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Epochen
Wissenschaftliche Quelleneditionen zur Geschichte des 20. Jahrhunderts – insbesondere was die Regionalgeschichte angeht – erscheinen angesichts des Umfangs des überlieferten Materials wie der berühmte Tropfen auf den heißen Stein. Dennoch sind sie nach wie vor richtig und wichtig für die wissenschaftliche Forschung. Staatliches Schriftgut wie Kabinettsprotokolle und Lageberichte - um nur zwei Beispiele zu nennen - sind wertvolle Überlieferungen, die Denken und Handeln dokumentieren und daher immer wieder herangezogen werden müssen. Allein schon auf Grund der ihnen zu Teil werdenden Aufmerksamkeit verdienen sie eine quellenkritische Publikation.
Bereits 1957 hatte Bernhard Vollmer die Berichte der Staatspolizeistelle und der Regierung Aachen ediert. Diesem Vorreiter folgten mit großem zeitlichem Abstand Editionen zu den preußischen Provinzen Pommern (1974), Hessen-Nassau (1985/86), Hannover (1986), Osnabrück (1995), Flensburg (1997), Brandenburg/Berlin (1998) und Sachsen (2006) sowie zu den Ländern Baden (1976) und Oldenburg (2002). Auf Reichsebene erschienen die "Meldungen aus dem Reich" (1984), die Lageberichte des SD von 1938 bis 1945. Im Projekt "Bayern in der NS-Zeit" (1977) haben die Herausgeber eine Auswahl lokaler Berichte veröffentlicht. Des Weiteren liegen die Berichte der Berliner Justiz aus der Kriegszeit (1986) vor.
Lange Zeit blieben Berichte aus der preußischen Rheinprovinz eine Lücke, die erfreulicherweise nun geschlossen werden konnte: Von dem auf drei Bände angelegten Editionsprojekt „Lageberichte rheinischer Gestapostellen“ sind 2012 der erste, 2014/15 die beiden Teile des zweiten Bandes und schließlich 2016 der abschließende dritte Band erschienen. Die seltsame Aufteilung des zweiten Bandes ist wohl der Überlegung entsprungen, jedem der drei Jahre des entsprechenden Zeitraum von 1934 bis 1936 jeweils einen Band zu widmen.
Als Bearbeiter fungieren Anselm Faust, Bernd-A. Rusinek und Burkhard Dietz. Rusinek hatte das Konzept entworfen, musste aber aus beruflichen Gründen das Projekt vor Beendigung verlassen. Faust und Dietz brachten die Bände zur Druckreife.
Der von den Bearbeitern gewählte Raum ist – nach dem Vorbild der bereits vorliegenden Editionen – die ehemalige preußische Rheinprovinz. Diese hatte fünf Stapostellen, jeweils eine in jedem rheinischen Regierungsbezirk, also in Aachen, Düsseldorf, Koblenz, Köln und Trier.
In vier Archiven sind 91 Berichte aufgefunden worden, der Zeitraum reicht vom Frühjahr 1934 bis März 1936. Die Überlieferung der monatlichen Berichte ist nicht vollständig erhalten geblieben. Daher wurde zum Schließen der Lücken als Ersatz- bzw. Parallelüberlieferung die ebenfalls monatliche Berichterstattung der Regierungspräsidenten herangezogen. Es spricht einiges für diese Entscheidung. Einzuwenden ist nur, dass somit eine Edition der restlichen Berichte der Regierungspräsidenten kaum mehr erfolgen wird und diese im Schatten der nunmehr veröffentlichten weniger Beachtung finden könnten. Dabei sind die unterschiedlichen Schwerpunktsetzungen und Beurteilungen der beiden berichterstattenden Verwaltungen interessant. Damit sie ebenfalls einfacher als Quelle herangezogen werden können, wäre in diesem Falle zumindest eine digitale Edition wünschenswert.
Völlig richtig ist die Aufnahme der von Vollmar bereits edierten Berichte. Eine Nichtaufnahme hätte ein mühseliges Suchen bedeutet und einen veralteten Wissensstand weiter mitgeschleppt.
Eine Einleitung zur Geschichte der Geheimen Staatspolizei im Rheinland (Organisation und Personal) und zu deren Berichterstattung (als historische Quelle, Überlieferung und Edition) findet sich im ersten Band. In allen drei Bänden folgt eine historische Einführung, die sich mit dem Inhalt der Lageberichte beschäftigt. Hier werden zunächst ein Überblick zur Entwicklung des jeweiligen Berichtsjahrs mit seinen politischen Besonderheiten und dann Erläuterungen bzw. Zusammenfassungen zu den einzelnen Themenfeldern der Berichterstattung gegeben. Diese orientiert sich am Aufbau der Lageberichte, der seit Dezember 1933 vom Geheimen Staatspolizeiamt in Berlin formal und inhaltlich im Detail vorgeschrieben war, aber auch bei Bedarf ergänzt werden konnte.
Die Berichterstattung erfolgte über wirtschaftliche, soziale, kirchliche und politische Geschehnisse, die damit verbundenen Stimmungen und Tendenzen, auf die hier inhaltlich nicht eingegangen werden soll. Ziel war die Erforschung „aller staatsgefährlichen Bestrebungen“, um sie dann durch staatspolizeiliche Maßnahmen zu bekämpfen. Als Quelle dienten Ermittlungsakten der Staatspolizei, Denunziationen und V-Leute sowie Berichte der lokalen Polizeibehörden und NSDAP-Parteistellen, aber auch andere Behörden wie Arbeitsämter, Finanzämter, Schulämter und Vertretungen der Wirtschaft wie Industrie- und Handelskammern. Die Berichte sollten ungeschminkt die tatsächliche Lage wiedergeben. Das taten sie und zeigten eben auch die Fehler und Selbsttäuschungen der NS-Politik auf. Doch so genau wollte es die Führungsspitze des Regimes dann doch nicht wissen. Der Vorwurf, die Berichte seien zu pessimistisch und würden damit selbst zur Verschlechterung der Lage beitragen, bedeutete gleichzeitig ihr Ende. Die später begonnene SD-Berichterstattung wurde 1943/44 mit der gleichen Begründung eingestellt.
Der Abdruck erfolgt in zeitlicher Abfolge nach Berichtsmonat und innerhalb dieser geografisch in Nord-Süd-Richtung, also Düsseldorf, Aachen, Köln, Koblenz, Trier. Eine Reihung der Berichte in geographischer Folge hätte auch ihren Reiz gehabt, da Verfasser regionaler oder lokaler Studien ja meist nur mit einer Stapostelle zu tun und die Entwicklung bestimmter Sachverhalte im Blick haben. So aber lassen sich die zeitgleichen Berichte auf Gemeinsamkeiten und Unterschiede untersuchen.
Jeder Band enthält im Anhang Kurzbiographien, ein Abkürzungsverzeichnis, Quellen und ausgewählte Literaturangaben sowie ein Personen-, Orts- und Sachregister. Im dritten und letzten Band findet sich dankenswerterweise ein alle Bände umfassendes Personen-, Orts- und Sachregister.
Der die Edition begleitende Kommentarbereich in den Fußnoten informiert über Personen, Orte und Hintergründe von Ereignissen. Die regionalen und lokalen Details der Lageberichte sind von den Bearbeitern sicherlich nach bestem Wissen und Gewissen recherchiert worden. Hier könnten gegenwärtige und zukünftige regionale bzw. lokale Forschungen noch interessante und wichtige Einzelheiten beitragen. Daher wäre der Vorschlag einer parallelen Veröffentlichung im Internet mit einer redaktionierten Feedback-Funktion, die weitere Ergänzungen und Erläuterungen durch die Nutzer erlaubt, um möglichweise diese weiteren Erkenntnisse festzuhalten und zu präsentieren.
Darüber hinaus besteht die Hoffnung auf weitere Editionen von Lageberichten, vielleicht zunächst auf Kreisebene und schließlich auf lokaler Basis. Es ist jedoch anzunehmen, dass die Menge der Überlieferung mit jeder Stufe nach unten abnimmt.
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Klein, Ansgar S., Faust, Anselm/Rusinek, Bernd-A./Dietz, Burkhard (Bearb.), Lageberichte rheinischer Gestapostellen, 3 Bände (Publikationen der Gesellschaft für rheinische Geschichtskunde, 81), Düsseldorf 2012-2016, in: Internetportal Rheinische Geschichte, abgerufen unter: https://www.rheinische-geschichte.lvr.de/Verzeichnisse/Literaturschau/faust-anselmrusinek-bernd-a.dietz-burkhard-bearb.-lageberichte-rheinischer-gestapostellen-3-baende-publikationen-der-gesellschaft-fuer-rheinische-geschichtskunde-81-duesseldorf-2012-2016/DE-2086/lido/5d1b2429b07629.71066905 (abgerufen am 28.03.2023)