Wilhelm Roß

Evangelischer Bischof (1772-1854)

Stefan Flesch (Düsseldorf)

Wilhelm Johann Gottfried Roß, Porträt, 19. Jahrhundert. (Archiv der Evangelischen Kirche im Rheinland)

Wil­helm Jo­hann Gott­fried Roß war in der Epo­che des Vor­märz als Ge­ne­ral­su­per­in­ten­dent und Bi­schof der obers­te Geist­li­che der bei­den Pro­vin­zen Rhein­land und West­fa­len in­ner­halb der evan­ge­li­schen Lan­des­kir­che Preu­ßens. Er dien­te als ent­schei­den­der Ver­mitt­ler in der Jahr­zehn­te wäh­ren­den Kon­tro­ver­se zwi­schen der Ber­li­ner Zen­tra­le und den bei­den West­pro­vin­zen um die Ein­füh­rung von Uni­on, Agen­de und neu­er Kir­chen­ord­nung.

Wil­helm Roß wur­de am 7.7.1772 in Is­sel­burg als fünf­tes Kind und ein­zi­ger Sohn des dor­ti­gen re­for­mier­ten Pfar­rers Hein­rich Gott­fried Roß (1732-1796) und sei­ner Ehe­frau Ka­tha­ri­na, ge­bo­re­ne Heymanns (1734-1801) ge­bo­ren. Als Kind des Nie­der­rheins be­such­te er die Gym­na­si­en in We­sel und Mo­ers, ehe er im April 1788 - noch kei­ne 16 Jah­re alt - an der Uni­ver­si­tät Duis­burg mit dem Stu­di­um der Theo­lo­gie be­gann. 1791 be­stand er das ers­te Ex­amen und konn­te als Kan­di­dat ers­te Be­rufs­er­fah­run­gen in Hoch­em­me­rich (heu­te Stadt Duis­burg) sam­meln. Nach ei­ner kur­zen Amts­sta­ti­on im Ber­gi­schen als Pfar­rer in Hom­berg bei Ra­tin­gen (1793-1795) zog es ihn wie­der in sei­ne Hei­mat. Er trat die Pfarr­stel­le in der klei­nen Land­ge­mein­de Bud­berg (heu­te Stadt Rhein­berg) an und hei­ra­te­te dort Ma­rie Lui­se Cae­ci­lie aus´m Weerth (1778-1841). Aus der Ehe gin­gen fünf Kin­der her­vor.

In die­sem Ort mit ge­ra­de 500 evan­ge­li­schen Ge­mein­de­glie­dern, der zwi­schen Or­soy und Rhein­berg liegt, soll­te er die nächs­ten 33 Jah­re als pa­tri­ar­cha­li­scher Pfarr­herr am­tie­ren. Mit dem Geld sei­ner aus ei­ner ver­mö­gen­den (Wup­per­tal-)El­ber­fel­der Fa­mi­lie stam­men­den Ehe­frau er­warb er ei­ni­ge Land­gü­ter wie Haus Loo (Ge­mein­de Al­pen) für die Vieh­zucht. Die Bau­ern sei­ner Ge­mein­de lern­ten nicht zu­letzt sei­nen öko­no­mi­schen Sach­ver­stand schät­zen.

Sei­ne kirch­li­che Tä­tig­keit wies in­des bald über den en­gen lo­ka­len Rah­men hin­aus. Be­reits 1805 wur­de er zum As­ses­sor der Mo­er­ser Kon­sis­to­ri­al­kir­che ge­wählt, 1817 schlie­ß­lich zu ih­rem Su­per­in­ten­den­ten. Im fol­gen­den Jahr wähl­te ihn die Pro­vin­zi­al­syn­ode von Jü­lich-Kle­ve-Berg zu ih­rem Prä­ses, dem höchs­ten Amt in­ner­halb der Struk­tur der al­ten re­for­mier­ten Kir­che am Nie­der­rhein. Dies spie­gel­te den Re­spekt wi­der, den sich Roß be­reits zu die­sem Zeit­punkt er­wor­ben hat­te.

Die­ses Ver­trau­en­s­ka­pi­tal setz­te er in den fol­gen­den 20 Jah­ren in der er­bit­ter­ten Kon­tro­ver­se um die preu­ßi­sche Uni­on und die Ein­füh­rung ei­ner neu­en Agen­de ein. Kö­nig Fried­rich Wil­helm III. (Re­gent­schaft 1797-1840) hat­te am 27.9.1817 zur Uni­on von lu­the­ri­schen und re­for­mier­ten Ge­mein­den auf­ge­ru­fen. Roß en­ga­gier­te sich von Be­ginn an für die­ses Ziel, für das er auf den rhei­ni­schen Syn­oden un­ab­läs­sig und meist mit Er­folg warb. Vor al­lem bei ein­zel­nen Ge­mein­den im Ber­gi­schen Land stieß er auf lang an­dau­ern­den Wi­der­stand.

Weit­aus hef­ti­ger noch ver­lief der Streit um die Agen­de. Der Mon­arch als Sum­me­pi­sco­pus der preu­ßi­schen Lan­des­kir­che be­an­spruch­te auch das ius lit­ur­gi­cum und üb­te es kon­kret aus, in­dem er per­sön­lich ei­ne Agen­de für den Ab­lauf von evan­ge­li­schen Got­tes­diens­ten ent­warf. Die­se ori­en­tier­te sich an an­gli­ka­ni­schen Vor­bil­dern und schrieb un­ter an­de­rem die Aus­schmü­ckung der Al­tä­re mit Kru­zi­fi­xen und Leuch­tern vor. Spe­zi­ell die nie­der­rhei­ni­schen Re­for­mier­ten sa­hen hier ka­tho­li­sie­ren­de Ten­den­zen, die sie als An­griff auf ih­re her­ge­brach­te Glau­benstra­di­ti­on in­ter­pre­tier­ten. Die ire­ni­sche Hal­tung von Roß prä­des­ti­nier­te ihn zum Ver­mitt­ler und es ge­lang ihm, das Ver­trau­en des Kö­nigs zu er­wer­ben. 1828 er­hielt Roß da­her den Ruf nach Ber­lin, als Ober­kon­sis­to­ri­al­rat in das Mi­nis­te­ri­um der geist­li­chen, Un­ter­richts- und Me­di­zi­nal­an­ge­le­gen­hei­ten ein­zu­tre­ten und dort die Neu­ord­nung der Kir­chen­ver­fas­sung in den West­pro­vin­zen vor­an zu brin­gen. Wei­te­re Äm­ter ka­men rasch hin­zu. Der re­for­mier­te Bud­ber­ger Pfar­rer wan­del­te sich zum Propst der lu­the­risch ge­präg­ten St. Ni­ko­lai-Pfar­rei und zum Su­per­in­ten­den­ten von Ber­lin-Stadt. Über sei­ne da­mit ver­bun­de­ne Pre­digt­tä­tig­keit äu­ßer­te Roß spä­ter im Al­ter, er ha­be „das Evan­ge­li­um oh­ne ra­tio­na­lis­ti­sche und pries­ter­li­che Schnör­kel“ ge­pre­digt. In der Ber­li­ner Hof­ge­sell­schaft kam dies we­ni­ger gut an als in sei­ner Bud­ber­ger Dorf­kir­che. Mit sei­nem im Rhein­land be­währ­ten Ver­hand­lungs­ge­schick ge­lang ihm die Bei­le­gung des seit 1821 schwe­len­den Ber­li­ner Agen­den­streits: In zahl­rei­chen Vier-Au­gen-Ge­sprä­chen mit den re­ni­ten­ten Pas­to­ren er­reich­te er die An­nah­me der Agen­de mit dem Nach­trag für die Pro­vinz Bran­den­burg, die ei­ni­ge Zu­ge­ständ­nis­se des Kö­nigs an die theo­lo­gi­schen Be­den­ken der Pfar­rerschaft ent­hielt.

In der Fol­ge wur­de Roß mit Eh­run­gen ge­ra­de­zu über­häuft. 1829 wur­de er zum Ge­ne­ral­su­per­in­ten­dent der Neu­mark (Re­gie­rungs­be­zirk Frank­furt/Oder) er­nannt. Die Uni­ver­si­tät Ber­lin ver­lieh ihm 1830 den theo­lo­gi­schen Eh­ren­dok­tor­ti­tel (wie auch zwölf Jah­re spä­ter die Uni­ver­si­tät Bonn). Die vom Mon­ar­chen an­ge­bo­te­ne Er­nen­nung zum Gra­fen nahm er – nicht zu­letzt mit Blick auf die zu er­war­ten­de Re­ak­ti­on im rhei­ni­schen Pro­tes­tan­tis­mus - nicht an, er ak­zep­tier­te sie aber für sei­nen Sohn. Von sei­ner Po­si­ti­on im Mi­nis­te­ri­um aus mo­de­rier­te Roß wei­ter­hin den lang­wie­ri­gen Weg zu ei­ner neu­en Kir­chen­ver­fas­sung in den West­pro­vin­zen. Hier knüpf­te er ein tak­ti­sches Junk­tim mit der Ein­füh­rung der so lan­ge um­strit­te­nen Agen­de, die nun­mehr in ei­ni­gen Punk­ten den rhei­ni­schen Be­dürf­nis­sen an­ge­passt wur­de. 1835 er­folg­ten da­her zu­gleich die Pu­bli­ka­ti­on der Agen­de und die An­nah­me der Rhei­nisch-West­fä­li­schen Kir­chen­ord­nung. Sie be­wahr­te ei­ni­ge der tra­dier­ten Grund­po­si­tio­nen der al­ten re­for­mier­ten Kir­che am Nie­der­rhein, et­wa die au­to­no­me Wahl der Pres­by­te­ri­en, Syn­oden und ih­rer Prä­si­des, die Ein­be­zie­hung auch von Äl­tes­ten - al­so Lai­en -  in die­se Gre­mi­en so­wie die freie Pfarr­wahl der Ge­mein­den. Sol­che Spiel­räu­me kann­ten die üb­ri­gen Pro­vin­zi­al­kir­chen der preu­ßi­schen Lan­des­kir­che bis 1918 nicht.

Wich­ti­ge Be­stand­tei­le der Re­ge­lun­gen von 1835 sind noch in die bis heu­te gel­ten­de Kir­chen­ord­nung der Rhei­ni­schen Lan­des­kir­che von 1952 ein­ge­flos­sen. Die­se pres­by­te­ri­al-syn­oda­le Selbst­ver­wal­tung wur­de un­ter den Au­spi­zi­en des preu­ßi­schen Ob­rig­keits­staa­tes frei­lich über­la­gert von ei­nem star­ken lan­des­herr­li­chen Kir­chen­re­gi­ment: Die Kon­sis­to­ri­en in Ko­blenz und Müns­ter wa­ren rei­ne Staats­be­hör­den und zo­gen nun zahl­rei­che vor­her syn­oda­le Kom­pe­ten­zen wie die kirch­li­che Ge­setz­ge­bung und das theo­lo­gi­sche Aus­bil­dungs­we­sen an sich.

1836 er­folg­te sei­ne Er­nen­nung zum Ge­ne­ral­su­per­in­ten­den­ten von Rhein­land und West­fa­len. Da­mit ein­her ging der ge­ra­de im rhei­ni­schen Re­for­mier­ten­tum höchst um­strit­te­ne Ti­tel ei­nes „Bi­schofs der evan­ge­li­schen Kir­che“. Da Roß sei­nen Wohn­sitz in Ber­lin bei­be­hielt und nur über die al­le drei Jah­re statt­fin­den­den Pro­vin­zi­al­syn­oden Prä­senz zeig­te, fehl­te es ihm in sei­ner rhei­ni­schen Hei­mat zu­neh­mend an Rück­halt. Re­for­mier­te Wup­per­ta­ler Krei­se schmäh­ten ihn als „Gro­ßin­qui­si­tor“, der bei Wi­der­stän­den von Ge­mein­den ge­gen Uni­on und Kir­chen­ord­nung mit ei­ner frag­wür­di­gen Mi­schung aus „Zu­cker­bro­t“ und „Peit­sche“ vor­ge­he. Man mag Roß zu den „schmieg­sa­men Prä­la­ten­na­tu­ren“ des 19. Jahr­hun­derts zäh­len, ge­gen die Hein­rich von Treitsch­ke (1834-1896) po­le­mi­sier­te. Ge­rech­ter wur­de ihm Theo­dor Fon­ta­ne (1819-1898), der zu Roß no­tier­te, die­ser ha­be „mich als Mensch ent­zückt, oh­ne dass ich ihm über­all zu­stim­men kann.“ Theo­lo­gisch eher un­pro­fi­liert, be­fä­hig­te ihn ge­ra­de die­ses De­fi­zit zum Aus­gleich ex­tre­mer Po­si­tio­nen. Dies be­ding­te al­ler­dings die si­che­re Ver­an­ke­rung in den preu­ßi­schen Macht­zir­keln.

Mit dem To­de Fried­rich Wil­helms III. 1840 ver­lor Roß den Rück­halt am Ber­li­ner Hof. 1846 er­folg­te sein Rück­tritt vom Amt des Ge­ne­ral­su­per­in­ten­den­ten. Die Ber­li­ner Äm­ter be­hielt er bei, frei­lich nun­mehr oh­ne jeg­li­chen Ge­stal­tungs­spiel­raum. En­de März 1854 trat er in den Ru­he­stand. Be­reits seit 1841 ver­wit­wet, muss­te er noch die Nach­richt vom Tod sei­nes Soh­nes Fried­rich Wil­helm (ge­bo­ren 1810) er­fah­ren. Roß starb drei Wo­chen dar­auf am 27.10.1854 und wur­de auf dem Dorf­fried­hof von Bud­berg be­stat­tet.

Literatur

Eber­lein, Her­mann-Pe­ter, Wil­helm Jo­hann Gott­fried Roß (1772-1854). Bi­schof zwi­schen Bud­berg und Ber­lin, in: Con­rad, Joa­chim / Flesch, Ste­fan / Kurop­ka, Ni­co­le / Schnei­der, Tho­mas Mar­tin (Hg.), Evan­ge­lisch am Rhein. Wer­den und We­sen ei­ner Lan­des­kir­che, Düs­sel­dorf 2007, S. 153-156.
Ra­he, Hans-Wil­helm, Bi­schof Roß. Ver­mitt­ler zwi­schen Rhein­land-West­fa­len und Preu­ßen im 19. Jahr­hun­dert, Köln 1984.

 
Zitationshinweis

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Flesch, Stefan, Wilhelm Roß, in: Internetportal Rheinische Geschichte, abgerufen unter: https://www.rheinische-geschichte.lvr.de/Persoenlichkeiten/wilhelm-ross/DE-2086/lido/57cd2366a1cc46.58002150 (abgerufen am 23.04.2024)