Gerhard Tersteegen

Schriftsteller (1697-1769)

Hermann-Peter Eberlein (Wuppertal)

So genannter 'Blutbrief' Gerhard Tersteegens, 1724. (Archiv der Evangelischen Kirche im Rheinland)

Ger­hard Ters­tee­gen war der wohl be­deu­tends­te evan­ge­li­sche Mys­ti­ker; er wirk­te als Schrift­stel­ler, Seel­sor­ger und Er­we­ckungs­pre­di­ger.

 

Ge­bo­ren wur­de er am 25.11.1697 in Mo­ers als zweit­jüngs­tes Kind des re­for­mier­ten Kauf­manns Hein­rich Ters­tee­gen (ge­bo­ren 1665) und der Ma­ria Cor­ne­lia Tri­bo­ler (1656-1721). Der Va­ter starb be­reits 1703 – in die­ser frü­hen Ver­lus­ter­fah­rung ver­mu­ten vie­le den Keim für die spä­te­re Gott­su­che des Soh­nes. Im sel­ben Jahr be­zog der jun­ge Ters­tee­gen die La­tein­schu­le sei­ner Hei­mat­stadt, wo er ei­ne gründ­li­che hu­ma­nis­ti­sche Aus­bil­dung er­hielt. Ne­ben den drei al­ten Spra­chen lern­te er Fran­zö­sisch und Nie­der­län­disch, da­zu die Grund­la­gen des Spa­ni­schen und Ita­lie­ni­schen; die­se Sprach­kennt­nis­se er­mög­lich­ten ihm spä­ter die Lek­tü­re der theo­lo­gi­schen Li­te­ra­tur wie auch ei­ne weit aus­grei­fen­de in­ter­na­tio­na­le Kor­re­spon­denz. Da Geld­man­gel ein Stu­di­um ver­hin­der­te, be­gann Ters­tee­gen 1713 ei­ne Kauf­manns­leh­re bei sei­nem On­kel in Mül­heim an der Ruhr. Die vier Jah­re, die er dort zu­brach­te, wa­ren für ihn ei­ne Quä­le­rei; er such­te nach be­ruf­li­cher und per­sön­li­cher Ori­en­tie­rung.

In Mül­heim hat­ten durch Theo­dor Un­de­reyck (1635-1693) und den ra­di­ka­le­ren Ernst Chris­toph Hoch­mann von Hoch­en­au (1670-1721) früh pie­tis­ti­sche Ein­flüs­se Fuß ge­fasst; in die­sen Krei­sen fand der jun­ge va­ter­lo­se und von sei­nen Ge­schwis­tern ab­ge­lehn­te Su­chen­de geist­li­che Hei­mat und Ver­wandt­schaft. Zum Men­tor und Freund wur­de ihm der von der re­for­mier­ten Kir­che ab­ge­wie­se­ne Kan­di­dat der Theo­lo­gie Wil­helm Hoff­mann (1685-1746), ein An­hän­ger der quie­tis­ti­schen und kar­me­li­ti­schen Mys­tik spa­ni­scher und fran­zö­si­scher Pro­ve­ni­enz. Durch ihn lern­te Ters­tee­gen die Wer­ke et­wa der hei­li­gen Te­re­sa von Avi­la (1515-1582), des hei­li­gen Jo­han­nes vom Kreuz (1542-1591), Mi­guel de Mo­li­nos‘ (1628-1697) oder der Ma­da­me Guyon (1648-1717) ken­nen, die er zum Teil spä­ter über­setz­te und so dem deut­schen Pu­bli­kum er­schloss. All die­sen Mys­ti­kern ist die Er­fah­rung der Ge­gen­wart Got­tes in der Kon­tem­pla­ti­on ge­mein­sam, das wort­lo­se in­ne­re Ge­bet, das Los­las­sen des Ich ge­gen­über dem Wir­ken Got­tes, das Er­tra­gen von Lei­den und in­ne­rer Dür­re als Durch­gangs­sta­tio­nen zur Ver­ei­ni­gung mit Gott.

Nach ei­ner ers­ten Be­keh­rung im Jah­re 1717 gab Ters­tee­gen, um zur in­ne­ren Ru­he zu kom­men, sein ge­ra­de er­öff­ne­tes ei­ge­nes Ge­schäft auf, ar­bei­te­te als Band­we­ber und leb­te sehr zu­rück­ge­zo­gen und dürf­tig in ei­ner klei­nen Kam­mer; was er zu viel hat­te, ver­teil­te er an noch Är­me­re. In die­ser Zeit wech­sel­ten Pha­sen in­ne­rer Nie­der­ge­schla­gen­heit mit sol­chen stil­ler Zu­frie­den­heit, vi­sio­nä­re und ek­sta­ti­sche Er­fah­run­gen mit ra­di­ka­lem Zwei­fel. Die Lö­sung ge­schah, nach­dem Ters­tee­gens ei­ge­ne in­tel­lek­tu­el­le wie ethi­sche Be­mü­hun­gen sämt­lich ge­schei­tert wa­ren, durch ei­nes oder meh­re­re Er­leuch­tungs­er­leb­nis­se. Die Ent­de­ckung der in­ne­ren Ge­gen­wart Got­tes war das geist­li­che Grund­da­tum sei­nes Le­bens, sein Gna­den­ge­burts­tag, zu­gleich das Ziel und der End­zweck der gan­zen Hei­li­gen Schrift. Der Su­chen­de hat­te in der lie­ben­den Ge­gen­wart Got­tes schlie­ß­lich sich selbst ge­fun­den: die Ge­las­sen­heit ge­gen­über dem ei­ge­nen Wil­len und der Ei­gen­lie­be, um dem Geist Got­tes in sich Raum zu las­sen, ist die Grund­fi­gur und die Grund­be­we­gung sei­ner Spi­ri­tua­li­tät. Sie er­in­nert an Lu­thers Recht­fer­ti­gungs­er­fah­rung – auch in der Kon­zen­tra­ti­on auf das Er­lö­sungs­werk Chris­ti zeigt sich re­for­ma­to­ri­sches Er­be. Am Grün­don­ners­tag 1724 ver­schrieb sich Ters­tee­gen in ei­nem mit dem ei­ge­nen Blut ge­schrie­be­nen Brief an Je­sus sei­nen Hei­land und Er­lö­ser zum ewi­gen Ei­gen­tum und ver­sprach sei­nem Blut­bräu­ti­gam Je­sus jung­fräu­li­che Lie­be – be­reit, sein Blut bis auf den letz­ten Trop­fen ver­gie­ßen zu las­sen.

Mit die­ser Wen­de, zu­gleich als Ab­kehr vom ei­ge­nen Ma­chen-Wol­len, mil­der­te Ters­tee­gen sein schroff as­ke­ti­sches und zu­rück­ge­zo­ge­nes Le­ben. Er nahm ei­nen Geis­tes­ver­wand­ten, Hein­rich Som­mer (1681-1773), bei sich auf, und bil­de­te mit ihm ei­ne Le­bens­ge­mein­schaft, die Ar­beit, Ge­bet und Stu­di­en um­fass­te und erst mit Ters­tee­gens Tod en­de­te. Zu­gleich be­gann er nun nach au­ßen zu wir­ken: er un­ter­rich­te­te Kin­der und ver­fass­te da­zu ei­nen „Un­par­tei­ischen Ab­riss christ­li­cher Grund­wahr­hei­ten“; er über­setz­te ne­ben den ge­nann­ten Au­to­ren deut­sche Mys­ti­ker wie Tho­mas von Kem­pen; er re­de­te auf Er­bau­ungs­ver­samm­lun­gen und wur­de zum viel ge­frag­ten See­len­füh­rer; er be­gann Lie­der zu dich­ten: 1729 er­schien sein „Geist­li­ches Blu­men­gärt­lein in­ni­ger See­len“. Die Bil­der sei­ner Lie­der zei­gen ei­ne Na­tur­nä­he und -ver­bun­den­heit, die ein ei­gen­tüm­li­ches Kor­re­lat zu sei­nem Le­bens­stil bil­den: Luft, die al­les fül­let, drin wir im­mer schwe­ben, al­ler Din­ge Grund und Le­ben … Wie die zar­ten Blu­men wil­lig sich ent­fal­ten und der Son­ne stil­le hal­ten, lass mich so still und froh dei­ne Strah­len fas­sen. Hier liegt sei­ne poe­ti­sche Grö­ße.

Ne­ben die­se um­fang­rei­che schrift­stel­le­ri­sche Tä­tig­keit trat ei­ne ste­tig wach­sen­de Kor­re­spon­denz mit Men­schen aus den er­weck­ten Krei­sen Kre­felds, des Ber­gi­schen Lan­des und Hol­lands. 1727 stif­te­ten Freun­de des Mys­ti­kers, die Ge­schwis­ter Ot­ter­beck, die ehe­los und kon­tem­pla­tiv le­ben woll­ten, in ih­rem zwi­schen Vel­bert und Ne­vi­ges (heu­te Stadt Vel­bert) ge­le­ge­nen Haus ei­ne geist­li­che Kom­mu­ne, die „Pil­ger­hüt­te“, die sich Ters­tee­gen als See­len­füh­rer er­wähl­te und zu sei­nen Leb­zei­ten aus sechs Män­nern und zwei Frau­en be­stand; für sie schrieb Ters­tee­gen „Ei­ni­ge wich­ti­ge Ver­hal­tens-Re­geln an ei­ne bei­sam­men woh­nen­de Bru­der-Ge­sell­schaf­t“. Die Ob­rig­kei­ten sa­hen sol­ches Trei­ben nicht gern: ab 1737 kam es zu ein­zel­nen Ver­fol­gun­gen, 1740 ver­bot die ber­gi­sche Re­gie­rung die Kon­ven­ti­kel, wor­auf­hin Ters­tee­gen sein öf­fent­li­ches Wir­ken ein­stell­te.

In den Jah­ren 1733 bis 1743 gab er „Aus­er­le­se­ne Le­bens­be­schrei­bun­gen hei­li­ger See­len“ her­aus: 26 vor­bild­haf­te Vi­ten ka­tho­li­scher Hei­li­ger. 1750 nahm er sei­ne Tä­tig­keit als Red­ner wie­der auf, wo­bei der mys­ti­sche Cha­rak­ter zu­rück­zu­tre­ten be­gann. Ei­ne von Ber­lin aus an­ge­ord­ne­te Vi­si­ta­ti­on 1754 ge­lang­te zu ei­nem po­si­ti­ven Ur­teil über Ters­tee­gens Lai­en­pre­dig­ten; so­gar sei­ne Kri­tik am Skep­ti­zis­mus Fried­richs II. („Ge­dan­ken über ei­nes An­ony­mi Buch, ge­nannt Ver­misch­te Wer­ke des Welt-Wei­sen zu Sans­sou­ci“) wur­de vom preu­ßi­schen Kö­nig nicht nur to­le­riert, son­dern so­gar gou­tiert. Be­hin­dert durch ein Bruch­lei­den, muss­te Ters­tee­gen sei­ne Red­ner­tä­tig­keit seit 1756 stark ein­schrän­ken und 1760 schlie­ß­lich auf­ge­ben. Von 1769 bis 1773 wur­den sei­ne „Geist­li­chen Bro­sa­men“ ge­druckt.

Die äu­ße­re Kir­che, ih­re Ver­fas­sung, aber auch ih­re Er­neue­rung, steht bei Ters­tee­gen am Ran­de; in­dem es ihm um die sub­jek­ti­ve Got­te­s­er­fah­rung des Ein­zel­nen geht, ist er hoch­mo­dern. Zwar wen­det er sich deut­lich ge­gen ge­dan­ken­los wei­ter­ge­ge­be­ne und über­nom­me­ne Er­bre­li­gi­on und ge­gen be­kennt­nis­ge­bun­de­ne Kirch­lich­keit, doch oh­ne die Kir­che zu be­kämp­fen: Ein wah­rer Mys­ti­ker wird nicht so leicht zum Se­pa­ra­tis­ten, er hat wich­ti­ge­re Sa­chen zu tun. So konn­te er nach sei­nem To­de am 3.4.1769 in Mül­heim kirch­lich be­stat­tet wer­den. Ein au­then­ti­sches Bild­nis von ihm gibt es nicht.

„Ters­tee­gens Theo­lo­gie ist Aus­druck sei­nes Le­bens und sei­ner ge­leb­ten Spi­ri­tua­li­tät; um­ge­kehrt er­hel­len Schrif­ten und Theo­lo­gie sein Le­ben. Die Über­ein­stim­mung von Per­son, Le­ben, Fröm­mig­keit und Werk ma­chen Ters­tee­gen so an­zie­hend.“ (Wolf­ram Jan­zen). Wal­ter Nigg nann­te ihn ei­nen „Hei­li­gen im Pro­tes­tan­tis­mus“. Am Nie­der­rhein und im Ber­gi­schen Land (Ge­mar­ke) war sein Ein­fluss im­mens, er wirk­te im lan­des­kirch­li­chen Pie­tis­mus Würt­tem­bergs, ja bis nach Ame­ri­ka und Russ­land. Dass sei­ne be­kann­tes­te Lieds­tro­phe Ich be­te an die Macht der Lie­be aus­ge­rech­net in das Ze­re­mo­ni­ell des Gro­ßen Zap­fen­strei­ches Ein­gang ge­fun­den hat, mag man als Iro­nie der Ge­schich­te be­trach­ten oder är­ger­lich fin­den. Sein ei­gent­li­ches Er­be ist die Er­fah­rung der Se­li­gen Ewig­keit: Ins stil­le Nu so in­nig­lich / Sink ich, mein ei­nigs Gut, in dich / In See­len­grund hin­ein: / Da leb ich au­ßer Ort und Zeit, / Von mir und Crea­tu­ren weit, / Mit dir ver­gnügt al­lein.

Schriften

Brie­fe, hg. von Gus­tav Adolf Ben­rath, 2 Bän­de, Gie­ßen 2008.
Geist­li­ches Blu­men­gärt­lein, Stutt­gart 1905.
Geist­li­che Re­den, Göt­tin­gen 1979.

Literatur

Jan­zen, Wolf­ram, Ar­ti­kel “Ters­tee­gen”, in: Bio­gra­phisch-Bi­blio­gra­phi­sches Kir­chen­le­xi­kon 11 (1996), Sp. 674-695.
Lösch­horn, A., Ger­hard Ters­tee­gen, Zü­rich 1946.
Nigg, Wal­ter, Gro­ße Hei­li­ge, Zü­rich 1947.

Rückseite des so genannten 'Blutbriefes', 1724. (Archiv der Evangelischen Kirche im Rheinland)

 
Zitationshinweis

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Eberlein, Hermann-Peter, Gerhard Tersteegen, in: Internetportal Rheinische Geschichte, abgerufen unter: https://www.rheinische-geschichte.lvr.de/Persoenlichkeiten/gerhard-tersteegen/DE-2086/lido/57c93b838c0789.44496860 (abgerufen am 19.03.2024)