Leopold von Wiese

Soziologe (1876-1969)

Hedda Acker (Münster)

Porträtfoto von Leopold von Wiese. (Historisches Archiv der Universität zu Köln)

Leo­pold von Wie­se war prä­gend für die deut­sche So­zio­lo­gie. Er war der ers­te In­ha­ber ei­nes deut­schen Lehr­stuhls für So­zio­lo­gie, grün­de­te das For­schungs­in­sti­tut für So­zi­al­wis­sen­schaf­ten in Köln und die re­nom­mier­te „Köl­ner Zeit­schrift für So­zio­lo­gie“. 1949 ver­trat von Wie­se Deutsch­land als Prä­si­dent der Deut­schen Ge­sell­schaft für So­zio­lo­gie bei der Grün­dung der ISA (In­ter­na­tio­na­le Ge­sell­schaft für So­zio­lo­gie). Un­mit­tel­bar nach dem Krieg be­tei­lig­te sich er sich en­ga­giert an der Wie­der­auf­nah­me des aka­de­mi­schen Be­trie­bes an den Uni­ver­si­tä­ten Köln un­d Bonn.

Leo­pold von Wie­se, mit vol­lem Na­men Leo­pold Max Walt­her von Wie­se und Kai­sers­waldau, wur­de am 2.12.1876 im nie­der­schle­si­schen Glatz ge­bo­ren. Sein Va­ter, Ben­no von Wie­se, war dort als Haupt­mann in der Gar­ni­son sta­tio­niert. Die Mut­ter brach­te 13 Mo­na­te spä­ter sei­ne Zwil­lings­schwes­tern zur Welt, ins­ge­samt hat­te die Fa­mi­lie vier Kin­der, Leo­pold war der ein­zi­ge Sohn. 1880 zog die Fa­mi­lie nach Glei­witz in Ober­schle­si­en, wo­hin das Re­gi­ment des Va­ters ver­setzt wor­den war Leo­pold wur­de be­reits we­ni­ge Mo­na­te nach sei­nem fünf­ten Ge­burts­tag ein­ge­schult und über­sprang di­rekt meh­re­re Klas­sen. Ihm wur­de ei­ne stren­ge Er­zie­hung zu­teil. Der Va­ter starb be­reits 1885; er hat­te vor sei­nem Tod ver­fügt, Leo­pold sol­le zur wei­te­ren Aus­bil­dung ins Ka­det­ten­korps ge­schickt wer­den. Die Mut­ter kam dem nach und Leo­pold wur­de mit zehn Jah­ren ins Ka­det­ten­haus Wahl­statt (heu­te Leg­ni­ckie Po­le) auf­ge­nom­men. Die­se Zeit be­schrieb Leo­pold von Wie­se spä­ter in sei­nem Buch „Ka­det­ten­jah­re“. Von Wahl­statt aus ging es ei­ni­ge Jah­re spä­ter in die Haupt­an­stalt Lich­ter­fel­de bei Ber­lin, wo die mi­li­tä­ri­sche und schu­li­sche Aus­bil­dung fort­ge­setzt wur­de. Von dort aus konn­te Leo­pold von Wie­se je­doch an frei­en Sonn­ta­gen nach Ber­lin fah­ren, um dort am kul­tu­rel­len Le­ben teil­zu­neh­men.

Über sei­ne Zeit im Ka­det­ten­korps schrieb von Wie­se spä­ter: Mei­ne Lehr­zeit in der So­zio­lo­gie ist mei­ne Kind­heit in Wahl­statt ge­we­sen. Was ich an Theo­ri­en heu­te zu ge­ben in der La­ge bin, ist in ers­ter Li­nie dem Le­ben in je­ner selt­sam ab­ge­schlos­se­nen Ka­det­ten­ge­mein­schaft ent­nom­men, in der die ge­sell­schafts­bil­den­den und -zer­stö­ren­den Kräf­te, das Ver­bin­den und Mei­den, der Kol­lek­tiv­geist und die Ein­zel­see­le fast wie im Ex­pe­ri­ment zu be­ob­ach­ten wa­ren. (Er­in­ne­run­gen, S. 14)

Leo­pold von Wie­se litt un­ter der Stren­ge im Ka­det­ten­korps und sah sei­ne be­ruf­li­che Zu­kunft nicht im Mi­li­tär, so­dass er sei­ne Ent­las­sung aus ge­sund­heit­li­chen Grün­den ver­an­lass­te; seit der Zeit in Wahl­statt litt er an Ma­gen- be­zie­hungs­wei­se Gal­len­be­schwer­den. 1898 leg­te er am Gym­na­si­um in Gör­litz das Ab­itur ab.

Zum Stu­di­um der Volks­wirt­schafts­leh­re zog es ihn nach Ber­lin, wo er au­ßer­dem po­li­ti­sche Ver­samm­lun­gen be­such­te; so hör­te er Vor­trä­ge von Fried­rich Nau­mann 1860-1919), dem evan­ge­li­schen Theo­lo­gen und li­be­ra­len Po­li­ti­ker, die ihn tief ge­prägt ha­ben; auch en­ga­gier­te er sich im Be­reich des Ar­bei­ter­bil­dungs­we­sens in Zu­sam­men­ar­beit mit dem evan­ge­lisch-so­zia­len Frau­en­bund. Durch die Be­kannt­schaft mit dem Un­ter­neh­mer und Mä­zen Wil­helm Mer­ton (1848-1916) konn­te er ei­ne Aus­bil­dung in des­sen Me­tall­ur­gi­schen Ge­sell­schaft wahr­neh­men und er­hielt die Mög­lich­keit, sein Stu­di­um in Ber­lin zum Zwe­cke der Pro­mo­ti­on wie­der­auf­zu­neh­men.

Zum 1.10.1902 trat er auf Wunsch Mer­tons ei­ne Stel­le als Se­kre­tär des In­sti­tuts für Ge­mein­wohl in Frank­furt am Main an. Ha­bi­li­tiert wur­de von Wie­se 1905; es folg­ten zwei Se­mes­ter als Pri­vat­do­zent in Ber­lin, be­vor er als Do­zent an die kö­nig­li­che Aka­de­mie zu Po­sen ge­schickt wur­de.

In die­se Zeit fällt sei­ne ers­te Ehe­schlie­ßung. Wei­te­re Ehen soll­ten fol­gen. Leo­pold von Wie­se hat­te meh­re­re Kin­der: den spä­te­ren Ger­ma­nis­ten Ben­no Ge­org Leo­pold von Wie­se (1903-1987), Ur­su­la Re­na­te (1905-2002), Schrift­stel­le­rin, Lek­to­rin, Schau­spie­le­rin und Über­set­ze­rin so­wie aus drit­ter Ehe die Toch­ter Oss­a­na (ge­bo­ren 1926), die Sla­wis­tin wur­de. Au­ßer­dem er­wähnt von Wie­se in sei­nen „Er­in­ne­run­gen“ noch ei­ne Toch­ter na­mens In­ge­borg.

Von Wie­se er­hoff­te sich die Chan­ce, in die USA ge­hen zu kön­nen, je­doch wur­de nach sei­nen ei­ge­nen An­ga­ben ein le­di­ger Kol­le­ge aus­ge­wählt und ihm selbst wur­de die Po­se­ner Stel­le an­ge­bo­ten. Die Tä­tig­keit dort er­füll­te ihn je­doch nicht, wes­halb er 1907/1908 nach Han­no­ver wech­sel­te und schlie­ß­lich ab 1912 an der Aka­de­mie für kom­mu­na­le Ver­wal­tung in Düs­sel­dorf un­ter­rich­te­te. Im Jahr 1912 un­ter­nahm er auch ei­ne mehr­mo­na­ti­ge Rei­se durch Eu­ro­pa und wei­te Tei­le Asi­ens; ei­nes sei­ner bel­le­tris­ti­schen Wer­ke wur­de von sei­nem Auf­ent­halt auf Cey­lon, dem heu­ti­gen Sri Lan­ka, in­spi­riert.

1915 wech­sel­te er an die Köl­ner Han­dels­hoch­schu­le und be­tei­lig­te sich an der Er­rich­tung der Köl­ner Volks­hoch­schu­le. Nach der Neu­grün­dung der Uni­ver­si­tät Köln im Jah­re 1919 wur­de er dort Pro­fes­sor für wirt­schaft­li­che Staats­wis­sen­schaf­ten und So­zio­lo­gie. Da­mit hat­te Leo­pold von Wie­se den ers­ten deut­schen Lehr­stuhl für So­zio­lo­gie in­ne. Das For­schungs­in­sti­tut für So­zi­al­wis­sen­schaf­ten in Köln lei­te­te er von 1919-1935 und dann wie­der ab 1945. Au­ßer­dem grün­de­te er die „Köl­ner Vier­tel­jah­res­hef­te für So­zio­lo­gie“ (spä­ter „Köl­ner Zeit­schrift für So­zio­lo­gie“) und war lan­ge Jah­re de­ren Her­aus­ge­ber (1921-1934, 1948-1954). 1934/1935 ver­brach­te er als Gast­pro­fes­sor in den USA. Er kehr­te trotz der an­ge­spann­ten und für ihn nicht un­ge­fähr­li­chen po­li­ti­schen La­ge mit Frau und Toch­ter nach Köln zu­rück.

Nach dem Krieg bot er, schon Mo­na­te vor der of­fi­zi­el­len Wie­der­auf­nah­me des aka­de­mi­schen Be­triebs an der Uni­ver­si­tät Köln am 10.12.1945, wie­der Vor­le­sun­gen be­zie­hungs­wei­se Kol­legs an. Bei der Grün­dung der In­ter­na­tio­na­len Ge­sell­schaft für So­zio­lo­gie 1949 war er be­tei­ligt als Ver­tre­ter der deut­schen Ge­sell­schaft - in der un­mit­tel­ba­ren Nach­kriegs­zeit für ei­nen Deut­schen kei­ne leich­te Auf­ga­be. 1950 wur­de Leo­pold von Wie­se eme­ri­tiert. Sein Lehr­stuhl, die Her­aus­ge­ber­schaft der „Köl­ner Zeit­schrift für So­zio­lo­gie“ und die Lei­tung des In­sti­tuts für So­zi­al­wis­sen­schaft gin­gen an sei­nen Nach­fol­ger Re­né Kö­nig über.

Leo­pold von Wie­se er­hielt zahl­rei­che Eh­run­gen, so 1946 die Eh­ren­dok­tor­wür­de der Ju­ris­ti­schen Fa­kul­tät der Uni­ver­si­tät zu Köln, 1951 die Eh­ren­dok­tor­wür­de zum Dr. rer.pol. der Uni­ver­si­tät Mainz; seit 1949 war er Mit­glied der Main­zer Aka­de­mie der Wis­sen­schaf­ten und der Li­te­ra­tur. 1965 wur­de er Eh­ren­bür­ger der Uni­ver­si­tät zu Köln.

Leo­pold von Wie­se ver­starb in Köln am 11.1.1969.

Werke (Auswahl)

Na­va. Ei­ne Er­zäh­lung aus Cey­lon, Je­na 1928.
 
Er­in­ne­run­gen, Köln 1957. 
 
Ge­schich­te der So­zio­lo­gie, Ber­lin 1971.
 
Ka­det­ten­jah­re, Eben­hau­sen bei Mün­chen, 1978.
 
Schrif­ten. Aus­ga­be letz­ter Hand, hg. von Hei­ne von Ale­mann, Band 19: Brief­wech­sel Bd. 1: dar­aus: Brief­wech­sel mit Leo­pold von Wie­se, Op­la­den 2000.

Literatur

Fest­schrift, Ge­denk­re­de

Beh­rend, Ri­chard F., Leo­pold von Wie­se. Re­de an der Ge­denk­fei­er der Wirt­schafts- und So­zi­al­wis­sen­schaft­li­chen Fa­kul­tät der Uni­ver­si­tät Köln am 15. Ja­nu­ar 1970, in: Köl­ner Zeit­schrift für So­zio­lo­gie und So­zi­al­psy­cho­lo­gie 22 (), S. 667-678.

 
Zitationshinweis

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Acker, Hedda, Leopold von Wiese, in: Internetportal Rheinische Geschichte, abgerufen unter: https://www.rheinische-geschichte.lvr.de/Persoenlichkeiten/leopold-von-wiese-/DE-2086/lido/602cd4e60dc318.54782701 (abgerufen am 27.04.2024)