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Thomas Nipperdey war ein deutscher Historiker des 20. Jahrhunderts, der mit wegweisenden Forschungen zur Geschichte des langen 19. und des 20. Jahrhunderts sowie des Bürgertums hervorgetreten ist. Er gehörte zu den einflussreichsten und bedeutendsten Geschichtsschreibern seiner Zeit.
Thomas Nipperdey wurde am 27.10.1927 als dritter Sohn von Hildegard (1903-1990) (geborene Eißer) und Hans Carl (1895-1968) Nipperdey in Köln geboren und verbrachte die ersten 30 Jahre seines Lebens im katholischen Rheinland. Seine Eltern, gebürtig aus dem Elsaß und aus Thüringen, waren 1925 nach Köln gezogen, weil sein Vater, der spätere erste Präsident des Bundesarbeitsgerichts, als Nachfolger von Heinrich Mitteis (1889-1952) einen Ruf an die dortige Universität angenommen hatte. Seine Schwester war die spätere evangelische Theologin Dorothee Sölle.
Die Familie fühlte sich wohl in Köln, als „protestantische Zuwanderer“ blieben sie dennoch „immer ein wenig fremd am Ort“. Thomas Nipperdey hat seine „bürgerliche Jugend“ in einer autobiographischen Rede sehr anschaulich beschrieben und beurteilt (in: Der Aquädukt: 1763-1988). Er erinnerte sich an ein typisch bildungsbürgerliches Elternhaus, das „von Fragen und Reden und Reflektieren geprägt“ war, an einen einseitigen Bildungskanon zu Lasten der Naturwissenschaften, der Technik und des Sports, und an einen Erziehungsstil, der sich „an der Norm der Sparsamkeit und Bescheidenheit“, sowie „der Verachtung der Verschwendung“ orientierte. „Ich kenne“, schrieb Nipperdey, aus eigener Erfahrung „die Sünden und Gefahren der deutschen Bürger, und der Bildungsbürger zumal. Aber die Perspektive, die sie auf dem Weg in die Katastrophe sieht, teile ich nicht.“
Sein Studium der Philosophie und Geschichte in Köln, Göttingen und Cambridge schloss Nipperdey mit dem Staatsexamen in Köln ab. Mit einer Dissertation über „Positivität und Christentum in Hegels Jugendschriften“ bei Bruno Liebrucks (1911-1986) wurde er 1953 dort auch zum Doktor der Philosophie promoviert. Über seine Eltern und durch gelegentliches gemeinsames Cello-Spiel kannte er den Historiker Theodor Schieder, der ihn mit einem Stipendium der "Kommission für Geschichte des Parlamentarismus und der politischen Parteien" auf den Weg der Geschichtsschreibung lockte. 1961 habilitierte Nipperdey sich in Göttingen mit einer Arbeit über „Die Organisation der deutschen Parteien vor 1918“. Seine akademische Karriere führte ihn dann über Gießen, Karlsruhe und Berlin schließlich auf den Lehrstuhl Franz Schnabels (1887-1966) nach München (1971-1992). In den 1970er und 1980er Jahren wurde er viermal zu Gastprofessuren und Forschungsaufenthalten nach Oxford, Stanford und Princeton eingeladen.
Thomas Nipperdeys Interesse und seine Neugier galten dem Sinn und der Bedeutung von Geschichte, und er verstand Geschichte als „histoire totale“. Er wollte „eine die Totalität der Lebenswelten umgreifende Geschichte“ bieten (Deutsche Geschichte 1866-1918, Band 1, S. 837). Das Verstehen der Vorgänger - „nach ihren Normen und nicht nach unserer Weisheit“ (Nachdenken über die deutsche Geschichte, S. 21) - war ihm dabei unverzichtbar, nur so glaubte er die eigene, begrenzte Erfahrung erweitern zu können. Das Ganze des Lebens erschloss sich ihm nur in der Fülle. „Die Phänomene der menschlichen Welt können nur in der wechselseitigen Beziehung aller Teilbereiche einer ‚Kultur’ … begriffen werden.“ (Deutsche Geschichte 1800-1866, S. 501) .
Die Aufgabe des Historikers bestand für ihn darin, ein gerechtes Urteil über die Vergangenheit zu ermöglichen, die jeweilige Vergangenheit an die Gegenwart heranzuführen, die jeweilige Gegenwart über ihre Entstehungs- und Existenzbedingungen aufzuklären und die Zukunft vor ideologischen Festlegungen zu bewahren. „Die Wahrheit ist das Ganze.“ und: „Das Ganze bedarf der Geduld.“ (Deutsche Geschichte 1866-1918, Band 1, S. 838).
Bis Mitte der 1970er Jahre legte Nipperdey eine ganze Reihe innovativer Aufsätze vor, in denen er - methodisch und thematisch - Neuland betreten und gedanklich souverän erschlossen hat. Die Wahl seiner „modernen“ Themen wurde dabei nicht dem Zufall überlassen. „Interessenverbände und Parteien“ (1961) beispielsweise untersuchte er parallel zu der Entstehung des Parteienstaates der frühen Bundesrepublik; seine Aufsätze über die „Funktion der Utopie“ (1962) und „Theologie und Revolution“ (1963) spiegelten aktuelle ideologische Glaubenskriege dieser Jahre am historischen Beispiel; sein Aufsatz über „die anthropologische Dimension der Geschichtswissenschaft“ (1973) erschien, als die modische Aufmerksamkeit sich auf die viel kleineren Dimensionen der Alltagsforschung richtete; „Verein als soziale Struktur“ (1972) und „Wozu noch Historie?“ (1975) erwuchsen ebenfalls aus aktuellen gesellschafts- und wissenschaftspolitischen Anlässen. Nipperdey besetzte damit wichtige Themen und bestimmte das Niveau der Diskussion. Seine Entwürfe basierten selten auf Archivstudien; wie kaum ein anderer war er aber in der Lage, unbeachtet gebliebene Methoden und Ergebnisse aus den verschiedensten Nachbarwissenschaften in seine Überlegungen aufzunehmen, zu neuen Einsichten zu bündeln und dadurch seinerseits zahlreiche Archivstudien anzuregen.
Der engagierte Streit um das „Deutsche Kaiserreich“, auf den sich Nipperdey ab 1975 mit Hans-Ulrich Wehler einließ - veröffentlicht in Nummer 1 von Wehlers neu gegründeter Zeitschrift „Geschichte und Gesellschaft“ -, zeigte, dass er sich mit einer „problemorientierten historischen Strukturanalyse“ (Klappentext der Originalausgabe von Hans-Ulrich Wehler, Das deutsche Kaiserreich 1871-1918, 1973) allein nicht bescheiden wollte und im Kaiserreich mehr entdeckte als nur die Vorgeschichte der Jahre 1933-1945. Die auch für ihn unstrittig vorhandenen vormodernen, autoritären Anteile prägten nur einen Ausschnitt. „Auch andere Kontinuitäten knüpften an jene Zeit an, die von Weimar und die der Bundesrepublik, die der großen sozialen und kulturellen Wandlungen unseres Jahrhunderts überhaupt.“ (Deutsche Geschichte 1866-1918, Band 1, S. 837). Um der Gerechtigkeit im Urteil über die Großväter willen setzte Nipperdey „gegen unseren Eigensinn und unser moralisierendes Besserwissen“ (in: Die Welt, 28.2.1987) auf das Prinzip Skepsis und verlangte auch die Ambivalenzen jeder Wirklichkeit zu berücksichtigen, die unlösbaren Widersprüche, die Abhängigkeiten und brüchigen Sicherheiten. „Wir können die Leser nur allgemein warnen, sich nicht dem Schein eines Soges von Notwendigkeit der Strukturen und Prozesse hinzugeben.“ Es geht darum, „die Offenheit aller Situationen im Bewusstsein zu halten.“ (Deutsche Geschichte 1866-1918, Band 2, S. 418).
„Gegen alle Absolutheitsansprüche technischer oder ideologischer Art“ hält die Geschichtswissenschaft „die Zukunft offen, sie stabilisiert das Bewusstsein unserer Pluralität, unserer Endlichkeit, unserer Freiheit.“ (Hermann Rudolph, „Vergangenen Generationen die Fülle der Zukunft zurückgeben”. Zum Tod des Historikers Thomas Nipperdey in: Der Tagesspiegel, 17.6.1992. Inhaltlich ähnlich: Nipperdey, Kann Geschichte objektiv sein? In: Thomas Nipperdey, Nachdenken über die deutsche Geschichte, S. 283). Die Welt funktionierte in seinem Verständnis nicht als geplantes, geschlossenes System, sie war Geschichte, so geworden, wie sie war, aber es hätte auch anders kommen können.
Nipperdey wollte Geschichte erzählen und er wollte viele Geschichten erzählen. Seine Zuhörer und Leser sollten merken können, dass aller theoriebewussten Reflexion zum Trotz Klio eine Muse ist, Geschichte eigentlich eine Kunst, „zu deren großen Repräsentanten“ national wie international er schließlich „gehörte und auf Dauer gehört“ (Lothar Gall , Die Gegenwart der Vergangenheit. Zum Lebenswerk von Thomas Nipperdey, in: Historische Zeitschrift 256 (1993), S. 297- 308).
An seinem Lebenswerk, der umfassenden „Deutschen Geschichte 1800-1918“, die 1983, 1990 und 1992 in drei Bänden erschienen ist, arbeitete Nipperdey seit Mitte der 1970er Jahre und buchstäblich bis in seine letzten Stunden im Sommer 1992, zuletzt im Wettlauf mit seiner unheilbaren Krebserkrankung. Für Lothar Gall ist daraus „Geschichtsschreibung großen Stils“ (Zwischen Revolution und der Gründung des Reiches, Frankfurter Allgemeine Zeitung, 22.11.1983) geworden und gleichzeitig „auch eine Ortsbestimmung der Gegenwart, wie sie … substantieller, differenzierter und zugleich nachdenklicher kaum gedacht werden kann.“ (Lothar Gall, Inmitten der Geschichte. Bürgertum und Nationalstaat: Erinnerung an Thomas Nipperdey, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 17.6.1992). Die perfekte Umsetzung seiner formalen und inhaltlichen Ansprüche an moderne Geschichtsschreibung nötigte selbst seinen schärfsten Kritikern hohe Anerkennung ab.
Am Beispiel Theodor Schieders, Hermann Heimpels (1901-1988) und Werner Conzes (1910-1986) orientiert, wusste Nipperdey um die Notwendigkeit, Wissenschaft und Forschung zu organisieren, über den Verband der Historiker die Interessen der Zunft öffentlich zu vertreten und Einfluss zu nehmen. Sein Engagement auf dem Höhepunkt der Auseinandersetzungen an der Freien Universität Berlin 1967-1972, die der Dekan Nipperdey als Kampf der Universität um ihre Existenz erlebte, machte ihn zu einem homo politicus. In einem Brief an den Senator für Wissenschaft und Kunst Professor Stein am 31.10.1971 formulierte er: „Als Angehöriger der ehemals ‚freien’ Universität, als Bürger dieser Stadt, als engagiertes Mitglied der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands, verlasse ich Berlin mit Schmerz, mit Trauer, mit Zorn. Die Verantwortlichen haben die Stunde nicht begriffen.“ (abgedruckt in: Die Welt Nr. 261, 9.11.1971, S. 3).
Die SPD verlies er 1984 in der Auseinandersetzung über den Nachrüstungsbeschluss wieder. Angriffe auf seine Person bis hin zu Morddrohungen und Farbeierattacken bestärkten ihn in der Auffassung, dass es neben Zeiten des Verstehens auch Zeiten des Widerstehens gibt. In der festen Überzeugung, dass Konflikt nicht die einzige Wahrheit der Gesellschaft sein dürfe, beteiligte er sich 1969 an der Gründung der Notgemeinschaft Freie Universität, war 1973-1980 Mitgründer und zeitweise 1. Vorsitzender des „Bundes Freiheit der Wissenschaft“ und trug mit einem Gutachten für den Hessischen Elternverein dazu bei, dass die „emanzipatorischen“ Rahmenrichtlinien für Gesellschaftslehre verhindert werden konnten.
Nipperdey wurde für sein wissenschaftliches Werk und sein gesellschaftliches Engagement mehrfach hoch ausgezeichnet und fühlte sich dadurch auch geehrt. „Ich bin nicht süchtig nach öffentlichen Ehren“, schrieb er zur Verleihung des Bundesverdienstkreuzes, „aber ich bin unserem Staat gegenüber doch nicht nur so loyal, sondern auch so positiv, dass ich mich über eine bürgerliche Ehre freue.“ (Thomas Nipperdey in einem Brief an den Verfasser vom 22.11.1987).
Werke
Die Organisation der deutschen Parteien vor 1918,
Reformation, Revolution, Utopie: Studien zum 16. Jahrhundert, Göttingen 1975.
Gesellschaft, Kultur, Theorie. Gesammelte Aufsätze zur neueren Geschichte, Göttingen 1976.
Deutsche Geschichte: 1800 - 1866. Bürgerwelt und starker Staat, München 1983.
Nachdenken über die deutsche Geschichte. Essays, München 1986.
Wie das Bürgertum die Moderne fand, Berlin 1988.
Eine bürgerliche Jugend (1927-1945), in: Der Aquädukt: 1763-1988, ein Almanach aus dem Verlag C. H. Beck im 225. Jahr seines Bestehens, München 1988, S. 126-143.
Deutsche Geschichte: 1866-1918. Erster Band: Arbeitswelt und Bürgergeist, München 1990; Zweiter Band: Machtstaat vor der Demokratie, München 1992.
Gedenkschrift, Schriftenverzeichnis
Hardtwig, Wolfgang/Brandt, Harm-Hinrich (Hg.), Deutschlands Weg in die Moderne. Politik, Gesellschaft und Kultur im 19. Jahrhundert. Gedenkschrift Thomas Nipperdey, München 1993.
Holzbauer, Hermann (Hg.), Thomas Nipperdey. Bibliographie seiner Veröffentlichungen 1953-1992, München 1993.
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Hummel, Karl-Joseph, Thomas Nipperdey, in: Internetportal Rheinische Geschichte, abgerufen unter: https://www.rheinische-geschichte.lvr.de/Persoenlichkeiten/thomas-nipperdey/DE-2086/lido/57c954c570aaa0.17822215 (abgerufen am 05.12.2024)