Walter Scheel

Liberaler Politiker, Bundesminister, Bundespräsident (1919-2016)

Jürgen Frölich (Gummersbach/Bonn)

Porträtfoto Walter Scheel als Bundespräsident, 1974. (Bundesarchiv, Bild 146-1989-047-20 / CC-BY-SA 3.0)

Wal­ter Scheel war der ers­te aus dem Rhein­land stam­men­de In­ha­ber des höchs­ten Staats­am­tes in der Bun­des­re­pu­blik Deutsch­land. Vor sei­ner Wahl zum Bun­des­prä­si­den­ten im Mai 1974 hat­te Scheel als Par­la­men­ta­ri­er der Frei­en De­mo­kra­ti­schen Par­tei (FDP) und als Bun­des­mi­nis­ter gro­ßen An­teil an zen­tra­len in­nen- und au­ßen­po­li­ti­schen Wei­chen­stel­lun­gen in der Bun­des­po­li­tik seit Mit­te der 1950er Jah­re ge­habt.

Ge­bo­ren wur­de er am 8.7.1919 im Ber­gi­schen Land, in Höh­scheid (heu­te Stadt So­lin­gen). Der Va­ter Al­brecht (1883-1953) war aus dem nörd­li­chen Wes­ter­wald, wo sei­ne Fa­mi­lie seit dem 18. Jahr­hun­dert an­säs­sig war und lo­ka­le Ho­no­ra­tio­ren ge­stellt hat­te, zu­ge­wan­dert und ar­bei­te­te als Stell­ma­cher/Wa­gen­bau­er, die Mut­ter He­le­ne, ge­bo­re­ne Geff­cken, stamm­te aus So­lin­gen. Bei­de wa­ren der evan­ge­li­schen Kir­che eng ver­bun­den. Der Sohn be­such­te das So­lin­ger Re­form-Re­al­gym­na­si­um (heu­te Gym­na­si­um Schwert­stras­se) und ab­sol­vier­te nach dem Ab­itur 1938 ei­ne Leh­re bei der ört­li­chen Volks­bank. Das ge­plan­te Wirt­schafts­stu­di­um wur­de da­durch ver­hin­dert, dass Scheel we­ni­ge Ta­ge nach Be­ginn des Zwei­ten Welt­krie­ges zur Luft­waf­fe ein­ge­zo­gen wur­de. Zu­nächst mach­te er den Land­krieg im Wes­ten und Os­ten mit, flog dann Ein­sät­ze als in den Nie­der­lan­den sta­tio­nier­ter Nacht­jä­ger, ehe er bei Kriegs­en­de im Ran­ge ei­nes Ober­leut­nants für kur­ze Zeit in bri­ti­sche Kriegs­ge­fan­gen­schaft kam.

 

Noch wäh­rend des Krie­ges hat­te er 1942 sei­ne Ju­gend­lie­be Eva, ge­bo­re­ne Kro­nen­berg (1922-1966) ge­hei­ra­tet; aus der Ehe ging ein Sohn her­vor. Durch den frü­hen Tod der ers­ten Ehe­frau be­kam Wal­ter Scheels Fa­mi­li­en­le­ben in sei­ner Zeit als Bun­des­au­ßen­mi­nis­ter und Bun­des­prä­si­dent ei­nen für die da­ma­li­ge Zeit un­ge­wöhn­li­chen Patch­work-Cha­rak­ter: Sei­ne zwei­te Ehe­frau, die Ärz­tin Mild­red Wirtz brach­te in die 1969 ge­schlos­se­ne Ehe ei­ne Toch­ter aus ei­ner frü­he­ren Be­zie­hung ein; zu­dem hat­ten bei­de ei­ne ge­mein­sa­me Toch­ter und ad­op­tier­ten noch ei­nen Wai­sen­jun­gen aus Bo­li­vi­en, so dass Scheel als ers­ter Bun­des­prä­si­dent mit klei­nen Kin­dern in der Vil­la Ham­mer­schmidt re­si­dier­te. 1988 ging Scheel schlie­ß­lich ei­ne drit­te Ehe mit der Phy­sio­the­ra­peu­tin Bar­ba­ra Wie­se (ge­bo­ren 1941) ein.

Die ers­te Ehe be­deu­te­te für Scheel ei­nen ge­sell­schaft­li­chen Auf­stieg; sein Schwie­ger­va­ter war In­ha­ber ei­ner mit­tel­stän­di­schen Ra­sier­klin­gen­fir­ma, in de­ren Ge­schäfts­füh­rung er nach sei­ner Rück­kehr aus dem Krie­ge ein­stieg. Gleich­zei­tig en­ga­gier­te er sich in dem da­zu­ge­hö­ri­gen in­dus­tri­el­len In­ter­es­sen­ver­band, wes­halb ihm ver­schie­de­ne Par­tei­en aus­sichts­rei­che Kan­di­da­tu­ren an­bo­ten. Teils aus kon­fes­sio­nel­len Grün­den, teils we­gen per­sön­li­cher Sym­pa­thi­en ent­schied sich Scheel 1946 für die Frei­en De­mo­kra­ten, für die er zwei Jah­re spä­ter mit ei­nem Stim­men­an­teil von über 20 Pro­zent in den So­lin­ger Stadt­rat ge­wählt wur­de. 1950 ge­wann er in Rem­scheid für die Par­tei ein Di­rekt­man­dat für den Land­tag, dort fun­gier­te er als wirt­schafts­po­li­ti­scher Spre­cher sei­ner Frak­ti­on.

Mildred Scheel, Porträtfoto. (Dr. Mildred Scheel Stiftung / Deutsche Krebshilfe e.V.)

 

Im Jahr 1953 mach­te Scheel so­wohl be­ruf­lich als auch po­li­tisch je­weils ei­nen Kar­rie­re­sprung: Als Mit­be­grün­der und Ge­schäfts­füh­rer ei­nes Markt- und Mei­nungs­for­schungs­un­ter­neh­mens wech­sel­te er von So­lin­gen in die Lan­des­haupt­stadt Düs­sel­dorf. Die­se so­wie ei­ne wei­te­re un­ter­neh­me­ri­schen Ak­ti­vi­tät im Be­reich der Un­ter­neh­mens­be­tei­li­gung mach­ten ihn wohl­ha­bend. 1953 wur­de er über die Lan­des­lis­te (Platz 9) sei­ner Par­tei auch erst­mals in den Bun­des­tag ge­wählt. Dort galt er als Fach­mann für wirt­schaft­li­che Fra­gen, un­ter­schied sich al­ler­dings durch ei­ne de­zi­diert pro-eu­ro­päi­sche Hal­tung von der gro­ßen Mehr­heit sei­ner Frak­ti­ons­kol­le­gen: Im Ge­gen­satz zu die­ser un­ter­stütz­te Scheel die „Rö­mi­schen Ver­trä­ge“, die zur Grün­dung der Eu­ro­päi­schen Wirt­schafts­ge­mein­schaft führ­ten. Ent­spre­chend hat­te er sich schon 1955 in die Vor­läu­fer­ver­samm­lung des Eu­ro­päi­schen Par­la­ments ent­sen­den las­sen, dem er dann auch von 1958 bis 1961 an­ge­hör­te. In we­ni­ger als ei­nem Jahr­zehnt hat­te Scheel so­mit ei­ne par­la­men­ta­ri­sche Kar­rie­re ab­sol­viert, die al­le Ebe­nen von der kom­mu­na­len bis zur eu­ro­päi­schen durch­lau­fen hat­te.

In­nen­po­li­tisch war er erst­mals 1956 mit sei­nem Rück­halt für die Düs­sel­dor­fer „Jung­tür­ken“ her­vor­ge­tre­ten. Jün­ge­re nord­rhein-west­fä­li­sche Li­be­ra­le be­trie­ben ei­nen Ko­ali­ti­ons­wech­sel im grö­ß­ten Bun­des­land, um da­mit auf Bun­des­ebe­ne das für die FDP be­droh­li­che Gra­ben­wahl­recht zu ver­hin­dern, mit dem Kanz­ler Kon­rad Ade­nau­er s­ei­nen bis­he­ri­gen Ko­ali­ti­ons­part­ner in Bonn zu dis­zi­pli­nie­ren such­te. Fol­ge die­ser Ak­ti­on war nicht nur der Re­gie­rungs­wech­sel in Düs­sel­dorf von ei­nem CDU-FDP-Ka­bi­nett un­ter Karl Ar­nold zur so­zi­al-li­be­ra­len Re­gie­rung von Fritz Stein­hoff (1897-1969, Mi­nis­ter­prä­si­dent 1956-1958), son­dern auch das Aus­schei­den der FDP aus der Bun­des­re­gie­rung.

Ob­wohl die Kar­rie­re­chan­cen in Düs­sel­dorf kurz­fris­tig güns­ti­ger schie­nen, be­hielt Scheel da­nach sei­nen Schwer­punkt in der Bun­des­po­li­tik bei, zu­mal er jetzt auch dem Bun­des­vor­stand sei­ner Par­tei an­ge­hör­te. Er spe­zia­li­sier­te sich zu­sätz­lich auf ent­wick­lungs­po­li­ti­sche Fra­gen und for­der­te die Er­rich­tung ei­nes ent­spre­chen­den Mi­nis­te­ri­ums. Als 1961 nach dem Wahl­sieg der FDP Kanz­ler Ade­nau­er auf ei­ne Ko­ali­ti­on mit die­ser an­ge­wie­sen war, wur­de Scheel ers­ter Bun­des­mi­nis­ter für wirt­schaft­li­che Be­zie­hun­gen, was al­ler­dings mit ei­ner Ent­frem­dung zu Wirt­schafts­mi­nis­ter Lud­wig Er­hard (1897-1977) ein­her ging, der et­li­che Kom­pe­ten­zen und Ab­tei­lun­gen an das neue Mi­nis­te­ri­um hat­te ab­ge­ben müs­sen. Doch auch nach dem Kanz­ler­wech­sel von Ade­nau­er zu Er­hard 1963 be­hielt Scheel den Pos­ten und war da­mit der ein­zi­ge li­be­ra­le Mi­nis­ter, der durch­gän­gig wäh­rend der christ­lich-li­be­ra­len Ko­ali­tio­nen von 1961 bis 1966 am­tier­te.

Wie Scheel schon 1962 im Zu­ge der Spie­gel-Af­fä­re den Kanz­ler-Rück­tritt for­ciert hat­te, so hat­te er auch 1966 ent­schei­den­den An­teil am En­de der Re­gie­rung Er­hard (Bun­des­kanz­ler 1963-1966). Denn als sich die Ko­ali­ti­ons­part­ner nicht über die Kon­so­li­die­rung des Haus­halts ei­ni­gen konn­ten, drang er wie an­de­re jün­ge­re Frei­de­mo­kra­ten dar­auf, bei der Ab­leh­nung von Steu­er­er­hö­hun­gen hart zu blei­ben und not­falls aus der Re­gie­rung aus­zu­schei­den. Da­mit ging sei­ne Par­tei das Ri­si­ko ein, sich in der Op­po­si­ti­on wie­der­zu­fin­den, wie es dann auch ein­trat, als sich CDU und SPD auf ei­ne Gro­ße Ko­ali­ti­on un­ter Kurt-Ge­org Kie­sin­ger (1904-1988, Bun­des­kanz­ler 1966-1969) ei­nig­ten.

Für die FDP be­deu­te­ten die un­ge­wohn­ten Op­po­si­ti­on-Jah­re von 1967 bis 1969 ei­ne Pha­se der Neu­ori­en­tie­rung, wo­für Wal­ter Scheel zur Sym­bol­fi­gur wur­de, als er An­fang 1968 den Par­tei­vor­sitz über­nahm. Wie­wohl er sich selbst kei­nes­wegs als Links­li­be­ra­len sah, wur­de die­se Wahl all­ge­mein als das En­de der „na­tio­nal­li­be­ra­len“ FDP und ein Auf­bruch zu ei­ner neu­en, eher so­zi­al-li­be­ra­len Neu­aus­rich­tung in­ter­pre­tiert. Scheel, der im Bun­des­tag nicht den Frak­ti­ons­vor­sitz er­griff, son­dern als Vi­ze­prä­si­dent am­tier­te, setz­te in der Fol­ge­zeit vor al­lem aus stra­te­gi­schen Er­wä­gun­gen ent­spre­chen­de Si­gna­le, die die­sen Ein­druck ver­stärk­ten. Ganz deut­lich wur­de dies bei der im März 1969 an­ste­hen­den Bun­des­prä­si­den­ten­wahl, wo er – nicht oh­ne Ri­si­ko – für den SPD-Kan­di­da­ten Gus­tav Hei­nemann ein­trat und schlie­ß­lich ge­nü­gend frei­de­mo­kra­ti­sche Mit­glie­der der Bun­des­ver­samm­lung da­zu brach­te, Hei­nemann zu wäh­len.

Um sei­ner Par­tei ei­ne wei­te­re Zer­rei­ß­pro­be zu er­spa­ren, ver­mied Scheel in der Fol­ge­zeit ei­ne ein­deu­ti­ge Ko­ali­ti­ons­aus­sa­ge der FDP für die Bun­des­tags­wahl im fol­gen­den Sep­tem­ber, um we­ni­ge Ta­ge vor dem Wahl­ter­min sei­ne ei­ge­ne Prä­fe­renz für ein Zu­sam­men­ge­hen mit der SPD öf­fent­lich zu be­kun­den. Als die FDP ge­schwächt in den Bun­des­tag zu­rück­kehr­te, das Wahl­er­geb­nis ei­ne ent­spre­chen­de Mehr­heit aber her­gab, ver­ab­re­de­te er schnell mit dem SPD-Vor­sit­zen­den Wil­ly Brandt (1913-1992, Bun­des­kanz­ler 1969-1974) ei­ne ge­mein­sa­me Re­gie­rungs­bil­dung, ge­gen die in bei­den Par­tei­en er­heb­li­che Wi­der­stän­de exis­tier­ten. Un­ter dem ers­ten so­zi­al­de­mo­kra­ti­schen Kanz­ler seit 1930 über­nahm Scheel, dem vie­le Par­tei­freun­de zum Wirt­schafts­mi­nis­te­ri­um rie­ten, die Lei­tung des Aus­wär­ti­gen Am­tes, au­ßer­dem die Vi­ze­kanz­ler­schaft. Un­ter sei­ner Füh­rung er­reich­te die FDP 1969 zwar ihr schlech­tes­tes Bun­des­tags­er­geb­nis bis da­hin, aber die Nie­der­la­ge wur­de zum Er­folg, weil sie in der Re­gie­rung zwar nur we­ni­ge, da­für aber zen­tra­len Mi­nis­te­ri­en – ne­ben Au­ßen noch In­ne­res, da­zu Land­wirt­schaft – be­kam und ihr Ein­fluss so­mit grö­ßer war als bei bis­he­ri­gen Re­gie­rungs­be­tei­li­gun­gen. Sie galt zu­gleich als das aus­schlag­ge­ben­de Ele­ment beim so­ge­nann­ten „Macht­wech­sel“, dem tiefs­ten Ein­schnitt in der Ge­schich­te der Bun­des­re­pu­blik vor 1990.

Im neu­en Amt tat sich Scheel an­fangs schwer, ge­wann dann aber vor al­lem im Zu­ge der neu­en Ost- und Ent­span­nungs­po­li­tik an Sta­tur. Auf die Aus­hand­lung des in die­sem Zu­sam­men­hang zen­tra­len Mos­kau­er Ver­tra­ges vom Au­gust 1970 zwi­schen der Bun­des­re­pu­blik und der So­wjet-Uni­on, in dem sich bei­de Sei­ten zum Ge­walt­ver­zicht und zur Un­ver­letz­lich­keit der be­ste­hen­den Gren­zen in Eu­ro­pa be­kann­ten, nahm er zwar spät, aber den­noch ge­wich­ti­gen Ein­fluss, un­ter an­de­rem weil er auf ei­nen Zu­sam­men­hang zwi­schen dem Ver­trags­ab­schluss und ei­ner Ab­si­che­rung des Sta­tus quo von (West-)Ber­lin drang. Scheel war es auch, der sei­nem so­wje­ti­schen Amts­kol­le­gen den „Brief zur deut­schen Ein­heit“ über­reich­te, mit dem die Bun­des­re­gie­rung be­kräf­tig­te, dass der Mos­kau­er Ver­trag nicht im Wi­der­spruch zum Ziel ei­ner fried­li­chen Wie­der­ver­ei­ni­gung der Deut­schen stän­de. Da­mit wur­de ei­ner­seits die So­wjet-Uni­on zur still­schwei­gen­den An­er­ken­nung des deut­schen Stre­bens nach Ein­heit ge­bracht, an­de­rer­seits ei­nem Schei­tern die­ses und der fol­gen­den Ver­trä­ge vor dem Bun­des­ver­fas­sungs­ge­richt vor­ge­beugt.

In den knapp fünf Jah­ren der Amts­zeit von Scheel wur­den au­ßen­po­li­tisch in schnel­ler Ab­fol­ge Wei­chen­stel­lun­gen ein­ge­lei­tet, die die deut­sche und eu­ro­päi­sche Po­li­tik auf neue Fun­da­men­te stell­ten: Da­zu ge­hör­ten ne­ben dem Mos­kau­er Ver­trag ähn­li­che Ab­ma­chun­gen mit Po­len und der CSSR 1970 und 1973, das Ab­kom­men der vier Sie­ger­mäch­te über Ber­lin 1971, der Grund­la­gen-Ver­trag zwi­schen der Bun­des­re­pu­blik und der DDR 1972, die Auf­nah­me di­plo­ma­ti­scher Be­zie­hun­gen zur Volks­re­pu­blik Chi­na im glei­chen Jahr so­wie die UNO-Mit­glied­schaft bei­der deut­scher Staa­ten 1973 und die Vor­be­rei­tung ei­ner Kon­fe­renz über Si­cher­heit und Zu­sam­men­ar­beit in Eu­ro­pa. Scheel ver­nach­läs­sig­te aber auch die West­in­te­gra­ti­on der Bun­des­re­pu­blik nicht und för­der­te die Er­wei­te­rung der Eu­ro­päi­schen Wirt­schafts­ge­mein­schaft, der 1973 Groß­bri­tan­ni­en, Dä­ne­mark und Ir­land bei­tra­ten. 

In­nen­po­li­tisch war je­doch das ost­po­li­ti­sche Ver­trags­werk hef­tig um­kämpft, et­li­che Ab­ge­ord­ne­te der Re­gie­rungs­ko­ali­ti­on wech­sel­ten seit 1970 zur Op­po­si­ti­on, die schlie­ß­lich im April 1972 ein kon­struk­ti­ves Miss­trau­ens­vo­tum in den Bun­des­tag ein­brach­te. In die­sem Zu­sam­men­hang hielt Scheel wohl sei­ne be­deu­tends­te Re­de, die mit da­zu bei­trug, dass die­ser ver­such­te Re­gie­rungs­wech­sel schei­ter­te. Bei den vor­ge­zo­ge­nen Bun­des­tags­wah­len im No­vem­ber 1972 wur­de der Re­gie­rungs­kurs be­stä­tigt, bei­de Re­gie­rungs­par­tei­en ver­zeich­ne­ten Zu­wäch­se, die sich für FDP in wei­te­ren Ka­bi­netts­pos­ten nie­der­schlu­gen. Wal­ter Scheel be­hielt sei­ne Funk­ti­on als Au­ßen­mi­nis­ter und Vi­ze­kanz­ler.

Als sich für die Bun­des­prä­si­den­ten­wahl 1974 ab­zeich­ne­te, dass Hei­nemann nicht er­neut kan­di­die­ren wür­de und Kanz­ler Brandt kei­ne Am­bi­tio­nen für das Amt zeig­te, er­griff Scheel die Gunst der Stun­de und mel­de­te sein In­ter­es­se an. Am 15.5.1974 wur­de er ge­gen den CDU/CSU-Kan­di­da­ten und spä­te­ren Bun­des­prä­si­den­ten Ri­chard von Weiz­sä­cker (1920-2015, Bun­des­prä­si­dent 1984-1994) im ers­ten Wahl­gang ge­wählt. Zu­vor hat­te er nach dem über­ra­schen­den Rück­tritt von Kanz­ler Brandt noch für ei­ni­ge Ta­ge die Re­gie­rungs­ge­schäf­te ge­lei­tet.

Bundespräsident Walter Scheel mit Frau Mildred und den Kindern Simon-Martin, Cornelia und Andrea (von links) in ihrem Urlaubsort Hinterthal (Österreich) am 19.8.1974, Foto: Schaack, Lothar. (Bundesarchiv, B 145 Bild-F043606-0020 / Schaack, Lothar / CC-BY-SA 3.0)

 

Bei sei­nem Amts­an­tritt als bis da­hin jüngs­ter Bun­des­prä­si­dent for­der­te er sei­ne Lands­leu­te un­ter dem Mot­to „Mit­ein­an­der, nicht ge­gen­ein­an­der“ auf, sich für ein „ver­ein­tes Eu­ro­pa“ ein­zu­set­zen und da­mit „ein Bei­spiel des fried­li­chen Zu­sam­men­wir­kens der Völ­ker, ein Bei­spiel der So­li­da­ri­tät und Ge­rech­tig­keit, ein Bei­spiel der Frei­heit, ja auch ein Be­spiel der Macht oh­ne An­ma­ßun­g“ zu ge­ben. Durch sei­ne Leut­se­lig­keit und durch­aus un­kon­ven­tio­nel­len Le­bens­stil, der die Vil­la Ham­mer­schmidt erst­mals zum Dienst­sitz mit Kin­dern mach­te, aber – im Ge­gen­satz zu sei­nem un­mit­tel­ba­ren Vor­gän­ger – auch ge­sell­schaft­li­chem Glanz nicht ab­ge­neigt war, konn­te der Bun­des­prä­si­dent Scheel je­ne Po­pu­la­ri­tät schnell aus­bau­en, die der Au­ßen­mi­nis­ter Scheel schon er­reicht hat­te. Da­zu hat­te nicht zu­letzt ei­ne Schall­plat­te mit dem Volks­lied „Hoch auf dem gel­ben Wa­gen“ bei­ge­tra­gen, die er zu­sam­men mit ei­nem Düs­sel­dor­fer Ge­sang­ver­ein 1973 aus ka­ri­ta­ti­ven Zwe­cken hat­te auf­neh­men las­sen und die sich dann zu ei­nem re­gel­rech­ten Hit ent­wi­ckel­te.

Ent­ge­gen dem Mot­to, das er über sei­ne Prä­si­dent­schaft ge­stellt hat­te und das sich ge­ra­de an die un­ru­hi­ge (stu­den­ti­sche) Ju­gend rich­te­te, sah Scheel sich mit schwe­ren ge­sell­schaft­li­chen Ver­wer­fun­gen kon­fron­tiert, die ins­be­son­de­re vom Ter­ro­ris­mus der so­ge­nann­ten „Ro­te Ar­mee Frak­ti­on“ aus­gin­gen und im „deut­schen Herbst“ 1977 ih­ren Hö­he­punkt er­reich­ten. Be­son­ders in Er­in­ne­rung blieb da­bei sei­ne Re­de bei der Trau­er­fei­er für den er­mor­de­ten Ar­beit­ge­ber­prä­si­den­ten Hanns Mar­tin Schley­er (1915-1977).

Cover der Single 'Hoch auf dem gelben Wagen' von Walter Scheel.

 

Dies über­deck­te et­was, dass Scheel als Bun­des­prä­si­dent Ak­zen­te zu set­zen such­te, die mit sei­ner bis­he­ri­gen po­li­ti­schen Vi­ta über­ein­stimm­ten: Er för­der­te den Nord-Süd-Dia­log zwi­schen den ent­wi­ckel­ten und den Ent­wick­lungs­län­dern, trat – seit 1977 Trä­ger des Aa­che­ner Karls­prei­ses - für die Fort­füh­rung der eu­ro­päi­schen Ei­ni­gung ein und be­such­te als ers­ter Bun­des­prä­si­dent die So­wjet-Uni­on. In ei­ner Bon­ner Re­de zum 30. Jah­res­tag des Kriegs­en­des nahm er 1975 ei­ni­ges von dem vor­weg, was zehn Jah­re spä­ter in der Auf­se­hen er­re­gen­den Re­de sei­nes zwei­ten Nach­fol­gers von Weiz­sä­cker ent­hal­ten sein soll­te. 

Ei­ner von der Be­völ­ke­rung mehr­heit­lich be­für­wor­te­ten zwei­ten Amts­zeit ent­zog sich Scheel dann im Früh­jahr 1979 aber doch, als er­kenn­bar wur­de, dass die CDU/CSU-Op­po­si­ti­on in der Bun­des­ver­samm­lung die Mehr­heit ha­ben wür­de. Seit­dem fühl­te er sich selbst als „frei­er Mit­ar­bei­ter der Bun­des­re­pu­bli­k“.  

Wäh­rend die­ser über drei­ein­halb Jahr­zehn­te dau­ern­den „Alt­prä­si­den­ten-Zeit“ über­nahm Scheel ei­ne Rei­he von Eh­ren­äm­tern, die wie­der­um oft sei­nen bis­he­ri­gen po­li­ti­schen Schwer­punk­ten ent­spra­chen, so in der Füh­rung der Deut­schen In­ves­ti­ti­ons- und Ent­wick­lungs­ge­sell­schaft, in der Eu­ro­pa-Uni­on Deutsch­land, in der Bil­der­berg-Kon­fe­renz. Auch war er ers­ter Ku­ra­to­ri­ums­vor­sit­zen­der der Bun­des­kanz­ler-Wil­ly-Brandt-Stif­tung, die sich dem An­denken des von Scheel nach wie vor sehr ge­schätz­ten frü­he­ren Kanz­lers wid­me­te.

Walter Scheel, Altbundespräsident, 1996, Foto: Günther Rittner. (Günther Rittner, CC-BY-SA 3.0)

 

Der Po­li­tik blieb er durch den Eh­ren­vor­sitz der FDP und den Ku­ra­to­ri­ums­vor­sitz in der Fried­rich-Nau­mann-Stif­tung ver­bun­den, wo­bei sein Ein­fluss auf die Par­tei und ih­ren Kurs nicht un­er­heb­lich war. Nicht im­mer fan­den die Ak­ti­vi­tä­ten des „El­der Sta­tes­man“ un­ge­teil­te Zu­stim­mung, sei­ne Re­de aus An­lass der Ge­denk­stun­de zum 17. Ju­ni stieß 1986 auf Kri­tik, weil dar­in man­che ei­nen Vor­rang der Ent­span­nungs­po­li­tik vor der Wie­der­ver­ei­ni­gung er­ken­nen woll­ten. Die Wie­der­ver­ei­ni­gung wur­de dann von Scheel auch als Er­folg der ei­ge­nen Po­li­tik be­grü­ßt, ob­wohl er zu­gab, ei­gent­lich zu Leb­zei­ten nicht mehr mit ihr ge­rech­net zu ha­ben. Nach dem Um­zug von Par­la­ment und Re­gie­rung ver­leg­te auch er sei­nen Wohn­sitz für ein Jahr­zehnt nach Ber­lin, ehe er 2009 ins ba­di­sche Bad Kro­zin­gen zog, wo er schlie­ß­lich 97-jäh­rig am 24.8.2016 ver­starb. Be­gra­ben liegt er auf dem Wald­fried­hof in Ber­lin-Zeh­len­dorf.

Werke (Auswahl)

Kon­tu­ren ei­ner neu­en Welt. Schwie­rig­kei­ten, Er­nüch­te­rung und Chan­cen der In­dus­trie­län­der, Wien/Düs­sel­dorf 1965.  

(Hg.), Per­spek­ti­ven deut­scher Po­li­tik, Düs­sel­dorf/Köln 1969.

Zum geis­ti­gen Stand­ort der Li­be­ra­len in die­ser Zeit, in: Scho­eps, H. J. /Dan­ne­nen­mann, Chr. (Hg.), For­meln deut­scher Po­li­tik, Mün­chen 1969, S. 15-50.

Bun­des­tags­re­den, Bonn 1972.

Re­den und In­ter­views. Hg. vom Pres­se- und In­for­ma­ti­ons­amt der Bun­des­re­gie­rung, 2 Bän­de, o. O. 1972/1974.

Re­den und In­ter­views. Hg. vom Pres­se- und In­for­ma­ti­ons­amt der Bun­des­re­gie­rung, 5 Bän­de, Bonn 1975-1979.

Vom Recht des An­de­ren. Ge­dan­ken zur Frei­heit, Düs­sel­dorf/Wien 1977.

Die Zu­kunft der Frei­heit. Vom Den­ken und Han­deln in un­se­rer De­mo­kra­tie, Düs­sel­dorf/Wien 1979.

Das de­mo­kra­ti­sche Ge­schichts­bild. In: Ge­dan­ken zum 20. Ju­li. Hg. von der For­schungs­ge­mein­schaft 20. Ju­li e.V., Mainz 1984, S. 81-97.

Wen schmerzt noch Deutsch­lands Tei­lung? Zwei Re­den zum 17. Ju­ni, Rein­bek bei Ham­burg 1986.

Er­in­ne­run­gen und Ein­sich­ten. Im Ge­spräch mit Jür­gen En­gert, Stutt­gart/Leip­zig 2004.

Literatur

Zirn­gibl, Wil­ly, ge­fragt: Wal­ter Scheel, Bonn 1972.

Schnei­der, Hans-Ro­de­rich, Prä­si­dent des Aus­gleichs. Bun­des­prä­si­dent Wal­ter Scheel – ein li­be­ra­ler Po­li­ti­ker, Stutt­gart 1975.

Ba­ring, Ar­nulf, Macht­wech­sel. Die Ära Brandt-Scheel, Stutt­gart 1982.

Gen­scher, Hans-Diet­rich (Hg.), Hei­ter­keit und Här­te. Wal­ter Scheel in sei­nen Re­den und im Ur­teil von Zeit­ge­nos­sen, Stutt­gart 1984.

Siek­mei­er, Ma­thi­as, Wal­ter Scheel, in: Op­pel­land, Thors­ten (Hg.), Deut­sche Po­li­ti­ker 1949-1969, Band 2, Darm­stadt 1999, S. 155-164.

Thrän­hardt, Diet­rich, Wal­ter Scheel, in: Sar­ko­wicz, Hans (Hg.), Sie präg­ten Deutsch­land. Ei­ne Ge­schich­te der Bun­des­re­pu­blik in po­li­ti­schen Por­traits, Mün­chen 1999, S. 184-198.

Bil­ling, Wer­ner, Scheel, Wal­ter, in: Kempf, Udo/Merz, Hans-Ge­org (Hg.), Kanz­ler und Mi­nis­ter 1949-1998. Bio­gra­fi­sches Le­xi­kon der deut­schen Bun­des­re­gie­run­gen, Wies­ba­den 2001, S. 578-582.

Acker­mann, Jo­sef, Wal­ter Scheel, in: Bio­gra­phi­sches Hand­buch der Mit­glie­der des Deut­schen Bun­des­ta­ges 1949-2002, Mün­chen 2002, S. 731-732.

Scholz, Gün­ther, Wal­ter Scheel, in: Scholz, Gün­ther/Süs­kind, Mar­tin E., Die Bun­des­prä­si­den­ten, Mün­chen 2004, S. 251-289.

Schol­tyseck, Joa­chim, Wal­ter Scheel – Wie­der­auf­nah­me äl­te­rer Leit­bil­der oder Auf­takt zu ei­ner neu­en li­be­ra­len Tra­di­ti­on in der Au­ßen­po­li­tik?, in: Jahr­buch zur Li­be­ra­lis­mus-For­schung 22 (2010), S. 47-66.

Wi­ckert, Ul­rich (Hg.), Mut und Frei­heit. Was wir Wal­ter Scheel ver­dan­ken, Frei­burg [u. a.] 2015.

Online

Wal­ter Scheel auf der Web­sei­te des Bun­des­prä­si­di­al­am­tes. [on­line] 

Ka­len­der­blatt zum Miss­trau­ens­vo­tum 1972. [on­line] 

Nach­ru­fe in der „ZEIT“. [on­line] 

In der FAZ. [on­line] 
 
Ge­denk­re­de des Vor­stands­vor­sit­zen­den der Fried­rich-Nau­mann-Stif­tung Wolf­gang Ger­hardt. [on­line]

Ehrengrab Walter Scheel auf dem Waldfriedhof Zehlendorf in Berlin, 2017. (Wikimedia-User 'Mutter Erde' / CC-BY-SA 4.0)

 
Zitationshinweis

Bitte geben Sie beim Zitieren dieses Beitrags die exakte URL und das Datum Ihres Besuchs dieser Online-Adresse an.

Frölich, Jürgen, Walter Scheel, in: Internetportal Rheinische Geschichte, abgerufen unter: https://www.rheinische-geschichte.lvr.de/Persoenlichkeiten/walter-scheel-/DE-2086/lido/5b1fb043004cc0.41632082 (abgerufen am 15.10.2024)