Schmid, Kurt Werner/Kampschulte, Renate/Brittinger, Günter/Eigler, Friedrich Wilhelm (Hg.), Tradition und Innovation. 100 Jahre: Von den Städtischen Krankenanstalten zum Universitätsklinikum Essen, 1909 bis 2009, Krefeld 2010

551 S., ISBN 978-3-923140-04-6

Ralf Forsbach (Siegburg)

An Ein­rich­tun­gen des Ge­sund­heits­we­sens ist es üb­lich ge­wor­den, zu Ju­bi­lä­en re­prä­sen­ta­ti­ve Fest­schrif­ten vor­zu­le­gen. Als Her­aus­ge­ber fun­gie­ren oft füh­ren­de Me­di­zi­ner des Hau­ses, die Au­to­ren sind meis­tens en­ga­gier­te Ärz­te oder für ei­ne flot­te Schrei­be be­kann­te Pu­bli­zis­ten. Manch­mal en­den der­ar­ti­ge Pro­jek­te im De­sas­ter, et­wa als im ver­gan­ge­nen Jahr die Ber­li­ner Cha­rité ih­re pla­giat­be­haf­te­te Fest­schrift zu­rück­zie­hen muss­te (1). Mit Ge­schichts­wis­sen­schaft hat all dies we­nig zu tun.

Ent­spre­chend skep­tisch nimmt man ei­nen 2010 in zwei­ter Auf­la­ge er­schie­ne­nen Band zur Hand, der aus An­lass des 100-jäh­ri­gen Be­ste­hens des Uni­ver­si­täts­kli­ni­kums Es­sen und sei­ner städ­ti­schen Vor­gän­ge­r­an­stalt er­ar­bei­tet wor­den ist. Als Au­to­ren des knapp 200-sei­ti­gen Haupt­teils zur ge­schicht­li­chen Ent­wick­lung wer­den der stell­ver­tre­ten­de ärzt­li­che Di­rek­tor Kurt Wer­ner Schmid, der Di­rek­tor der Ab­tei­lung Hä­ma­to­lo­gie Gün­ter Brit­tin­ger, der eme­ri­tier­te ehe­ma­li­ge Lei­ter der Kli­nik für All­ge­mein- und Trans­plan­ta­ti­ons­chir­ur­gie Fried­rich Wil­helm Eig­ler und die Lei­te­rin der De­ka­nats­ver­wal­tung Re­na­te Kampschul­te ge­nannt. Of­fen­her­zig ge­ben die Au­to­ren in ih­rer „Ein­füh­run­g“ zu, dass für ihr Buch das 1981 er­schie­nen Werk des frü­he­ren ärzt­li­chen Di­rek­tors Wal­ter Mül­ler und ei­ne Fest­schrift zum 25-jäh­ri­gen Ju­bi­lä­um der Me­di­zi­ni­schen Fa­kul­tät von 1988 „als Grund­la­ge“ ge­dient ha­ben (S. 24) (2). 

Es folgt ei­ne Chro­no­lo­gie, die sich an den fett ge­druck­ten Jah­res­zah­len am Sei­ten­rand ori­en­tiert. Man liest von der Kran­ken­haus­land­schaft Es­sens aus­gangs des 19. Jahr­hun­derts, von kom­mu­nal­po­li­ti­schen Ent­schei­dun­gen, Stif­tern und Grund­stücks­käu­fen. Da­bei schrei­ben die Au­to­ren nicht al­lein ei­ne Er­folgs­ge­schich­te, son­dern wech­seln bis­wei­len die Per­spek­ti­ve und zi­tie­ren zeit­ge­nös­si­sche Kri­tik – bei­spiels­wei­se den in der Es­se­ner Volks­zei­tung ge­druck­ten Ta­del an den für die Er­öff­nungs­fei­er der städ­ti­schen An­stal­ten be­reit­ge­stell­ten 5.000 Mark. Die Ein­be­zie­hung und der Ab­druck von his­to­ri­schen Zei­tungs­ar­ti­keln und Pho­tos ge­hö­ren zu den Stär­ken des Buchs, auch die Dar­stel­lung man­cher orts­be­zo­ge­ner so ge­nann­ter „Fak­ten“. So er­fährt man in zwei Sät­zen vom Be­such Adolf Hit­lers in den Städ­ti­schen Kran­ken­an­stal­ten am 16.7.1938 (S. 95).

An der ana­ly­ti­schen Durch­drin­gung des Stoffs aber man­gelt es. Dies gilt auch für das den Na­tio­nal­so­zia­lis­mus be­tref­fen­de Ka­pi­tel. Man kön­ne „es si­cher­lich als ei­nen Se­gen für die Städ­ti­schen Kran­ken­an­stal­ten in Es­sen be­trach­ten, in der NS-Zeit ei­ne nicht-uni­ver­si­tä­re me­di­zi­ni­sche Ein­rich­tung ge­we­sen zu sein“. Als städ­ti­sche An­stalt ha­be man der „Ver­stri­ckung von Ärz­ten und der me­di­zi­ni­schen For­schung in die NS-Me­di­zin“ weit­ge­hend ent­kom­men kön­nen (S. 79). Im­mer­hin wer­den ein­zel­ne Op­fer­schick­sa­le – vor al­lem die des jü­di­schen Chef­arz­tes Ri­chard Hess­berg und des re­gime­kri­ti­schen Chef­arz­tes Ot­to Bos­sert – vor­ge­stellt. Wir er­fah­ren vom re­la­ti­ven Ab­sin­ken der Pa­ti­en­ten­zah­len. Die städ­ti­sche An­stalt rutsch­te von der ers­ten auf die drit­te Stel­le. Be­lieb­ter wa­ren in Es­sen nun das ka­tho­li­sche Eli­sa­beth­kran­ken­haus und das evan­ge­li­sche Kran­ken­haus der Huy­y­sen-Stif­tung. 

In dem knapp ein­sei­ti­gen Ab­schnitt über die in der chir­ur­gi­schen und in der gy­nä­ko­lo­gi­schen Kli­nik vor­ge­nom­men Zwangs­ste­ri­li­sa­tio­nen ver­misst man nicht nur Schät­zun­gen zur Zahl der Op­fer, son­dern auch – wie im ge­sam­ten Buch – ei­nen Ver­weis auf die For­schungs­li­te­ra­tur. Da­für wer­den pro­ble­ma­ti­sche Theo­ri­en wie die trans­por­tiert, die ver­bre­che­ri­schen Ope­ra­tio­nen sei­en 1939 deut­lich re­du­ziert wor­den, weil die Macht­ha­ber ei­ne „‘Eu­nu­chen­ar­mee‘ auf­grund zwangs­ste­ri­li­sier­ter Sol­da­ten“ be­fürch­tet hät­ten (S. 89). Auch der ei­ne Satz zu den na­tio­nal­so­zia­lis­ti­schen „Eu­tha­na­sie“-Ak­tio­nen kann nicht über­zeu­gen. Da die Es­se­ner Ner­ven­kli­nik „nur ‚heil­ba­re‘ Fäl­le von ‚Schwach­sinn‘ be­han­del­t“ ha­be, sei es hier nicht zu den „ge­fürch­te­ten Ab­trans­por­te[n] nach dem Eu­tha­na­sie-Er­mäch­ti­gungs­schrei­ben“ ge­kom­men. Zu un­ter­su­chen wä­re, ob in Es­sen be­han­del­te psy­chisch Kran­ke mit­tel­bar – al­so et­wa nach Über­wei­sung in ei­ne Heil- und Pfle­ge­an­stalt – in ei­ne der Tö­tungs­an­stal­ten ge­lang­ten. 

Je wei­ter sich die Dar­stel­lung der Ge­gen­wart nä­hert, des­to stär­ker aus­ge­prägt ist der de­skrip­ti­ve Stil. Er­war­tun­gen weckt ein Satz wie die­ser: „Am Bei­spiel der Ge­schich­te von Frau­en- und Kin­der­kli­nik lässt sich ein­drucks­voll be­schrei­ben, wie auch der ge­ne­ra­ti­ons­be­ding­te Zeit­geist im Zu­sam­men­hang mit wis­sen­schaft­li­chen und tech­no­lo­gi­schen Er­kennt­nis­sen und Er­run­gen­schaf­ten der Me­di­zin die Struk­tu­ren des Es­se­ner Uni­ver­si­täts­kli­ni­kums ma­ß­geb­lich be­ein­fluss­ten“ (S. 194). Es folgt ei­ne Auf­zäh­lung von Be­ru­fun­gen und Ab­tei­lungs­grün­dun­gen.

Ei­ne ein­ge­streu­te, von sei­nem Nach­fol­ger Achim K. H. Wes­sing ver­fass­te Bio­gra­phie des be­deu­ten­den Oph­thal­mo­lo­gen Gerd Mey­er-Schwi­ckerath ist ha­gio­gra­phi­scher Na­tur. Des­sen 1959 er­folg­te Be­ru­fung wird als „ein wah­rer Glücks­fall und der Be­ginn ei­ner un­glaub­li­chen Er­folgs­ge­schich­te“ (S. 219) be­schrie­ben. Be­son­ders le­sens­wert ist da­ge­gen der Bei­trag über die Rot­kreuz-Schwes­tern, ver­fasst von dem His­to­ri­ker und Er­zie­hungs­wis­sen­schaft­ler Vol­ker van der Locht, der Obe­rin Clau­dia Artz und der Pfle­ge­di­rek­to­rin Ire­ne Mai­er. Plas­tisch wird hier der All­tag der Kran­ken­pfle­ge­rin­nen vor Au­gen ge­führt, de­ren Vor­ge­setz­te in der Wei­ma­rer Re­pu­blik die Ein­füh­rung ei­ner 48-Stun­den­wo­che mit Acht­stun­den­tag er­folg­reich ab­lehn­ten, weil sie auf­grund ei­ner ent­spre­chen­den Ar­beits­zeit­re­du­zie­rung „Schre­ckens­vi­sio­nen völ­lig un­ter­ver­sorg­ter Pa­ti­en­ten“ ent­wi­ckel­ten (S. 263). Auch die Kom­ple­xi­tät des The­mas Kran­ken­pfle­ge im „Drit­ten Reich“ wird deut­lich. Ne­ben dem Dienst an den Kran­ken stand die Ver­pflich­tung der Rot-Kreuz-Schwes­tern, Adolf Hit­ler Treue zu schwö­ren, hin­ter der Front und in Hei­mat­la­za­ret­ten Sol­da­ten wie­der ein­satz­fä­hig zu ma­chen so­wie zur Un­ter­hal­tung der Land­ser bei­zu­tra­gen.

Wei­te­re 170 Sei­ten des Buchs sind der Selbst­dar­stel­lung ein­zel­ner For­schungs­ein­rich­tun­gen am Uni­ver­si­täts­kli­ni­kum ge­wid­met. Um­fas­sen­de Auf­lis­tun­gen un­ter an­de­rem der Rot­kreuz­o­be­r­innen, De­ka­ne, Be­ru­fun­gen und Ha­bi­li­ta­tio­nen so­wie ein de­tail­lier­tes Re­gis­ter er­gän­zen die Fest­schrift, die auch auf­grund ih­rer Il­lus­trie­rung si­cher nicht zu den schlech­tes­ten ih­rer Gat­tung zählt. Sie wird ei­ner noch zu schrei­ben­den ge­schichts­wis­sen­schaft­li­chen Dar­stel­lung hilf­reich sein. 

An­mer­kun­gen

(1) Ein­häupl, Karl Max/Gan­ten, Det­lev /Hein, Ja­kob un­ter Mit­ar­beit von Fal­ko Hen­nig, 300 Jah­re Cha­rité – im Spie­gel ih­rer In­sti­tu­te, Ber­lin/New York 2010.

(2) Mül­ler, Wal­ter, Vom Wöch­ne­rin­nen­asyl zum Uni­ver­si­täts­kli­ni­kum. Die Ge­schich­te des Kran­ken­haus­we­sens in Es­sen, Müns­ter 1981; Eig­ler Fried­rich Wil­helm /Gros­se-Wil­de, H /Zöl­ler, O (Hg.), Me­di­zi­ni­sche Fa­kul­tät der Uni­ver­si­tät-Ge­samt­hoch­schu­le-Es­sen 1963–1988, Bo­chum 1988.  

Zitationshinweis

Bitte geben Sie beim Zitieren dieses Beitrags die exakte URL und das Datum Ihres Besuchs dieser Online-Adresse an.

Forsbach, Ralf, Schmid, Kurt Werner/Kampschulte, Renate/Brittinger, Günter/Eigler, Friedrich Wilhelm (Hg.), Tradition und Innovation. 100 Jahre: Von den Städtischen Krankenanstalten zum Universitätsklinikum Essen, 1909 bis 2009, Krefeld 2010, in: Internetportal Rheinische Geschichte, abgerufen unter: https://www.rheinische-geschichte.lvr.de/Verzeichnisse/Literaturschau/schmid-kurt-wernerkampschulte-renatebrittinger-guentereigler-friedrich-wilhelm-hg.-tradition-und-innovation.-100-jahre-von-den-staedtischen-krankenanstalten-zum-universitaetsklinikum-essen-1909-bis-2009-krefeld-2010/DE-2086/lido/57d26a1776af38.19216562 (abgerufen am 12.10.2024)