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Wilhelm Johann Gottfried Roß war in der Epoche des Vormärz als Generalsuperintendent und Bischof der oberste Geistliche der beiden Provinzen Rheinland und Westfalen innerhalb der evangelischen Landeskirche Preußens. Er diente als entscheidender Vermittler in der Jahrzehnte währenden Kontroverse zwischen der Berliner Zentrale und den beiden Westprovinzen um die Einführung von Union, Agende und neuer Kirchenordnung.
Wilhelm Roß wurde am 7.7.1772 in Isselburg als fünftes Kind und einziger Sohn des dortigen reformierten Pfarrers Heinrich Gottfried Roß (1732-1796) und seiner Ehefrau Katharina, geborene Heymanns (1734-1801) geboren. Als Kind des Niederrheins besuchte er die Gymnasien in Wesel und Moers, ehe er im April 1788 - noch keine 16 Jahre alt - an der Universität Duisburg mit dem Studium der Theologie begann. 1791 bestand er das erste Examen und konnte als Kandidat erste Berufserfahrungen in Hochemmerich (heute Stadt Duisburg) sammeln. Nach einer kurzen Amtsstation im Bergischen als Pfarrer in Homberg bei Ratingen (1793-1795) zog es ihn wieder in seine Heimat. Er trat die Pfarrstelle in der kleinen Landgemeinde Budberg (heute Stadt Rheinberg) an und heiratete dort Marie Luise Caecilie aus´m Weerth (1778-1841). Aus der Ehe gingen fünf Kinder hervor.
In diesem Ort mit gerade 500 evangelischen Gemeindegliedern, der zwischen Orsoy und Rheinberg liegt, sollte er die nächsten 33 Jahre als patriarchalischer Pfarrherr amtieren. Mit dem Geld seiner aus einer vermögenden (Wuppertal-)Elberfelder Familie stammenden Ehefrau erwarb er einige Landgüter wie Haus Loo (Gemeinde Alpen) für die Viehzucht. Die Bauern seiner Gemeinde lernten nicht zuletzt seinen ökonomischen Sachverstand schätzen.
Seine kirchliche Tätigkeit wies indes bald über den engen lokalen Rahmen hinaus. Bereits 1805 wurde er zum Assessor der Moerser Konsistorialkirche gewählt, 1817 schließlich zu ihrem Superintendenten. Im folgenden Jahr wählte ihn die Provinzialsynode von Jülich-Kleve-Berg zu ihrem Präses, dem höchsten Amt innerhalb der Struktur der alten reformierten Kirche am Niederrhein. Dies spiegelte den Respekt wider, den sich Roß bereits zu diesem Zeitpunkt erworben hatte.
Dieses Vertrauenskapital setzte er in den folgenden 20 Jahren in der erbitterten Kontroverse um die preußische Union und die Einführung einer neuen Agende ein. König Friedrich Wilhelm III. (Regentschaft 1797-1840) hatte am 27.9.1817 zur Union von lutherischen und reformierten Gemeinden aufgerufen. Roß engagierte sich von Beginn an für dieses Ziel, für das er auf den rheinischen Synoden unablässig und meist mit Erfolg warb. Vor allem bei einzelnen Gemeinden im Bergischen Land stieß er auf lang andauernden Widerstand.
Weitaus heftiger noch verlief der Streit um die Agende. Der Monarch als Summepiscopus der preußischen Landeskirche beanspruchte auch das ius liturgicum und übte es konkret aus, indem er persönlich eine Agende für den Ablauf von evangelischen Gottesdiensten entwarf. Diese orientierte sich an anglikanischen Vorbildern und schrieb unter anderem die Ausschmückung der Altäre mit Kruzifixen und Leuchtern vor. Speziell die niederrheinischen Reformierten sahen hier katholisierende Tendenzen, die sie als Angriff auf ihre hergebrachte Glaubenstradition interpretierten. Die irenische Haltung von Roß prädestinierte ihn zum Vermittler und es gelang ihm, das Vertrauen des Königs zu erwerben. 1828 erhielt Roß daher den Ruf nach Berlin, als Oberkonsistorialrat in das Ministerium der geistlichen, Unterrichts- und Medizinalangelegenheiten einzutreten und dort die Neuordnung der Kirchenverfassung in den Westprovinzen voran zu bringen. Weitere Ämter kamen rasch hinzu. Der reformierte Budberger Pfarrer wandelte sich zum Propst der lutherisch geprägten St. Nikolai-Pfarrei und zum Superintendenten von Berlin-Stadt. Über seine damit verbundene Predigttätigkeit äußerte Roß später im Alter, er habe „das Evangelium ohne rationalistische und priesterliche Schnörkel“ gepredigt. In der Berliner Hofgesellschaft kam dies weniger gut an als in seiner Budberger Dorfkirche. Mit seinem im Rheinland bewährten Verhandlungsgeschick gelang ihm die Beilegung des seit 1821 schwelenden Berliner Agendenstreits: In zahlreichen Vier-Augen-Gesprächen mit den renitenten Pastoren erreichte er die Annahme der Agende mit dem Nachtrag für die Provinz Brandenburg, die einige Zugeständnisse des Königs an die theologischen Bedenken der Pfarrerschaft enthielt.
In der Folge wurde Roß mit Ehrungen geradezu überhäuft. 1829 wurde er zum Generalsuperintendent der Neumark (Regierungsbezirk Frankfurt/Oder) ernannt. Die Universität Berlin verlieh ihm 1830 den theologischen Ehrendoktortitel (wie auch zwölf Jahre später die Universität Bonn). Die vom Monarchen angebotene Ernennung zum Grafen nahm er – nicht zuletzt mit Blick auf die zu erwartende Reaktion im rheinischen Protestantismus - nicht an, er akzeptierte sie aber für seinen Sohn. Von seiner Position im Ministerium aus moderierte Roß weiterhin den langwierigen Weg zu einer neuen Kirchenverfassung in den Westprovinzen. Hier knüpfte er ein taktisches Junktim mit der Einführung der so lange umstrittenen Agende, die nunmehr in einigen Punkten den rheinischen Bedürfnissen angepasst wurde. 1835 erfolgten daher zugleich die Publikation der Agende und die Annahme der Rheinisch-Westfälischen Kirchenordnung. Sie bewahrte einige der tradierten Grundpositionen der alten reformierten Kirche am Niederrhein, etwa die autonome Wahl der Presbyterien, Synoden und ihrer Präsides, die Einbeziehung auch von Ältesten - also Laien - in diese Gremien sowie die freie Pfarrwahl der Gemeinden. Solche Spielräume kannten die übrigen Provinzialkirchen der preußischen Landeskirche bis 1918 nicht.
Wichtige Bestandteile der Regelungen von 1835 sind noch in die bis heute geltende Kirchenordnung der Rheinischen Landeskirche von 1952 eingeflossen. Diese presbyterial-synodale Selbstverwaltung wurde unter den Auspizien des preußischen Obrigkeitsstaates freilich überlagert von einem starken landesherrlichen Kirchenregiment: Die Konsistorien in Koblenz und Münster waren reine Staatsbehörden und zogen nun zahlreiche vorher synodale Kompetenzen wie die kirchliche Gesetzgebung und das theologische Ausbildungswesen an sich.
1836 erfolgte seine Ernennung zum Generalsuperintendenten von Rheinland und Westfalen. Damit einher ging der gerade im rheinischen Reformiertentum höchst umstrittene Titel eines „Bischofs der evangelischen Kirche“. Da Roß seinen Wohnsitz in Berlin beibehielt und nur über die alle drei Jahre stattfindenden Provinzialsynoden Präsenz zeigte, fehlte es ihm in seiner rheinischen Heimat zunehmend an Rückhalt. Reformierte Wuppertaler Kreise schmähten ihn als „Großinquisitor“, der bei Widerständen von Gemeinden gegen Union und Kirchenordnung mit einer fragwürdigen Mischung aus „Zuckerbrot“ und „Peitsche“ vorgehe. Man mag Roß zu den „schmiegsamen Prälatennaturen“ des 19. Jahrhunderts zählen, gegen die Heinrich von Treitschke (1834-1896) polemisierte. Gerechter wurde ihm Theodor Fontane (1819-1898), der zu Roß notierte, dieser habe „mich als Mensch entzückt, ohne dass ich ihm überall zustimmen kann.“ Theologisch eher unprofiliert, befähigte ihn gerade dieses Defizit zum Ausgleich extremer Positionen. Dies bedingte allerdings die sichere Verankerung in den preußischen Machtzirkeln.
Mit dem Tode Friedrich Wilhelms III. 1840 verlor Roß den Rückhalt am Berliner Hof. 1846 erfolgte sein Rücktritt vom Amt des Generalsuperintendenten. Die Berliner Ämter behielt er bei, freilich nunmehr ohne jeglichen Gestaltungsspielraum. Ende März 1854 trat er in den Ruhestand. Bereits seit 1841 verwitwet, musste er noch die Nachricht vom Tod seines Sohnes Friedrich Wilhelm (geboren 1810) erfahren. Roß starb drei Wochen darauf am 27.10.1854 und wurde auf dem Dorffriedhof von Budberg bestattet.
Literatur
Eberlein, Hermann-Peter, Wilhelm Johann Gottfried Roß (1772-1854). Bischof zwischen Budberg und Berlin, in: Conrad, Joachim / Flesch, Stefan / Kuropka, Nicole / Schneider, Thomas Martin (Hg.), Evangelisch am Rhein. Werden und Wesen einer Landeskirche, Düsseldorf 2007, S. 153-156.
Rahe, Hans-Wilhelm, Bischof Roß. Vermittler zwischen Rheinland-Westfalen und Preußen im 19. Jahrhundert, Köln 1984.
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Flesch, Stefan, Wilhelm Roß, in: Internetportal Rheinische Geschichte, abgerufen unter: https://www.rheinische-geschichte.lvr.de/Persoenlichkeiten/wilhelm-ross/DE-2086/lido/57cd2366a1cc46.58002150 (abgerufen am 07.10.2024)