Carl Lehr

Oberbürgermeister von Duisburg (1842-1919)

Hans Georg Kraume (Duisburg)

Carl Lehr, Porträtfoto. (Stadtarchiv Duisburg)

Dr. iur. Carl Edu­ard Fried­rich Lehr wird zu den be­deu­ten­den Duis­bur­ger Ober­bür­ger­meis­tern ge­rech­net; er hat in sei­ner fast 35-jäh­ri­gen Amts­zeit in der Pha­se der Hoch­in­dus­tria­li­sie­rung die Ent­wick­lung Duis­burgs zur mo­der­nen In­dus­trie-Groß­stadt und ih­ren ur­ba­nen Aus­bau be­trie­ben und be­glei­tet.

Lehr wur­de am 15.1.1842 als Sohn des evan­ge­li­schen Rechts­an­walts und Jus­tiz­rats Carl Lehr und sei­ner Frau Ma­ri­an­ne Hen­ri­et­te, ge­bo­re­ne Ben­der, in Me­sche­de ge­bo­ren und wuchs in Sie­gen auf. Nach dem Be­such des Gym­na­si­ums in Her­ford und der Rei­fe­prü­fung 1861 stu­dier­te er von 1861 bis 1864 zu­nächst Theo­lo­gie, dann Ju­ra in Bonn (dort trat der der Bur­schen­schaft Ale­man­nia bei) und Ber­lin. 1864 wur­de er Aus­kulta­tor beim Kam­mer­ge­richt Ber­lin, 1870 Ge­richt­s­as­ses­sor und, nach Teil­nah­me am Deutsch-Fran­zö­si­schen Krieg 1870/1871, Kreis­rich­ter in Kirch­hun­dem, 1874 Kreis­rich­ter in Duis­burg und am 1.10.1879 Rich­ter am neu ein­ge­rich­te­ten Land­ge­richt Duis­burg. Schon zu­vor, am 5.8.1879, war er zum Bür­ger­meis­ter ge­wählt wor­den. Nach Ein­gang der kö­nig­li­chen Be­stä­ti­gung durch Ka­bi­netts­or­der vom 17.9.1879 und der Ent­las­sung aus dem Jus­tiz­dienst zum 1.11.1879 fand am 11.11.1879 die Amts­ein­füh­rung statt. Am 14.2.1881 wur­de ihm der Ti­tel Ober­bür­ger­meis­ter ver­lie­hen. Am 19.3.1891 er­folg­te die ein­stim­mi­ge Wie­der­wahl, am 21.1.1903 er­leb­te er als ein­zi­ger Duis­bur­ger Ober­bür­ger­meis­ter sei­ne ein­stim­mi­ge Wie­der­wahl auf Le­bens­zeit. Seit 1892 war er Mit­glied des preu­ßi­schen Her­ren­hau­ses auf Le­bens­zeit, am 26.7.1904 wur­de er zum Ge­hei­men Re­gie­rungs­rat er­nannt, seit 1908 ge­hör­te er dem Rhei­ni­schen Pro­vin­zi­al­land­tag an. Zu sei­nem 70. Ge­burts­tag am 15.1.1912 ver­lieh die Stadt ihm das Eh­ren­bür­ger­recht. Am 30.1.1914 leg­te er aus Ge­sund­heits­grün­den sein Amt nie­der und wur­de zum 30.6.1914 in den Ru­he­stand ver­setzt. Dienst­woh­nung und Thea­ter­lo­ge stan­den ihm aber wei­ter­hin zur Ver­fü­gung.

Ver­hei­ra­tet war er seit dem 31.8.1880 mit Ma­rie Oe­chel­häu­ser, Toch­ter des Kom­mer­zi­en­ra­tes Adolf Oe­chel­häu­ser und sei­ner Ehe­frau Li­na. Viel­fach hoch­ge­ehrt starb er am 7.2.1919 in Duis­burg. Sein Grab be­fin­det sich auf dem Al­ten Fried­hof am Stern­busch­weg.

Zu Be­ginn sei­ner Amts­zeit war Duis­burg ei­ne Pro­vinz­stadt mit cir­ca 39.000 Ein­woh­nern, die, erst 1873 kreis­frei ge­wor­den, in der Pha­se der Hoch­in­dus­tria­li­sie­rung be­grif­fen war und in den letz­ten sechs Jahr­zehn­ten ih­re Ein­woh­ner­zahl ver­sechs­facht hat­te. Bei sei­ner Pen­sio­nie­rung 1914 war die Pha­se der In­dus­tria­li­sie­rung und Ur­ba­ni­sie­rung weit­ge­hend ab­ge­schlos­sen, und Lehr hin­ter­ließ sei­nem Nach­fol­ger Karl Jar­res ei­ne der be­deu­tends­ten In­dus­trie- und Han­dels­städ­te mit dem grö­ß­ten Bin­nen­ha­fen der Welt und 253.000 Ein­woh­nern und zu­gleich ei­ne mo­der­ne, ur­ba­ne Groß­stadt.

1824 hat­te die In­dus­tria­li­sie­rung mit ei­ner Schwe­fel­säu­re­fa­brik be­gon­nen, seit der Mit­te des Jahr­hun­derts eta­blier­te sich die Ei­sen­in­dus­trie, die mit zahl­rei­chen Wer­ken bald zum be­herr­schen­den Wirt­schafts­zweig wur­de, der mehr als die Hälf­te der Ar­beit­neh­mer be­schäf­tig­te. Vor al­lem am Rhein­ufer reih­ten sich die Wer­ke der Gro­ßei­sen­in­dus­trie mit Hoch­ofen-, Stahl- und Walz­wer­ken so­wie Ma­schi­nen- und Brü­cken­bau­un­ter­neh­men.

1846 hat­te Duis­burg über die Köln-Min­de­ner Ei­sen­bahn­ge­sell­schaft den An­schluss an das wach­sen­de Ei­sen­bahn­netz er­reicht, die Rhei­ni­sche und die Ber­gisch-Mär­ki­sche Ei­sen­bahn­ge­sell­schaft wa­ren in den 1860er Jah­ren ge­folgt. Seit 1874 gab es ei­ne Ei­sen­bahn­brü­cke als ers­te fes­te Rhein­brü­cke, 1885 wur­de ein Zen­tral­bahn­hof er­rich­tet.

Von 1828 bis 1832 hat­te ein pri­va­ter "Rhein-Ka­nal-Ak­ti­en­ver­ein" ei­ne Ka­nal­ver­bin­dung zum Rhein her­ge­stellt, um An­schluss an die Rhein­schiff­fahrt zu ge­win­nen. Er­gänzt wur­de sie durch den 1844 fer­tig­ge­stell­ten Ruhr­ka­nal so­wie durch ent­spre­chen­de Ha­fen­an­la­gen. Als in den 1880er Jah­ren wei­te­re In­ves­ti­tio­nen er­for­der­lich wur­den, ins­be­son­de­re die An­la­ge ei­nes Ha­fen­bahn­hofs, traf die Stadt die wohl wich­tigs­te Ent­schei­dun­gen in der Amts­zeit Lehrs und er­warb 1889 die ge­sam­ten Ka­nal- und Ha­fen­an­la­gen, da sie in den Hä­fen „den her­vor­ra­gends­ten Fak­tor ih­rer Ent­wick­lung" er­kann­te. Um­fang­rei­che Aus­bau­maß­nah­men folg­ten in den nächs­ten Jah­ren, zeit­wei­se über­run­de­te der Um­schlag der Duis­bur­ger Hä­fen den der Ruhr­or­ter. Da auch Ruhr­ort um­fang­rei­che Ha­fen­er­wei­te­run­gen plan­te, droh­te hier ein kon­tra­pro­duk­ti­ver Wett­be­werb, den Lehr früh­zei­tig vor­her­sah. Zu der Zu­sam­men­le­gung der bei­den Ha­fen­an­la­gen un­ter ei­ner ge­mein­sa­me Ver­wal­tung, für die er - zu­nächst ver­geb­lich - plä­diert hat­te, kam es dann 1905, mit Lehr als Vor­sit­zen­dem des Ha­fen­bei­rats. Zu­sam­men mit den Pri­vat­hä­fen der In­dus­trie­be­trie­be bil­de­ten die Hä­fen nun das grö­ß­te Bin­nen­ha­fen­sys­tem der Welt. Noch im sel­ben Jahr wur­den auch die be­tei­lig­ten Städ­te Duis­burg, Ruhr­ort und Mei­de­rich zu ei­ner Ge­samt­stadt mit 183.000 Ein­woh­nern ver­ei­nigt.

Zu den zahl­rei­chen Maß­nah­men der In­fra­struk­tur­ver­bes­se­rung, die in Lehrs Amts­zeit ge­tä­tigt wur­den, zähl­te der Auf­bau ei­nes zu­nächst pri­va­ten Stra­ßen­bahn­sys­tems, das ab 1881 nicht nur das ei­ge­ne Stadt­ge­biet er­schloss, son­dern auch Ver­bin­dun­gen zu den Nach­bar­städ­ten schuf, zu­nächst nach Ruhr­ort, dann nach Broich (1904 zu Mül­heim), spä­ter auch zum links­rhei­ni­schen Hom­berg. Zu die­sem Sys­tem ge­hör­te auch die 1899 ein­ge­rich­te­te Klein­bahn nach Düs­sel­dorf, die 1913 in städ­ti­schen Be­sitz über­ging und spä­ter als D-Bahn be­kannt wur­de.

Den neu­en Ver­kehrs­be­dürf­nis­sen wur­de auch das Stra­ßen­sys­tem an­ge­passt durch Aus­bau­ten und Ver­brei­te­run­gen, mit brei­ten Durch­brü­chen durch das klein­tei­li­ge mit­tel­al­ter­li­che Stra­ßen­ras­ter. Zu der Ei­sen­bahn­brü­cke von 1874 trat 1912 ei­ne wei­te­re, 1907 wur­de als drit­te Rhein­brü­cke ei­ne Stra­ßen­brü­cke zwi­schen Ruhr­ort und Hom­berg er­rich­tet. Im sel­ben Jahr wur­de die Brü­cken­ver­bin­dung nach Ruhr­ort er­neu­ert (1914 wur­de sie Ober­bür­ger­meis­ter-Lehr-Brü­cke ge­nannt), be­reits 1904 wur­de die Stra­ßen­brü­cke über die Ruhr nach Mei­de­rich dem Ver­kehr über­ge­ben. Die neu­en Stra­ßen­brü­cken dien­ten auch dem Stra­ßen­bahn­ver­kehr. 1912 wur­de mit städ­ti­scher Un­ter­stüt­zung ein Flug­ha­fen er­öff­net.

Die schnell wach­sen­de Be­völ­ke­rung und häu­fi­ge Epi­de­mi­en ver­an­lass­ten neue sa­ni­tä­re Ein­rich­tun­gen als "po­li­zei­li­che Ge­mein­de­an­stal­ten" mit An­schluss­zwang. Da­zu ge­hör­te der Aus­bau des Trink­was­ser­net­zes, ein um­fas­sen­des Ka­na­li­sa­ti­ons­sys­tem mit Klär­an­la­ge eben­so wie ein zen­tra­les Schlacht­haus, die Stra­ßen­rei­ni­gung und die Müll­ab­fuhr. Au­ßer­dem wur­de ei­ne mo­der­ne Ba­de­an­stalt er­öff­net.

Ei­ne zu­nächst pri­vat ge­führ­te "Gas-Er­leuch­tungs-Ge­sell­schaft" wur­de ab 1880 im Sin­ne der öf­fent­li­chen Da­seins­vor­sor­ge in städ­ti­sches Ei­gen­tum über­führt und mit dem städ­ti­schen Was­ser­werk ver­bun­den. 1889 wur­de ein städ­ti­sches Elek­tri­zi­täts­werk, zu­nächst nur zur Ver­sor­gung des Ha­fens, in Be­trieb ge­nom­men. Ab 1903 folg­te ein Werk zur Ver­sor­gung der gan­zen Stadt.

Dem Be­stre­ben, Duis­burg als mehr denn ei­ne In­dus­trie-Ag­glo­me­ra­ti­on er­schei­nen zu las­sen, ent­spra­chen re­prä­sen­ta­ti­ve Neu­bau­ten und kul­tu­rel­le Ein­rich­tun­gen. So konn­te 1902 ein re­prä­sen­ta­ti­ves neu­es Rat­haus ein­ge­weiht wer­den, die gleich da­ne­ben be­find­li­che go­ti­sche Sal­va­tor­kir­che wur­de re­no­viert, der Turm er­höht und mit ei­nem Helm ver­se­hen. Von hier aus bil­de­te die Kö­nig­stra­ße die Haupt­ver­bin­dung zum Bahn­hof und wur­de zur re­prä­sen­ta­ti­ven Pracht­stra­ße aus­ge­baut. Seit 1905 gab es hier ein Bis­marck-Denk­mal. Das Land­ge­richt von 1876 be­kam 1911/1912 ei­nen neu­en Trakt, ge­gen­über be­fand sich be­reits die städ­ti­sche Ton­hal­le. Sie war 1887 auf Lehrs per­sön­li­che In­itia­ti­ve, aber mit pri­va­ten Mit­teln er­rich­tet wor­den, ei­ne Thea­ter­ge­mein­schaft mit Düs­sel­dorf er­mög­lich­te ne­ben Mu­sik- auch Thea­ter­auf­füh­run­gen, für die sie al­ler­dings we­ni­ger ge­eig­net war. Da­her wur­de 1902, wie­der auf In­itia­ti­ve Lehrs, ein Thea­ter­bau­ver­ein ins Le­ben ge­ru­fen, der die Gel­der wie­der­um aus pri­va­ter Hand ak­qui­rier­te und 1912 ei­nen Thea­ter­neu­bau na­he der Ton­hal­le er­mög­lich­te, nicht di­rekt an der Kö­nig­stra­ße, aber mit Sicht­ach­se über den Kö­nig-Hein­rich-Platz hin­weg, der über ei­nem auf­ge­las­se­nen Fried­hof an­ge­legt wur­de. Aus ei­ner pri­va­ten Mu­sik­ka­pel­le wur­de ei­ne städ­ti­sche mit städ­ti­schem Mu­sik­di­rek­tor, Keim­zel­le der Duis­bur­ger Phil­har­mo­ni­ker. 1901 konn­te auch ei­ne städ­ti­sche Bi­blio­thek er­öff­net wer­den. Ei­ne pri­va­te Samm­lung prä­his­to­ri­scher Ur­nen ver­an­lass­te die Grün­dung des halb­städ­ti­schen Mu­se­ums­ver­eins mit Lehr als Vor­sit­zen­dem. 1902 wur­de im Rat­haus ein his­to­risch ori­en­tier­tes Mu­se­um er­öff­net, aus dem so­wohl das heu­ti­ge Kul­tur- und Stadt­his­to­ri­sche Mu­se­um als auch das Wil­helm-Lehm­bruck-Mu­se­um her­vor­gin­gen. Der In­itia­tor des Mu­se­ums, Gym­na­si­al­pro­fes­sor Hein­rich Aver­dunk (1840-1927), Ver­fas­ser der ers­ten wis­sen­schaft­li­chen Stadt­ge­schich­te, wur­de auch mit der Ord­nung und Ver­zeich­nung des städ­ti­schen Ar­chivs be­traut, das eben­falls im Rat­haus un­ter­ge­bracht wur­de.

Jen­seits der Re­prä­sen­ta­tiv­bau­ten konn­te das weit­ge­hend un­kon­trol­lier­te Wu­chern pri­va­ter Bau­tä­tig­keit, das ein höchst un­vor­teil­haf­tes Ne­ben­ein­an­der von In­dus­trie und Wohn­be­bau­ung mit Aus­wir­kun­gen bis heu­te zei­tig­te, nur müh­sam ein­ge­dämmt wer­den. Erst nach der Jahr­hun­dert­wen­de kam es zur Durch­set­zung ei­ner strin­gen­ten Bau­ord­nung.

Na­tio­nal und pa­trio­tisch den­kend war Lehr ein An­hän­ger der preu­ßi­schen Kö­nigs­hau­ses, so dass ent­spre­chen­de Fei­ern mit gro­ßem Auf­wand be­gan­gen wur­den. So trat er auch für die Bei­be­hal­tung des um­strit­te­nen Se­dan­ta­ges ein, der all­jähr­lich als gro­ßes Volks­fest auf dem Kai­ser­berg ge­fei­ert wur­de, als das bes­te Mit­tel zur He­bung des Pa­trio­tis­mus.

Ins­ge­samt ist Lehrs Amts­zeit von Weit­blick und Um­sicht im Hin­blick auf die Er­for­der­nis­se des In­dus­trie­zeit­al­ters ge­kenn­zeich­net, wo­bei die Grund­be­dürf­nis­se der Be­völ­ke­rung mög­lichst durch öf­fent­li­che, städ­ti­sche Da­seins­vor­sor­ge ge­si­chert wer­den soll­ten.

Literatur

Cin­ka, Pe­ter, Trä­ger kom­mu­na­ler Ent­schei­dungs­pro­zes­se in Duis­burg in der Zeit von 1890 bis 1919, Duis­burg 1992, S. 299-305.
Ro­meyk, Horst, Die lei­ten­den staat­li­chen und kom­mu­na­len Ver­wal­tungs­be­am­ten der Rhein­pro­vinz 1816-1945, Düs­sel­dorf 1994, S. 599.

Online

Carl Lehr auf der Home­page der Stadt Duis­burg. [On­line]

 
Zitationshinweis

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Kraume, Hans Georg, Carl Lehr, in: Internetportal Rheinische Geschichte, abgerufen unter: https://www.rheinische-geschichte.lvr.de/Persoenlichkeiten/carl-lehr/DE-2086/lido/57c93e57206a22.39389223 (abgerufen am 19.03.2024)