3.1937 als Sohn von Valentin und Christina Altig in Mannheim. In seiner Autobiographie „Die goldenen Speichen“ beschreibt er seine Erinnerungen als Sechsjähriger an die brennende Stadt nach einem Bombenangriff. Während die Mutter mit ihren beiden Söhnen Willi und Rudi in einem Bunker Schutz gesucht hatte, wurde das Haus, in dem die Familie wohnte, komplett zerstört, alle Hausbewohner wurden getötet.
Christina Altig zog mit ihren beiden Söhnen zu den Großeltern nach Bayern auf einen Bauernhof. Während ihres dortigen Aufenthaltes versuchten die beiden Jungen, eine Bank zu zimmern. Dabei hackte Willi, der ältere und eigentlich besonnenere der beiden Brüder, seinem achtjährigen Bruder Rudi versehentlich mit einem Beil den linken Zeigefinger ab, der dann im Krankenhaus – so O-Ton Rudi Altig – „abgezwickt“ wurde. Altig: „Ich lernte bald, den Mittelfinger so zu gebrauchen, wie ich es vorher mit dem Zeigefinger getan hatte.“
Rudi Altigs Vater Valentin war im Werkseinsatz zurück in Mannheim geblieben. Nach dem Krieg fanden die Eltern nicht wieder zusammen, und Altig behielt Zeit seines Lebens ein distanziertes Verhältnis zu seinem Vater.
Von 1951 bis 1954 machte Rudi Altig eine Lehre als Elektriker und interessierte sich zunächst für Fußball. Sein Bruder Willi sparte indessen sein Geld für ein Rennrad, und Rudi folgte schließlich – wie so häufig in seinem Leben – dem Vorbild des Älteren. 1951 bestritt er sein erstes Jugendrennen und wurde 1953 deutscher Straßenmeister der Junioren.
Am 27.9.1956 verunglückte Christina Altig tödlich bei einem Unfall mit dem ersten eigenen Auto. Aus Schock über ihren Tod hörten die Brüder zunächst mit dem Radsport auf, ließen sich jedoch umstimmen. Zur Erinnerung an ihre Mutter trugen sie schwarze Trikots, auf deren Rückseiten die Namen „Willi“ und „Rudi“ standen. Bis 1959 errang er bei den Amateuren vier deutsche Meistertitel auf der Bahn: 1957 Sprint, 1958 und 1959 Zweier-Mannschaftsfahren mit Willi Altig und 1959 die Einerverfolgung über 4.000 Meter.
Seinen ersten Weltmeister-Sieg errang Altig 1959 in Amsterdam. Dort bestritt er das Finale um Gold in der Einerverfolgung gegen den Italiener Mario Vallotto (1933-1966) – in der Qualifikation war er Bestzeit gefahren. In der letzten Runde des Finalrennens hatte er, in Führung liegend, einen Reifendefekt, und das Rennen wurde abgeschossen. Altig wurde trotzdem Weltmeister, da der Stand bei 3.000 Metern maßgeblich war. Wenig später stellte er Weltrekorde über 1.000 und 5.000 Meter auf. Betreut wurde der Sportler zu dieser Zeit von dem Mannheimer Karl Ziegler (geboren 1919), der Altig mit Yoga und Trennkost bekannt machte.
Anschließend trat Rudi Altig zu den Profis über. Zum Jahreswechsel 1959/1960 gab er sein Debüt als Partner von Rik Van Steenbergen (1924-2003) beim Sechstagerennen in Köln.
Die folgenden zehn Jahre verliefen erfolgreich. Zunächst wiederholte Altig 1960 und 1961 seinen WM-Erfolg in der Einerverfolgung, jetzt bei den Profis. 1962 erhielt er einen Vertrag bei dem französischen Rennstall Saint-Raphael-Helyett-Hutchinson, für den auch die französischen Stars Jacques Anquetil (1934-1987) und Roger Rivière (1936-1976) fuhren. Er starte zunehmend bei Straßenrennen und gewann auf Anhieb die „Vuelta a España“. Bei der Straßenweltmeisterschaft im selben Jahr wurde er jedoch disqualifiziert, weil er nach einem Sturz zur Kühlung seiner Wunde einen Schwamm von einem Zuschauer entgegengenommen hatte.
Der größte Erfolg seiner Laufbahn folgte 1966 mit seinem Sieg bei der Straßenweltmeisterschaft auf dem Nürburgring, bei der von 74 Startern lediglich 22 ins Ziel kamen, Altig als einziger Deutscher. In brütender Hitze holte er sich vor 10.000 Zuschauern auf dem schweren Kurs in der Eifel das Regenbogen-Trikot vor Anquetil und Raimond Poulidor (1936-2019).
Im Laufe seiner Karriere starte Altig zudem bei insgesamt 81 Sechstagerennen, von denen er 23 gewann; unter seinen Partnern waren Hennes Junkermann (geboren 1934), Dieter Kemper (1937-2018), Sigi Renz (geboren 1938) und Patrick Sercu (1933-2019). Sein letztes Sechstagerennen gewann er 1971 mit Albert Fritz (1947-2019) in Bremen. Anschließend beendete er seine aktive Laufbahn. Willi Altig hatte schon 1968 mit dem Radsport aufgehört und in Mannheim ein Fahrradgeschäft eröffnet.
Rudi Altig war ein Wegbereiter des deutschen Profi-Radsports. Er war der erste Deutsche nach dem Zweiten Weltkrieg, der eine Etappe der „Tour de France“ gewann, der erste Deutsche, der das Gelbe sowie das Grüne Trikot bei der Tour eroberte, und ebenso der erste Deutsche, der einen „Klassiker“ gewann, die „Flandern-Rundfahrt“ 1964. Auch sein Sieg 1968 bei seinem „Lieblingsrennen“ „Mailand-Sanremo“ war der erste eines deutschen Fahrers.
Altig war ein Kämpfertyp, kraftvoll, entschlossen und draufgängerisch. Radsport-Autor Udo Witte: „Rudi ging stets bis an seine Leistungsgrenze und oft darüber hinaus. Diese Einstellung ließ ihn in der deutschen Öffentlichkeit zu einem der beliebtesten Sportler werden.“ Nicht nur in der deutschen: Die französischen Radsportfans nannten ihn anerkennend „Sacre Rudi“ („verdammter Rudi“). 1966 wurde Altig zu Deutschlands Sportler des Jahres gekürt und mit dem Silbernen Lorbeerblatt ausgezeichnet, 1992 erhielt er das Bundesverdienstkreuz am Bande – nur einige Ehrungen unter vielen weiteren. 2012 wurde die Radrennbahn von Altigs Heimatverein, dem „RRC Mannheim“, in „Rudi und Willi Altig Radstadion“ benannt.
Auch nach seinem Rücktritt als Aktiver blieb der weiterhin gut trainierte Rudi Altig dem Radsport verbunden, dem „roten Faden in meinem Leben. Den schneide ich, solange ich lebe, nicht durch“, wenn er auch zuletzt eher dem Golfsport frönte. So war er nach dem Ende seiner eigenen aktiven Laufbahn ab 1971 – wenn auch wenig erfolgreich – Nationaltrainer der deutschen Amateure (angeblich auf persönlichen Wunsch von Bundeskanzler Willy Brandt) und betreute die deutschen Radsportler bei den Olympischen Spielen 1972 in München. Er war Rennleiter bei verschiedenen Radrennen (darunter „Rund um Köln“, „Rund um den Henninger Turm“ und die „Niedersachsen-Rundfahrt“), ein Jahr lang Sportlicher Leiter des Profiteams „Puch“ und ab 1975 für rund 25 Jahre technischer Berater des Fahrradherstellers „Schauff“ in Remagen. Der Plan, gemeinsam mit Eddy Merckx (geboren 1945) einen Rennstall zu gründen, scheiterte allerdings. In den 1990er und 2000er Jahren war Altig als Co-Kommentator bei den Fernsehsendern Eurosport und der ARD zu sehen und zu hören.
Altigs Haltung zum Thema Doping war umstritten: „Ich bin kein Sportler, ich bin Profi“, so sein Standpunkt. 1966 entzog er sich bei der „Flèche Wallonne“ einer Kontrolle, und 1969 wurde er bei der „Tour de France“ des Dopings überführt. Er selbst erzählte, wie er zu seinem Spitznamen „radelnde Apotheke“ kam: „Bei einer Doping-Kontrolle zählte ich auf Nachfrage alle Medikamente auf, die ich angeblich intus hatte. Das war als Witz gedacht. Der Mediziner staunte, notierte und reichte den Zettel an die Journalisten weiter. So war das.“ Eigene Doping-Praxis leugnete Altig nicht („Durabolin, Pervitin“), das sei jedoch „Kleinkram“ gewesen: „Ich weiß, was ich konnte und wie viele Rennen ich gewonnen habe, ohne etwas genommen zu haben – darunter 1968 mein Lieblingsrennen Mailand- San-Remo.“
1994 musste Altig nach einer Krebsdiagnose der Magen entfernt werden. Einen Zusammenhang mit seiner Dopingpraxis mochte er darin nicht sehen, auch wenn sein ehemaliger Mannschaftskamerad Jacques Anquetil 1987 an Magenkrebs gestorben war.
Rudi Altig war zweimal verheiratet; während seiner ersten Ehe lebte er im bergischen Eikamp. Ab 1976 wohnte er mit seiner zweiten Ehefrau Monique wegen der Nähe zum Schauff-Werk in Sinzig; er hatte drei Kinder. Altig starb am 11.6.2016 in einem Hospiz in Remagen im Alter von 79 Jahren an den Folgen eines erneuten Krebsleidens. Die Tageszeitung „Die Welt“ __titelte: „Deutschlands größter Radsportler ist tot“. Am 18.3.2018 wurde in seiner späteren Heimatstadt Sinzig eine ihm zu Ehren errichtete Steinskulptur enthüllt.
Quellen
Interview mit Monique Altig.
Interview mit Jan Schauff.
Autobiographie
Die goldenen Speichen, München 1967.
Literatur
Boelsen, Helmer, Die Geschichte der Rad-Weltmeisterschaften, Bielefeld 2007.
Boelsen, Helmer, Unter Engeln und Kannibalen. Die schönsten Geschichten aus 55 Jahren Radsportjournalismus, Bielefeld 2003.
Durst, Sigmund, Rudi Altig. Der Weg eines Weltmeisters, Frankfurt am Main 1960.
Radsport. Amtliches Organ des BDR e.V., verschiedene Jahrgänge. Witte, Udo, Campionissimo, Monsieur Chrono, Kannibale & Co. Profi-Straßenradrennen nach 1945, Band 2: 1960-1975, Norderstedt 2015.
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Franz, Renate, Rudi Altig, in: Internetportal Rheinische Geschichte, abgerufen unter: https://www.rheinische-geschichte.lvr.de/Persoenlichkeiten/rudi-altig-/DE-2086/lido/5afc238e09ae83.32285552 (abgerufen am 06.12.2024)