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Gerhard Tersteegen war der wohl bedeutendste evangelische Mystiker; er wirkte als Schriftsteller, Seelsorger und Erweckungsprediger.
Geboren wurde er am 25.11.1697 in Moers als zweitjüngstes Kind des reformierten Kaufmanns Heinrich Tersteegen (geboren 1665) und der Maria Cornelia Triboler (1656-1721). Der Vater starb bereits 1703 – in dieser frühen Verlusterfahrung vermuten viele den Keim für die spätere Gottsuche des Sohnes. Im selben Jahr bezog der junge Tersteegen die Lateinschule seiner Heimatstadt, wo er eine gründliche humanistische Ausbildung erhielt. Neben den drei alten Sprachen lernte er Französisch und Niederländisch, dazu die Grundlagen des Spanischen und Italienischen; diese Sprachkenntnisse ermöglichten ihm später die Lektüre der theologischen Literatur wie auch eine weit ausgreifende internationale Korrespondenz. Da Geldmangel ein Studium verhinderte, begann Tersteegen 1713 eine Kaufmannslehre bei seinem Onkel in Mülheim an der Ruhr. Die vier Jahre, die er dort zubrachte, waren für ihn eine Quälerei; er suchte nach beruflicher und persönlicher Orientierung.
In Mülheim hatten durch Theodor Undereyck (1635-1693) und den radikaleren Ernst Christoph Hochmann von Hochenau (1670-1721) früh pietistische Einflüsse Fuß gefasst; in diesen Kreisen fand der junge vaterlose und von seinen Geschwistern abgelehnte Suchende geistliche Heimat und Verwandtschaft. Zum Mentor und Freund wurde ihm der von der reformierten Kirche abgewiesene Kandidat der Theologie Wilhelm Hoffmann (1685-1746), ein Anhänger der quietistischen und karmelitischen Mystik spanischer und französischer Provenienz. Durch ihn lernte Tersteegen die Werke etwa der heiligen Teresa von Avila (1515-1582), des heiligen Johannes vom Kreuz (1542-1591), Miguel de Molinos‘ (1628-1697) oder der Madame Guyon (1648-1717) kennen, die er zum Teil später übersetzte und so dem deutschen Publikum erschloss. All diesen Mystikern ist die Erfahrung der Gegenwart Gottes in der Kontemplation gemeinsam, das wortlose innere Gebet, das Loslassen des Ich gegenüber dem Wirken Gottes, das Ertragen von Leiden und innerer Dürre als Durchgangsstationen zur Vereinigung mit Gott.
Nach einer ersten Bekehrung im Jahre 1717 gab Tersteegen, um zur inneren Ruhe zu kommen, sein gerade eröffnetes eigenes Geschäft auf, arbeitete als Bandweber und lebte sehr zurückgezogen und dürftig in einer kleinen Kammer; was er zu viel hatte, verteilte er an noch Ärmere. In dieser Zeit wechselten Phasen innerer Niedergeschlagenheit mit solchen stiller Zufriedenheit, visionäre und ekstatische Erfahrungen mit radikalem Zweifel. Die Lösung geschah, nachdem Tersteegens eigene intellektuelle wie ethische Bemühungen sämtlich gescheitert waren, durch eines oder mehrere Erleuchtungserlebnisse. Die Entdeckung der inneren Gegenwart Gottes war das geistliche Grunddatum seines Lebens, sein Gnadengeburtstag, zugleich das Ziel und der Endzweck der ganzen Heiligen Schrift. Der Suchende hatte in der liebenden Gegenwart Gottes schließlich sich selbst gefunden: die Gelassenheit gegenüber dem eigenen Willen und der Eigenliebe, um dem Geist Gottes in sich Raum zu lassen, ist die Grundfigur und die Grundbewegung seiner Spiritualität. Sie erinnert an Luthers Rechtfertigungserfahrung – auch in der Konzentration auf das Erlösungswerk Christi zeigt sich reformatorisches Erbe. Am Gründonnerstag 1724 verschrieb sich Tersteegen in einem mit dem eigenen Blut geschriebenen Brief an Jesus seinen Heiland und Erlöser zum ewigen Eigentum und versprach seinem Blutbräutigam Jesus jungfräuliche Liebe – bereit, sein Blut bis auf den letzten Tropfen vergießen zu lassen.
Mit dieser Wende, zugleich als Abkehr vom eigenen Machen-Wollen, milderte Tersteegen sein schroff asketisches und zurückgezogenes Leben. Er nahm einen Geistesverwandten, Heinrich Sommer (1681-1773), bei sich auf, und bildete mit ihm eine Lebensgemeinschaft, die Arbeit, Gebet und Studien umfasste und erst mit Tersteegens Tod endete. Zugleich begann er nun nach außen zu wirken: er unterrichtete Kinder und verfasste dazu einen „Unparteiischen Abriss christlicher Grundwahrheiten“; er übersetzte neben den genannten Autoren deutsche Mystiker wie Thomas von Kempen; er redete auf Erbauungsversammlungen und wurde zum viel gefragten Seelenführer; er begann Lieder zu dichten: 1729 erschien sein „Geistliches Blumengärtlein inniger Seelen“. Die Bilder seiner Lieder zeigen eine Naturnähe und -verbundenheit, die ein eigentümliches Korrelat zu seinem Lebensstil bilden: Luft, die alles füllet, drin wir immer schweben, aller Dinge Grund und Leben … Wie die zarten Blumen willig sich entfalten und der Sonne stille halten, lass mich so still und froh deine Strahlen fassen. Hier liegt seine poetische Größe.
Neben diese umfangreiche schriftstellerische Tätigkeit trat eine stetig wachsende Korrespondenz mit Menschen aus den erweckten Kreisen Krefelds, des Bergischen Landes und Hollands. 1727 stifteten Freunde des Mystikers, die Geschwister Otterbeck, die ehelos und kontemplativ leben wollten, in ihrem zwischen Velbert und Neviges (heute Stadt Velbert) gelegenen Haus eine geistliche Kommune, die „Pilgerhütte“, die sich Tersteegen als Seelenführer erwählte und zu seinen Lebzeiten aus sechs Männern und zwei Frauen bestand; für sie schrieb Tersteegen „Einige wichtige Verhaltens-Regeln an eine beisammen wohnende Bruder-Gesellschaft“. Die Obrigkeiten sahen solches Treiben nicht gern: ab 1737 kam es zu einzelnen Verfolgungen, 1740 verbot die bergische Regierung die Konventikel, woraufhin Tersteegen sein öffentliches Wirken einstellte.
In den Jahren 1733 bis 1743 gab er „Auserlesene Lebensbeschreibungen heiliger Seelen“ heraus: 26 vorbildhafte Viten katholischer Heiliger. 1750 nahm er seine Tätigkeit als Redner wieder auf, wobei der mystische Charakter zurückzutreten begann. Eine von Berlin aus angeordnete Visitation 1754 gelangte zu einem positiven Urteil über Tersteegens Laienpredigten; sogar seine Kritik am Skeptizismus Friedrichs II. („Gedanken über eines Anonymi Buch, genannt Vermischte Werke des Welt-Weisen zu Sanssouci“) wurde vom preußischen König nicht nur toleriert, sondern sogar goutiert. Behindert durch ein Bruchleiden, musste Tersteegen seine Rednertätigkeit seit 1756 stark einschränken und 1760 schließlich aufgeben. Von 1769 bis 1773 wurden seine „Geistlichen Brosamen“ gedruckt.
Die äußere Kirche, ihre Verfassung, aber auch ihre Erneuerung, steht bei Tersteegen am Rande; indem es ihm um die subjektive Gotteserfahrung des Einzelnen geht, ist er hochmodern. Zwar wendet er sich deutlich gegen gedankenlos weitergegebene und übernommene Erbreligion und gegen bekenntnisgebundene Kirchlichkeit, doch ohne die Kirche zu bekämpfen: Ein wahrer Mystiker wird nicht so leicht zum Separatisten, er hat wichtigere Sachen zu tun. So konnte er nach seinem Tode am 3.4.1769 in Mülheim kirchlich bestattet werden. Ein authentisches Bildnis von ihm gibt es nicht.
„Tersteegens Theologie ist Ausdruck seines Lebens und seiner gelebten Spiritualität; umgekehrt erhellen Schriften und Theologie sein Leben. Die Übereinstimmung von Person, Leben, Frömmigkeit und Werk machen Tersteegen so anziehend.“ (Wolfram Janzen). Walter Nigg nannte ihn einen „Heiligen im Protestantismus“. Am Niederrhein und im Bergischen Land (Gemarke) war sein Einfluss immens, er wirkte im landeskirchlichen Pietismus Württembergs, ja bis nach Amerika und Russland. Dass seine bekannteste Liedstrophe Ich bete an die Macht der Liebe ausgerechnet in das Zeremoniell des Großen Zapfenstreiches Eingang gefunden hat, mag man als Ironie der Geschichte betrachten oder ärgerlich finden. Sein eigentliches Erbe ist die Erfahrung der Seligen Ewigkeit: Ins stille Nu so inniglich / Sink ich, mein einigs Gut, in dich / In Seelengrund hinein: / Da leb ich außer Ort und Zeit, / Von mir und Creaturen weit, / Mit dir vergnügt allein.
Schriften
Briefe, hg. von Gustav Adolf Benrath, 2 Bände, Gießen 2008.
Geistliches Blumengärtlein, Stuttgart 1905.
Geistliche Reden, Göttingen 1979.
Literatur
Janzen, Wolfram, Artikel “Tersteegen”, in: Biographisch-Bibliographisches Kirchenlexikon 11 (1996), Sp. 674-695.
Löschhorn, A., Gerhard Tersteegen, Zürich 1946.
Nigg, Walter, Große Heilige, Zürich 1947.
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Eberlein, Hermann-Peter, Gerhard Tersteegen, in: Internetportal Rheinische Geschichte, abgerufen unter: https://www.rheinische-geschichte.lvr.de/Persoenlichkeiten/gerhard-tersteegen/DE-2086/lido/57c93b838c0789.44496860 (abgerufen am 06.12.2024)