Epochen
August Wilhelm Schlegel war 51 Jahre alt, als für ihn mit der Gründung der Bonner Universität 1818 ein neuer Lebensabschnitt begann. Großprojekte wie die Übersetzung der Dramen Shakespeares, Schaffenskrise und Scheidung lagen hinter ihm. Über ein Jahrzehnt hatte er die gelehrte Germaine de Staël (geboren 1766) auf ihren Reisen durch halb Europa begleitet; sie gilt heute als Begründerin der Literatursoziologie. Schlegel war ihr Mentor und zugleich der Erzieher ihrer Kinder. 1817 erlag de Staël einem Schlaganfall.
Nun gedachte Schlegel häuslicher zu leben. Als nach Bonn berufener Professor der Literatur heiratete er eine Tochter des Heidelberger Theologen Heinrich Paulus (1761-1851), die auch von Jean Paul (1763-1825) umworben worden war. Er kaufte auf der Bonner Sandkaule ein repräsentatives Wohnhaus mit 14 Zimmern in drei Geschossen. Doch seine frisch angetraute Ehefrau Sophie wollte Schlegel nicht nach Bonn folgen. Noch eine Weile musste er sich mancher Anwürfe Jean Pauls und seiner Schwiegerfamilie erwehren. Sein jüngerer Bruder Friedrich (1772-1829), wie August Wilhelm Literaturwissenschaftler, Übersetzer und Schriftsteller, nahm ihn in Schutz, als einander ausschließende Vorwürfe wie Impotenz und Ansteckung mit Geschlechtskrankheiten in der Szene der Romantiker, aber auch an den Universitäten, kursierten.
So blieb Schlegel mit dem Hauspersonal allein. Diesem stand Maria Löbel vor. Sie musste sich zu ihrem Leidwesen anfangs nicht selten als Sophie anreden lassen. Maria war nahe der Sandkaule am Heisterbacher Hof aufgewachsen, nun Mitte 40 und unverheiratet. 1821 zog sie in Schlegels Wohnsitz, zuvor nächtigte sie im Elternhaus. Neben Maria gehörte der etwa 20-jährige, Heinrich von Wehrden genannte Kutscher und Kammerdiener zu den Schlegel täglich umgebenden Menschen. Der Begriff der „Ersatzfamilie“ liegt nahe, auch nach Lektüre der 62 von Ralf Georg Czapla und Franca Victoria Schankweiler edierten Briefe, die Schlegel und seine Haushälterin wechselten. Czapla und Schankweiler geben der Beziehung zwischen Schlegel und Löbel sogar eine religiöse Deutung, indem sie die von Schlegel nach Marias Tod gewählte Bezeichnung für die erhalten gebliebenen Stapel Briefe vielleicht etwas zu mutig interpretieren: „Mit Bedacht heißt es ‚an Marien‘ statt ‚an Marie‘, und das auf allen Trennblättern. Schlegel flektiert den Namen seiner Haushälterin in Analogie zu dem der Gottesmutter“ (S. 20). Doch die 14-seitige konzise Einleitung der Herausgeber ist zu loben. Sie verzichtet auf eine breite Darstellung der Lebensleistung Schlegels, weil sie nicht das zentrale Thema der Edition darstellt. Vielmehr führt sie durchaus humorvoll zu den Briefen hin, die selbstverständlich für Schlegels Biographie einen Erkenntniswert besitzen. Vor allem aber sind sie eine dem Sozialhistoriker bedeutsame Quelle, die trotz der Besonderheiten dieses Falles Aufschluss geben über das Neben- und Miteinander von Personal und Arbeitgeber in einem Professorenhaushalt in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Zugleich wird unser Blick auf die Mühen, aber auch die Möglichkeiten der Kommunikation in jenen Jahrzehnten geschärft. Man schrieb sich und die Herrschaft reiste, während die Haushälterin kaum je Bonn verließ. Überspitzt teilen die Editoren zum Tod Maria Löbels mit, sie habe das Stadtviertel, „in dem sie aufgewachsen war“, „bis zu ihrem Tod nicht verlassen“ (S. 19). Tatsächlich erfahren wir aus der Edition, dass sie sich wiederholt im zehn Kilometer entfernten Siegburg bei der Familie ihrer Schwester Elisabeth Maria Theresia aufhielt (S. 169).
Die meisten der abgedruckten Briefe stammen aus der Feder Schlegels. Was er seiner ungebildeten Haushälterin von den langen Reisen schildert, ist nicht nur in biographischer und sozialgeschichtlicher, sondern auch in kulturhistorischer Sicht von Interesse. So berichtet der immer wieder Heimweh und Sorgen um Maries Gesundheit artikulierende Schlegel, dass er in Paris „seidne Tücher“ kauft, „weil man sie in Bonn, und ich glaube auch in Cöln, nicht so ächt haben kann“ (S. 33). An anderer Stelle kündigt Schlegel an, „einige schöne aus Baumwolle gewirkte Bettdecken mitzubringen, die man in Deutschland nicht so gut zu kaufen findet“ (S. 36). Marie erhält freilich auch klare Anweisungen, etwa wenn es um Schlegels Nachtlager geht. Aus Paris schreibt er 1821: „Ich will mit meinem Bett eine Veränderung vornehmen. Lassen Sie aus der Rolle, die unter dem Kopfe liegt, die Pferdehaare heraus nehmen, und sie mit Federn stopfen, dann ein viereckiges Kissen, auch mit Federn, darüber legen. Die Matrazen [sic] werden neu ausgezupft werden müssen“ (S. 36).
Löbels Briefe, von denen – möglicherweise aufgrund von Quarantänebestimmungen – mehrere verloren gegangen sind, sind stets knapp und beschränken sich in der Regel auf Fragen und Auskünfte zu Haushaltsausgaben, Renovierungen, Gesundheit von Mensch und Tier sowie Reiseterminen. An derlei historischen Alltäglichkeiten muss man schon Interesse haben, wenn man die Briefe mit Vergnügen lesen möchte. Zu diesen Alltäglichkeiten zählen auch Erwähnungen von Einladungen, sogar am Hofe (was Kleidungsfragen aufwirft), Überlegungen über die sichere Postsendung (ohne zu frankieren, kommt ein Brief laut Schlegel sicher an, weil dann das Nachporto einzuziehen ist), Schilderungen von Reisen mit Kutsche und Schiff, auch die Sorge vor Ansteckung mit Krankheiten wie Scharlach und Cholera. Stolz berichtet der Wissenschaftler von der Verleihung von Orden, sinniert auch über mitzubringende Geschenke (Marie wird aus Paris eine Uhr in Aussicht gestellt) oder die Unterbringung etwaiger Besucher (Söhne englischer Bekannter gedenken in Bonn zu studieren).
Die vorbildliche historisch-kritische Edition liegt in einem ansprechend gestalteten Buch vor. Editorischen Bemerkungen und der Einleitung folgen auf 81 großzügig bedruckten Seiten die Briefe. Ein eingeschobener Bildteil zeigt das Wohnhaus in der Sandkaule, Akteure in Porträts, amtliche Dokumente, Totenzettel, Grabstätten, Ablichtungen von Briefen und einen Stammbaum. Die sorgfältig erarbeiteten wissenschaftlichen Anmerkungen mit ihren oft recht detaillierten Informationen vorwiegend zu Personen und Orten füllen 173 Seiten. Liest man diese Erläuterungen aufmerksam, erfährt man – auch unabhängig vom Sujet des Buchs – kulturhistorisch Wissenswertes über so Unterschiedliches wie die Ausbreitung der Cholera (S. 216-217), das Versiegeln von Briefen (S. 194) oder das Zollhaus in Dover (S. 149). Man könnte einwenden, dass hier manchmal zu viel des Guten getan worden ist. So werden bei den Erwähnungen der Universitäten Oxford und Cambridge Jahr und Umstände der Gründung mitgeteilt (S. 161-162), zu „Sauerkraut“ heißt es unter anderem: „Im Rheinland wie in den übrigen deutschen Provinzen beliebtes Gericht, das verschiedene Formen der Zubereitung kennt“ (S. 213). Es folgt der Abdruck von neun Schriftstücken aus dem Schlegel-Kreis, in denen Maria Löbels Tod Thema ist. Literaturverzeichnis und Personenregister runden das gelungene Werk ab.
Bitte geben Sie beim Zitieren dieses Beitrags die exakte URL und das Datum Ihres Besuchs dieser Online-Adresse an.
Forsbach, Ralf, "Meine liebe Marie" – "Werthester Herr Professor". Der Briefwechsel zwischen August Wilhelm von Schlegel und seiner Bonner Haushälterin Maria Löbel. Historisch-kritische Ausgabe. Hg. und kommentiert von Ralf Georg Czapla und Franca Victoria Schankweiler, Bonn 2012, in: Internetportal Rheinische Geschichte, abgerufen unter: https://www.rheinische-geschichte.lvr.de/Verzeichnisse/Literaturschau/%2522meine-liebe-marie%2522-%25E2%2580%2593-%2522werthester-herr-professor%2522.-der-briefwechsel-zwischen-august-wilhelm-von-schlegel-und-seiner-bonner-haushaelterin-maria-loebel.-historisch-kritische-ausgabe.-hg.-und-kommentiert-von-ralf-georg-czapla-und-franca-victoria-schankweiler-bonn-2012/DE-2086/lido/57d264a6928489.49068324 (abgerufen am 06.12.2024)