Gerhard von Are

Propst des Cassiusstifts in Bonn (um 1100–1169)

Josef Niesen (Bonn)

Tumba Gerhards von Are, Zeichnung von Joseph Michael Laporterie aus dem Jahr 1788 (Ausschnitt). (LVR-Amt für Denkmalpflege im Rheinland)

Ger­hard von Are war der wohl be­deu­tends­te Propst de­s Bon­ner St. Cas­si­us­stifts; er war der Bau­herr der Müns­ter­kir­che in ih­rer heu­ti­gen Ge­stalt. Zu­dem is­t ­sein Na­me eng ver­knüpft mit der Er­he­bung der Ge­bei­ne der Hei­li­gen Cas­si­us und Flo­ren­ti­us im Jah­re 1166.

Ge­bo­ren wur­de er um 1100 auf Burg Are ober­halb von Al­te­n­ahr, dem Stamm­sitz des gleich­na­mi­gen rhei­ni­schen Adels­ge­schlechts, als zwei­ter Sohn des Gra­fen (co­mes) Theo­de­rich I. (be­zeugt 1087-1126), dem Er­bau­er der Burg und ers­tem na­ment­lich be­kann­ten In­ha­ber des Gra­fen­am­tes im Ahr­gau. Ger­hards äl­te­rer Bru­der, Lo­thar I. (ge­stor­ben 1140) über­nahm das vä­ter­li­che Er­be. Die jün­ge­ren Brü­der wa­ren: Fried­rich II. von Are, Bi­schof von Müns­ter (Epis­ko­pat 1152-1168), Ul­rich (ge­stor­ben 1197), Vogt der Ab­tei Ma­ria Laach und Be­grün­der der Li­nie Are-Nür­burg, Ot­to (ge­stor­ben 1162), Be­grün­der der Li­nie Are-Hoch­sta­den, der der spä­te­re Köl­ner Erz­bi­schof Kon­rad von Hoch­sta­den ent­stamm­te, un­d Hu­go (ge­stor­ben 1179), Köl­ner Dom­de­chant. 

Ger­hards ge­nau­es Ge­burts­jahr liegt, eben­so wie sei­ne Ju­gend, Bil­dung und Er­zie­hung, we­gen feh­len­der Quel­len im Dun­keln. In Er­schei­nung tritt er erst­mals in ei­ner Ur­kun­de des Köl­ner Erz­bi­schof­s Fried­rich I. aus dem Jahr 1124, in der er als Ger­har­dus pre­po­si­tus Bun­nen­sis in der Zeu­gen­lis­te ­ge­nannt ist.[1]  Da laut ei­ner frü­he­ren Ur­kun­de vom 11. Fe­bru­ar des­sel­ben Jah­res noch Ek­ke­bert als Stell­ver­tre­ter des vor­he­ri­gen, seit 1117 nicht mehr er­wähn­ten Props­tes Sieg­fried die Ge­schäf­te führ­te, kann man Ger­hards Er­nen­nung zum Vor­ste­her des St. Cas­si­us­stifts für das Jahr 1124 an­neh­men. An­lass für Ger­hards Auf­stieg in das ein­fluss­rei­che Amt war wohl der un­mit­tel­bar zu­vor statt­ge­fun­de­ne und dem ge­schick­ten po­li­ti­schen Tak­tie­ren sei­nes Va­ters ge­schul­de­te Ver­kauf des Klos­ters Stein­feld aus Are­schem Be­sitz an den Köl­ner Erz­bi­schof. Durch das Amt­des Bon­ner Stift­sprops­tes ge­lang den Gra­fen von Are der Zu­gang zum geist­li­chen Füh­rungs­kreis de­s Köl­ner Erz­stifts und die Aus­deh­nung ih­res­ ­Macht­be­reich bis zum Rhein. 

 

Als Ger­hard sein neu­es Amt an­trat, war es um die Gü­ter des Stifts nicht zum Bes­ten be­stellt; es be­saß nicht ein­mal mehr das nach den kirch­li­chen Vor­schrif­ten er­for­der­li­che Hos­pi­tal. So war es zu­nächst ei­nes sei­ner wich­tigs­ten An­lie­gen, den Be­sitz des Stif­tes zu fes­ti­gen und durch wei­te­re Er­wer­bun­gen zu meh­ren. In nur sie­ben Jah­ren ver­grö­ßer­te er das Stifts­gut der­ge­stalt, dass Papst In­no­zenz II. (Pon­ti­fi­kat 1130–1143) am 31.3.1131 in ei­ner um­fang­rei­chen Ur­kun­de dem Stift den Be­sitz von ins­ge­samt 30 Kir­chen, ei­ner Ka­pel­le und fünf Teil­rech­ten an Kir­chen, meh­re­ren Hö­fen, Wein­ber­gen und Wal­dun­gen, da­zu Ob­la­tio­nen, Stol­ge­büh­ren und Zehnt­ein­nah­men be­stä­ti­gen konn­te.[2]  Das Ge­biet er­streck­te sich im wei­ten Um­kreis um die Stadt Bonn, durch den ge­sam­ten Au­el­gau und Ahr­gau bis hin zum Ei­fel­gau, von Al­ten­kir­chen bis Blan­ken­heim und von Daun bis Rheidt (heu­te Stadt Nie­der­kas­sel). Ne­ben wei­te­ren Hö­fen, Wein­ber­gen und Län­de­rei­en folg­ten spä­ter noch die Bur­gen Dra­chen­fels (1149) und Pop­pels­dorf (zwi­schen 1149 und 1166) zur Si­che­rung des um­fang­rei­chen Be­sit­zes. Ge­schick­ter­wei­se war Ger­hard von An­be­ginn dar­auf be­dacht, die er­wor­be­nen Gü­ter durch ei­ne ge­son­der­te Ge­neh­mi­gung des Kö­nigs vogt­frei stel­len zu las­sen, um sie der welt­li­chen Ge­richts­bar­keit zu ent­zie­hen, was dem Stift in der Fol­ge grö­ß­te Un­ab­hän­gig­keit brach­te. 1145 ge­lang es ihm so­gar Kraft sei­nes Am­tes als Ar­ch­idia­kon, die en­ge­re Im­mu­ni­tät des Cas­si­us­stifts, die für die Kir­che selbst und die um­lie­gen­den Kle­ri­ker­häu­ser be­stand, auf sämt­li­che props­tei­li­chen Gü­ter in Bonn und der di­rek­ten Um­ge­bung aus­deh­nen zu las­sen. Selbst die Mi­nis­te­ria­len, Stifts­die­ner und Stifts­hand­wer­ker so­wie die zum Kir­chen­bau zu­ge­zo­ge­nen Bau­hand­wer­ker (alio­rum of­fi­cio­rum ar­ti­fices), egal ob sie im Stift oder der Stadt wohn­ten, wur­den nun der props­tei­li­chen Ge­richts­bar­keit un­ter­wor­fen.

Doch Ger­hard bau­te nicht nur die wirt­schaft­li­che Macht des Stifts aus, son­dern auch des­sen geist­li­che Vor­rang­stel­lung. Da­zu schärf­te er vor al­lem das mit der Bon­ner Props­tei ver­knüpf­te Ar­ch­idia­ko­nal­recht, das bis da­hin noch nicht in sei­nen Be­fug­nis­sen und Rech­ten fest­ge­legt war, und schuf erst­mals kla­re Rechts­ver­hält­nis­se. Zu­nächst zog er die Füh­rung der vier zum Bon­ner Ar­ch­idia­ko­nat ge­hö­ren­den De­ka­na­te an sich, in­dem er die bei­den un­bot­mä­ßi­gen De­ka­na­te Zül­pich­gau und Ahr­gau durch ein De­kret Papst In­no­zenz‘ II. zum Ge­hor­sam zwang. Dann ließ er sich in ei­nem ge­nia­len Schach­zug am 25.5.1135 un­ter den per­sön­li­chen Schutz der Ku­rie stel­len und er­lang­te als spe­cia­lis fi­li­us St. Eccle­siae Ro­ma­nae (be­son­de­rer Sohn der Hei­li­gen Rö­mi­schen Kir­che) das Pri­vi­leg der frei­en Ap­pel­la­ti­on an den apos­to­li­schen Stuhl un­ter Um­ge­hung sei­nes Erz­bi­schofs, was ihn weit­ge­hend un­ab­hän­gig von der Köl­ner Kir­che wer­den ließ. Von die­sem Recht mach­te Ger­hard im In­ter­es­se sei­nes Stifts spä­ter reich­lich Ge­brauch, auch wenn die deut­schen Bi­schö­fe ver­geb­lich da­ge­gen pro­tes­tier­ten. Der nächs­te Schritt war die Er­lan­gung des frei­en Vi­si­ta­ti­ons­rechts, das sich Ger­hard in ei­ner Ur­kun­de vom 16.12.1139 von Papst In­no­zenz II. be­stä­ti­gen ließ.[3]  Be­mer­kens­wert ist da­bei die Straf­ge­walt, die der Papst in die Hän­de des Bon­ner Props­tes leg­te. Soll­te es näm­lich der Köl­ner Erz­bi­schof trotz ei­ner Auf­for­de­rung Ger­hards ver­säu­men, die Geg­ner der Bon­ner Props­tei zu stra­fen, so soll­te der Propst das Recht ha­ben, die­se nach den üb­li­chen Vor­la­dun­gen mit Bann und In­ter­dikt zu be­le­gen.

Den Hö­he­punkt in Ger­hards Kar­rie­re bil­de­te das Jahr 1156, in dem er nach dem Tod des Köl­ner Erz­bi­schof­s Ar­nolds II. von Wied vom Dom­ka­pi­tel als Nach­fol­ger für ­den Erz­stuhl ge­wählt wur­de. Doch muss­te Ger­hard sich durch die bei der Wahl ent­stan­de­ne Patt­si­tua­ti­on – kei­ner der bei­den Kon­tra­hen­ten konn­te die er­for­der­li­che Zwei­drit­tel­mehr­heit er­rei­chen – dem Schieds­spruch Kai­ser Fried­richs I. Bar­ba­ros­sa (Re­gie­rungs­zeit 1152-1190) un­ter­wer­fen, der Fried­rich II. von Berg den Vor­zug gab. 

Ger­hards grö­ß­te Le­bens­leis­tung be­stand al­ler­dings im Aus­bau der Bon­ner Müns­ter­ba­si­li­ka. Er ließ seit 1140 den ka­ro­lin­gi­schen Bau durch ei­nen ge­wal­ti­gen, von zwei Flan­ken­tür­men be­glei­te­ten Ost­chor er­wei­tern und an der Süd­sei­te der Kir­che ei­nen von Stifts­ge­bäu­den um­ge­be­nen Kreuz­gang er­rich­ten, der in sei­ner ge­schlos­se­nen Er­hal­tung heu­te ein­ma­lig im Rhein­land ist. Die mit ei­ner Zwerch­ga­le­rie ab­schlie­ßen­de drei­ge­schos­si­ge Ap­sis (Rhei­ni­scher Eta­gen­chor) mit ih­rer be­son­ders dif­fe­ren­zier­ten Ge­stal­tung war die ers­te ih­res Typs am Nie­der­rhein und präg­te für na­he­zu 100 Jah­re das Er­schei­nungs­bild vie­ler Kir­chen im rhei­ni­schen Raum durch Um- und Neu­bau­ten (bei­spiels­wei­se St. Ge­re­on in Köln oder Ab­tei­kir­che Ma­ria Laach). Die so ge­schaf­fe­ne, am 13.9.1153 ein­ge­weih­te gro­ße Ba­si­li­ka bil­de­te den fei­er­li­chen Rah­men für die Er­he­bung der Ge­bei­ne der Hei­li­gen Cas­si­us und Flo­ren­ti­us am 2.5.1166, die Ger­hard in An­we­sen­heit des Köl­ner Erz­bi­schof­s Rai­nald von Das­sel nach ei­ner ­Pro­zes­si­on über den Müns­ter­platz in kost­ba­ren Schrei­nen auf dem Hoch­al­tar ber­gen ließ. 

Zwei Jah­re dar­auf, am 23.2.1169 ver­starb Propst Ger­hard von Are nach ei­ner lan­gen, er­folg­rei­chen Amts­zeit von 45 Jah­ren und wur­de in der Cy­ria­cus­ka­pel­le im öst­li­chen Ka­pi­tel­haus des Kreuz­gangs des Bon­ner Müns­ters bei­ge­setzt. Durch ihn war das Prop­st­amt des Cas­si­us­stifts zur ei­ner der höchs­ten Wür­den in der Köl­ner Erz­diö­ze­se ge­wor­den. Wäh­rend sei­ner Amts­zeit er­lang­te das Stift elf Papstur­kun­den und ei­ne Kö­nigs­ur­kun­de, was in die­ser Häu­fung ein­ma­lig in der Ge­schich­te des Stifts ge­blie­ben ist.  

Anmerkungen

(1) H. Förs­ter, Ei­ne un­be­kann­te Ur­kun­de Erz­bi­schofs Fried­richs I. von Köln (1100-1131), in: An­na­len des His­to­ri­schen Ver­eins für den Nie­der­rhein 121 (1932) S. 132-133. 
(2) Gün­ther, Co­dex di­plo­ma­ti­cus Rhe­no-Mo­sel­la­nus, Teil 1, 
Nr. 104.
(3) Gün­ther, Co­dex di­plo­ma­ti­cus Rhe­no-Mo­sel­la­nus, Teil 1, 
Nr. 125.

Quellen

Brack­mann, Al­bert, Nie­der­rhei­ni­sche Ur­kun­den des 12. Jahr­hun­derts, in: An­na­len des His­to­ri­schen Ver­eins für den Nie­der­rhein 81 (1906), S. 112-130, be­son­ders S. 112-117.
Gün­ther, Wil­helm, Co­dex di­plo­ma­ti­cus Rhe­no-Mo­sel­la­nus, Teil 1, Ko­blenz 1822.
La­com­blet, Theo­dor Jo­seph, Ur­kun­den­buch für die Ge­schich­te des Nie­der­rheins, Band 4, Düs­sel­dorf 1840–1858, Nach­druck 1966.
Die Re­ges­ten der Erz­bi­schö­fe von Köln im Mit­tel­al­ter, Band 2, be­arb. von Ri­chard Knip­ping, Bonn 1901.

Literatur

Ba­der, Ute, Ge­schich­te der Gra­fen von Are bis zur Hoch­sta­den­schen Schen­kung (1246), Bonn 1979.
Höroldt, Diet­rich, Das Stift St. Cas­si­us zu Bonn von den An­fän­gen der Kir­che bis zum Jah­re 1580, 2. Auf­la­ge, Bonn 1984. Nie­sen, Jo­sef, Ger­hard von Are, Propst des Bon­ner St. Cas­si­us­stifts von 1124 bis 1169, in: Bon­ner Ge­schichts­blät­ter 57/58 (2008), S. 11-39.
Nie­sen, Jo­sef, Ger­hard von Are (um 1100-1169), in: Bio­gra­phisch-Bi­blio­gra­phi­sches Kir­chen­le­xi­kon 31 (2010), Sp. 500-501.
Nie­sen, Jo­sef, Bon­ner Per­so­nen­le­xi­kon, 3. Auf­la­ge, Bonn 2011, S. 163-164.
Oedi­ger, Fried­rich Wil­helm, Das Bis­tum Köln von den An­fän­gen bis zum En­de des 12. Jahr­hun­derts (Ge­schich­te des Erz­bis­tums Köln 1), 2. Auf­la­ge, Köln 1964, Nach­druck 1991.
Rey, Man­fred van, Bonn-St. Cas­si­us, in: Nord­rhei­ni­sches Klos­ter­buch, Teil 1, hg. von Man­fred Gro­ten [u. a.], Band 1, Sieg­burg 2009, S. 360-384. 

Kreuzgang des Bonner Münsters, Foto: Josef Niesen, 2011.

 
Zitationshinweis

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Niesen, Josef, Gerhard von Are, in: Internetportal Rheinische Geschichte, abgerufen unter: https://www.rheinische-geschichte.lvr.de/Persoenlichkeiten/gerhard-von-are/DE-2086/lido/57c6c7d2a3e018.63979389 (abgerufen am 28.03.2024)