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Aenne Biermann war eine Fotografin, die sich jenseits von professioneller Ausbildung und fern der künstlerischen Zentren der 1920er und 30er Jahre ein Werk erarbeitete, mit dem sie heute zur Fotoavantgarde der Weimarer Republik zählt.
Aenne Biermann wurde als Anna Sibilla Sternefeld am 3.3.1898 in Goch am Niederrhein geboren. Sie war das vierte und jüngste Kind des Lederfabrikanten Alphons Sternefeld (geboren 1865) und dessen Ehefrau Julie, geborene Mack (1868-1927). Die jüdische Familie Sternefeld zählte zu den wirtschaftlich aktiven und vermögenden Unternehmerfamilien der niederrheinischen Stadt. Die Lederfabrik – 1855 von Annas Großvater Wolfgang (1831-1899) gegründet – wurde in den 1920er Jahren von ihrem Bruder Fritz (1893-1937) und dem Onkel Hermann (1867-1928) mit mehr als 500 Beschäftigten weitergeführt, bis sie in den Jahren der Weltwirtschaftskrise in Konkurs ging.
Gemeinsam mit ihren Brüdern Fritz und Otto (1895-1978) – Ernst (1891-1899) war bereits im Alter von sieben Jahren verstorben – verbrachte Anna eine behütete großbürgerliche Kindheit in Goch. Während die Söhne von Alphons Sternefeld höhere Schulen besuchten, war für die einzige Tochter des Unternehmers weder eine erweiterte schulische noch eine berufliche Ausbildung vorgesehen. Wie in den Kreisen der wohlhabenden Gesellschaft um 1900 üblich, wurde Anna vor allem in ihren musischen Talenten gefördert und erhielt Klavierunterricht. Auch wenn Hinweise auf eine Ausbildung bei Elly Ney (1882-1968) bislang nicht verifiziert werden konnten, bestätigen Familienmitglieder und Freunde ausgedehnte und ernsthafte musikalische Studien der jungen Frau und sogar die Aussicht auf eine mögliche Laufbahn als professionelle Pianistin. Vermutlich während einer Urlaubsreise an der Nordsee lernte Anna den jüdischen Kaufmann Herbert Biermann (1890-1962) kennen. Das Paar heiratete am 19.1.1920 in Goch und ließ sich kurz darauf in Herbert Biermanns Heimatstadt Gera nieder.
Den Vornamen „Aenne“ verwendete Anna Sibilla nachweislich bereits vor ihrer Vermählung. Dies belegt ein Buch mit einem von Otto Kopp (1879-1947) gestalteten Exlibris, das den Schriftzug „Aenne Sternefeld“ trägt und sich heute im Bestand des Museums für Angewandte Kunst in Gera befindet. Die Eheschließungsurkunde unterzeichnete sie zwar noch mit „Anna Biermann“, doch wurde „Aenne“ spätestens mit dem Umzug von Goch in das thüringische Gera zu ihrem gebräuchlichen Vornamen.
Nach der Hochzeit wechselte Aenne Biermann ihren Wohnort, ihre gesellschaftlichen Lebensumstände änderten sich dadurch aber kaum. Wie die Sternefelds am Niederrhein pflegte die Familie Biermann in Thüringen einen großbürgerlichen Lebensstil.
Herbert Biermann führte in Gera gemeinsam mit seinem Bruder Erich das damals größte Textilkaufhaus Thüringens. Die Brüder bewohnten mit ihren Ehefrauen und Kindern je eine Etage einer gründerzeitlichen Villa mit großem Garten, beschäftigten Köchinnen, Kindermädchen und verkehrten in der Gesellschaft eines intellektuellen Bürgertums, das der Kunst und Kultur der Moderne überaus aufgeschlossen gegenüberstand. Zum breiten Bekannten- und Freundeskreis der Biermanns gehörten unter anderem der Architekt Thilo Schoder (1888-1979) und der Maler Kurt Günther (1893-1955), Literaten wie Carl Zuckmayer (1896-1977) oder Hans Carossa (1878-1956) und Reformpädagogen wie Wilhelm Flitner (1889-1990) oder Theodor Litt (1880-1962). Durch das Hauspersonal von den alltäglichen Pflichten einer Hausfrau entlastet und gewiss auch von ihrem kreativen geistigen Umfeld bestärkt, entdeckte Aenne Biermann schon bald ein Medium, das ihr neben dem Klavierspiel ein selbstständiges Betätigungsfeld eröffnete und die Verwirklichung eigener künstlerischen Ambitionen ermöglichte: Die Fotografie.
Wie so viele junge Eltern, schaffte sich Aenne Biermann ihre erste fotografische Ausrüstung kurz nach der Geburt ihrer Kinder an, um deren Entwicklung für das private Familienalbum zu dokumentieren. Ihre frühen Aufnahmen zeigen ihre Tochter Helga (1920-1987) und den Sohn Gerd (1923-2017) in typisch kindlichen Spielsituationen im Haus oder im Garten und halten erinnerungswürdige Ereignisse wie den Sommerurlaub oder den ersten Schultag fest. Im Zuge dieser charakteristischen Praxis einer Fotoamateurin entwickelte Aenne Biermann jedoch zunehmend ein ernsthaftes Interesse an der Fotografie. Sie erweiterte ihr Motivfeld um Pflanzen, Dinge und Menschen aus ihrem privaten Umfeld und erprobte autodidaktisch die Möglichkeiten fotografischer Techniken und Bildkompositionen. Die eigentliche Initialzündung für eine intensive Auseinandersetzung mit dem Medium stellten für Aenne Biermann die Aufnahmen einer Serie von Gesteinsproben dar, die der befreundete Geologe Rudolf Hundt (1889-1961) um 1927 anregte. „Durch diese Aufgabe wurde ich zu einer genaueren Beschäftigung mit den technischen Vorbedingungen hochwertiger Bilder gezwungen“, schrieb sie rückblickend. Sie erkannte nun, dass sich „in der Betrachtung der Umwelt durch die Linse [...] ganz unbekannte Reize und immer neue Lockungen ergaben“ und dass „das einzelne Objekt, das innerhalb seiner Umgebung niemals aus dem Kreis der vertrauten Erscheinung herausfiel“, durch gezielte Beleuchtung, Bildaufteilung und die Herausarbeitung bestimmter Details „auf der Mattscheibe ein ureigenes Leben“ gewann.[1] Ohne professionelle Ausbildung oder Anleitung und fernab der zeitgenössischen Metropolen und künstlerischen Zentren, wie Berlin oder Paris, erarbeitete sich Aenne Biermann auf diesem Wege wesentliche fotografische Bildmittel und letztlich ein künstlerisches Bildrepertoire, das sich ohne Weiteres mit den Werken der zeitgenössischen Fotoavantgarde messen konnte.
Bereits wenige Jahre nachdem Aenne Biermann die Fotografie als künstlerisches Medium aufgegriffen hatte, wurde ihrem Werk öffentliche Anerkennung zuteil. Auf Initiative des Kunsthistorikers Franz Roh (1890-1965) – einem Freund der Familie und einflussreichen Streiter für die Kunst und Fotografie der Moderne– zeigte das Graphische Kabinett Günther Franke in München im Spätsommer 1928 erstmals großformatige Pflanzenaufnahmen der Fotografin. Einem breiten Publikum stellte Franz Roh Aenne Biermanns fotografische Arbeit im Oktober desselben Jahres in der richtungsweisenden Zeitschrift „Das Kunstblatt“ vor. Es folgten Beteiligung an wichtigen Ausstellungen zur modernen Fotografie mit Stationen im In- und Ausland wie „Fotografie der Gegenwart“, „Film und Foto“ (FiFo) oder „Das Lichtbild“ sowie Einzelausstellungen an Museen und Kunstvereinen, beispielsweise in Oldenburg, Jena und Gera. Aenne Biermanns Fotografien wurden in Wettbewerben und Preisausschreiben prämiert und in Ausstellungskatalogen, Büchern und Magazinen publiziert. 1930, auf dem Höhepunkt ihres fotografischen Schaffens, erschien in der von Franz Roh begründeten Buchreihe „Fototek“ die Publikation „Aenne Biermann. 60 Fotos“. Mit dem zweiten Band einer längerfristig geplanten Serie, die einzelne Avantgardefotografen und fotografische Themenfelder vorstellen sollte, präsentierte Franz Roh nach „László Moholy-Nagy. 60 Fotos“ nun eine Fotografin, die sich dem „Realfoto unter Ausschluß von Fotomontage und Fotogramm“ konzentrierte.[2] Das kleinformatige, von Jan Tschichold (1902-1974) modern und gleichzeitig zurückhaltend gestaltete Buch stellt eine der raren monografischen Publikationen der Zeit dar.
Bis 1932 arbeitete Aenne Biermann unermüdlich, und „vielleicht“ – so der Freund und Geologe Rudolf Hundt in seinem Nachruf auf die Fotografin – hatte ihr „die Arbeit bis tief in die Nacht hinein beim Vergrößern oder in der Dunkelkammer den Keim ihrer Krankheit eingegeben“.[3] Ein längerer Kuraufenthalt verschaffte keine Heilung und so erlag Aenne Biermann am 14.1.1933 im Alter von nur 34 Jahren einem heute nicht mehr identifizierbaren Leiden. Nach der Machtergreifung der Nationalsozialisten sah sich die jüdische Familie Biermann wachsenden Repressionen ausgesetzt und wurde in den folgenden Jahren gezwungen, Kaufhaus und Villa aufzugeben. Tochter Helga emigrierte 1935/1936 nach Palästina, gefolgt vom Sohn Gerd 1939. Nach einer mehrwöchigen Internierung im Konzentrationslager Buchenwald konnte schließlich auch Herbert Biermann Deutschland 1940 verlassen.
In den wenigen Jahren ihres fotografischen Schaffens hat Aenne Biermann mehr als 3.000 Negative archiviert und neben zahlreichen kleineren Formaten Abzüge bis zu einer Größe von 45 x 60 cm angefertigt. Bis auf ein paar wenige Ausnahmen, die sich heute in der Sammlung Agfa des Museum Ludwig in Köln befinden, sind die Negative nach der Emigration der Familie in Gera verblieben und dort vermutlich einem Bombenschaden zum Opfer gefallen. Eine umfangreiche Sendung von Aenne Biermanns fotografischem Archiv nach Palästina wurde 1939 in Triest beschlagnahmt und gilt heute als verschollen. Bis heute haben sich etwa 400 Originalabzüge der Fotografin in musealen und privaten Sammlungen in Deutschland, Europa und den USA erhalten. Es sind Porträts, Pflanzenaufnahmen und Stillleben. In enge Bildausschnitte gefasst, voller Details, perspektivisch unkonventionell und kontrastreich spiegeln sie die typischen Eigenheiten der sogenannten „Neuen Fotografie“ der 1920er und 30er Jahre wider. Darüber hinaus verdeutlichen sie aber vor allem die spezifische Sicht einer Autodidaktin, die mithilfe des Mediums Fotografie einen einzigartigen schöpferischen Zugang zu einer nur auf den ersten Blick vertraut erscheinenden dinglichen Welt fand.
Literatur
Aenne Biermann. Fotografin 1898-1933. Retrospektive zum 100. Geburtstag, mit Texten von Frank Rüdiger und Edith Krimmel, Ausstellungskatalog Museum für Angewandte Kunst Gera, 1998.
Aenne Biermann. Fotografien 1925-1933, mit einem Text von Ute Eskildsen, Ausstellungskatalog Museum Folkwang, Essen, Berlin 1987.
Aenne Biermann. Vertrautheit mit den Dingen, mit Texten von Simone Förster und Anna Volz, München: Stiftung Ann und Jürgen Wilde, Pinakothek der Moderne, 2019.
Aenne Biermann, Von der photographischen Darstellung im Allgemeinen und vom photographischen Unterricht im Besonderen, in: Thüringen. Eine Monatsschrift für alte und neue Kultur, 5. Jg., Nr. 5, Februar 1930, S. 81-82 und 8 Abb. im Anhang.
Förster, Simone/Seelig, Thomas (Hg.), Aenne Biermann. Fotografin, Zürich 2020.
Hundt, Rudolf, Aenne Biermann, in: Geraer Nachrichten, 16.1.1933.
Roh, Franz (Hg.), Aenne Biermann. 60 Fotos, Fototek, Band 2, Berlin 1930, Reprint mit einem Text v. Hans-Michael Koetzle, München 2019.
... der Sachlichkeit verpflichtet. Aenne Biermann. Fotografien 1926 bis 1932, mit einem Text von Frank Rüdiger, Ausstellungskatalog Museum für Angewandte Kunst Gera, 2018.
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Volz, Anna, Aenne Biermann, in: Internetportal Rheinische Geschichte, abgerufen unter: https://www.rheinische-geschichte.lvr.de/Persoenlichkeiten/aenne-biermann/DE-2086/lido/5e7c9b938a6707.42496765 (abgerufen am 12.10.2024)