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Der am 16.1.1931 in Wuppertal-Barmen geborene Johannes Rau war Mitglied der SPD (seit 1957), Abgeordneter (1958-1998) und Fraktionsvorsitzender der SPD (1967-1969) im nordrhein-westfälischen Landtag, Landesvorsitzender der SPD in Nordrhein-Westfalen (1977 bis 1998), Oberbürgermeister der Stadt Wuppertal (1969-1970), Wissenschaftsminister (1970-1978) und Ministerpräsident des Landes NRW (1978-1998), stellvertretender Bundesvorsitzender (1982-1999) und Kanzlerkandidat der SPD (1987) und schließlich der achte Präsident der Bundesrepublik Deutschland (1999-2004).
Johannes Raus Elternhaus war sowohl durch ein bürgerliches Selbstverständnis als auch durch stark religiöse Einflüsse des pietistisch-frommen Milieus in Wuppertal geprägt. Mehr noch als die Mutter Helene Rau, geborene Hartmann (1901-1988) war der Vater Ewald Rau (1898-1953) die zentrale Bezugsfigur für den jungen Johannes Rau. Der Vater sicherte der Familie als freier Prediger ein kleines Auskommen. Durch die Teilnahme an Bibelkreisen, Gesangstunden, kirchliche Gemeindekontakte und persönliche Verbindungen zu geistlichen Vordenkern erfuhr Johannes Rau in der Kinder- und Jugendzeit eine stark protestantisch geprägte Sozialisation.
Nicht zuletzt aufgrund dieser religiösen Prägung hatte Rau zunächst den Wunsch, Pfarrer zu werden. Nachdem Rau zunächst das Gymnasium besucht hatte, verließ er dieses 1948 vorzeitig ohne Abitur. Er erfüllte somit nicht die formalen Voraussetzungen für ein Theologiestudium. Stattdessen begann der leidenschaftliche Leser 1949 eine Verlagsbuchhändlerlehre beim Verlag Emil Müller in Wuppertal. Von dort führte ihn der berufliche Weg über die Vertriebsleitung beim Luther- und Eckart-Verlag in Witten zum Jugenddienst-Verlag. Der Verlagsgründer und CDU-Bundestagsabgeordnete Hermann Ehlers (1904-1954) förderte Rau und dieser wurde 1954 zunächst Geschäftsführer, 1962 Mitglied des Vorstands und schließlich 1965 Direktor des im Peter-Hammer-Verlag aufgehenden Verlages. Parallel zu dieser Tätigkeit arbeitete Rau als freier Journalist und Autor. Erst mit der Übernahme des Amts des SPD-Fraktionsvorsitzenden im nordrhein-westfälischen Landtag 1967 zog sich Rau aus dem Verlagsgeschäft zurück.
Erste politische Gehversuche ergaben sich durch Raus journalistische Arbeit als freier Mitarbeiter des Westdeutschen Rundfunks. Hierüber kam er 1952 in persönlichen Kontakt mit dem Mitbegründer der Gesamtdeutschen Volkspartei (GVP), Adolf Scheu (1907-1978), was Rau zur Mitgründung des nordrhein-westfälischen Landesverbandes der GVP bewog. Als sich die GVP bereits 1957 angesichts ausbleibender Wahlerfolge wieder auflöste, entschied sich Rau vor allem aufgrund der deutschlandpolitischen Positionierung gemeinsam mit weiteren GVP-Politikern wie Gustav Heinemann, Diether Posser (1922-2010), Helene Wessel (1898-1969) und Erhard Eppler (geboren 1926) für den Eintritt in die SPD.
Der Parteiwechsel bedeutete keinesfalls einen politischen Karriereknick, sondern vielmehr den Beginn eines lang anhaltenden landespolitischen Aufstiegs. Für die SPD errang Rau bereits 1958 ein Mandat im nordrhein-westfälischen Landtag, wurde Sprecher für Jugend- und Bildungspolitik sowie kulturpolitischen Sprecher und stieg 1966 zum Vorsitzenden des Kulturausschusses auf. Gegen den Widerstand des SPD-Landesvorsitzenden und Ministerpräsidenten Heinz Kühn wurde Rau 1967 Fraktionsvorsitzender seiner Partei im Landtag und damit zu einer wichtigen landespolitischen Führungspersönlichkeit.
Raus weiterer landespolitischer Aufstieg wurde 1969 durch ein kommunalpolitisches Intermezzo als Oberbürgermeister der Stadt Wuppertal unterbrochen. Dort war er bereits seit 1964 Ratsmitglied gewesen. Die Rückkehr auf die landespolitische Bühne folgte jedoch schon ein Jahr später, als Rau 1970 von Ministerpräsident Kühn zum Wissenschaftsminister des Landes NRW berufen wurde. In diesem Amt machte sich Rau insbesondere durch die Gründung fünf neuer Hochschulen in Duisburg, Essen, Paderborn, Siegen und Wuppertal und dem damit verbundenen Ausbau der nordrhein-westfälischen Hochschullandschaft einen Namen.
Trotz des anhaltenden Widerstands von Ministerpräsident Heinz Kühn gegen Raus weiteren landespolitischen Aufstieg konnte sich dieser in NRW zunehmend profilieren. Obwohl als klarer Außenseiter angetreten, wurde Rau 1977 auf einem Landesparteitag der SPD als Nachfolger Kühns zum neuen Landesvorsitzenden gewählt. Mit dieser Wahl fiel zudem eine Vorentscheidung über die Nachfolge Kühns auch im Amt des Ministerpräsidenten. Dieser kündigte für den 20.9.1978 seinen Rücktritt vom Amt des Ministerpräsidenten an. Auf einem SPD-Landesparteitag am 17.9.1978 nominierte die Partei Johannes Rau zu seinem Nachfolger und zum Spitzenkandidaten für die Landtagswahl 1980. Bei seiner Wahl durch den Landtag am 20.9.1978 erhielt Rau alle 104 Stimmen der Koalitionspartner SPD und FDP. Die Übernahme des Ministerpräsidentenamtes durch Johannes Rau markierte den Beginn einer sozialdemokratischen Hochphase und den Aufstieg Raus zur unangefochtenen Führungsfigur seiner Partei in Nordrhein-Westfalen. Unter seiner Führung errang die SPD 1980 mit 48,4 Prozent der Stimmen erstmals eine absolute Landtagsmehrheit, da der bisherige Koalitionspartner FDP knappt an der Fünf-Prozent-Hürde scheiterte. Bei der Landtagswahl 1985 erreichte Rau eine Verbesserung des SPD-Wahlergebnisses auf 52,1 Prozent der Wählerstimmen und etablierte seine Partei damit als strukturell mehrheitsfähig. Die SPD gab sich fortan als Staatspartei und kreierte nicht zuletzt mit dem Slogan „Wir in NRW“ ein vorher nicht vorhandenes Landesbewusstsein. Trotz der lang anhaltenden Krisen in Bergbau und Stahlindustrie gelang es Rau und der SPD auch 1990, mit 50 Prozent der Stimmen die absolute Mehrheit zu sichern. Mit seinen Fähigkeiten zu innerparteilicher Moderation und personalpolitischem Ausgleich, dem Knüpfen eines dichten Netzes an landespolitischen Kontakten und einer zunehmend wichtigen Rolle in der Bundespolitik gelang es Rau, beinahe uneingeschränkte Parteimacht zu erlangen.
Johannes Rau war bereits 1982 zum stellvertretenden Bundesvorsitzenden seiner Partei aufgestiegen. Spätestens nach dem Wahlsieg 1985 in Nordrhein-Westfalen wurde Rau zum neuen bundespolitischen Hoffnungsträger der SPD. Zur Übernahme der Kanzlerkandidatur 1987 musste er jedoch gedrängt werden. Das schwache Wahlergebnis mit 37 Prozent der Stimmen gab Rau in seiner Zurückhaltung rückblickend Recht und markierte das vorläufige Ende bundespolitischer Ambitionen.
Die weiterhin unangefochtene Führungsrolle Johannes Raus und der SPD in NRW, Raus aktive Rolle im Prozess der deutschen Einheit, sein ausgeprägt präsidiales Auftreten, seine innerparteiliche Moderationsfähigkeit und sein beschränkter bundespolitischer Ehrgeiz machten Rau ab 1990 beinahe automatisch zu einem Kandidaten für das Amt des Bundespräsidenten. Bereits 1991 war spekuliert worden, Helmut Kohl und die CDU könnten eine Kandidatur des Sozialdemokraten Rau 1994 aktiv unterstützen. Für die Nachfolge von Richard von Weizsäcker (Bundespräsident 1984-1994) präsentierte die Union jedoch mit Roman Herzog einen eigenen Kandidaten. Rau wiederum wurde von seiner Partei im September 1993 offiziell als Kandidat nominiert. Angesichts der Mehrheitsverhältnisse in der Bundesversammlung nicht überraschend, unterlag Johannes Rau am 23.5.1994 Roman Herzog (Bundespräsident bis 1999) im dritten Wahlgang.
Nach dem Bundestagswahlkampf 1987 und der erfolglosen Bundespräsidentenkandidatur 1994 kehrte Rau damit zum zweiten Mal in die Landespolitik zurück. Allerdings markierte spätestens die Landtagswahl 1995 den Beginn des schleichenden Abschieds Raus aus der Landespolitik. Erstmals seit 1980 verlor die SPD bei der Wahl die absolute Mehrheit und war nun zur Koalitionsbildung mit Bündnis90/Die Grünen gezwungen. Unter diesen veränderten Rahmenbedingungen verstärkte sich noch Raus Regierungsstil, vor allem als moderierender „Landespräsident“ zu agieren und das landespolitische Tagesgeschäft seinem Vertrauten Wolfgang Clement (geboren 1940) als „geschäftsführender Ministerpräsident“ zu überlassen.
Sowohl für die SPD als auch für Johannes Rau war das Wahlergebnis von 1995 eine Zäsur. Die Notwendigkeit der Koalitionsbildung kratzte an Raus Nimbus als Erfolgsgarant absoluter Mehrheiten. Er konnte nur durch die Intervention des SPD-Bundesvorsitzenden Rudolf Scharping (geboren 1947) noch am Wahlabend von einem sofortigen Rücktritt abgehalten werden. Für Rau war das Bündnis mit den Grünen damit keinesfalls eine Wunschehe, sondern vielmehr eine „rot-grüne Zwangsromanze“ (Frankfurter Allgemeine Zeitung). Dennoch sicherte insbesondere Johannes Rau mit seinem auf Ausgleich bedachten Politikstil den Fortbestand der rot-grünen Koalition in den folgenden Jahren.
Gleichwohl machten sich Abnutzungserscheinungen bei Rau deutlich bemerkbar. Seit der Landtagswahl 1995 verstummten die Stimmen für einen Wechsel an der Spitze der Landesregierung nicht mehr. Allerdings ließ sich Rau erst durch die guten Aussichten der SPD für die Bundestagswahl 1998 und die klar vernehmbare Ungeduld innerhalb der Partei schließlich zum Rückzug bewegen. Das Ziel fest im Blick, 1999 zum Bundespräsidenten gewählt zu werden, trat Johannes Rau im Mai 1998 von den Ämtern als Landesparteivorsitzender und Ministerpräsident zurück.
Angesichts der durch die Bundestagswahl 1998 deutlich veränderten Mehrheitsverhältnisse in der Bundesversammlung waren die Aussichten Raus für eine erfolgreiche Präsidentschaftskandidatur gut. Als gemeinsamer Kandidat von SPD und Bündnis90/Die Grünen wurde Rau am 23.5.1999 im zweiten Wahlgang zum achten Präsidenten der Bundesrepublik Deutschland gewählt. Angesichts der politischen Biographie ist unbestreitbar, dass „nur wenige Politiker der Bundesrepublik seit den Tagen Konrad Adenauers, so Jürgen Mittag und Klaus Tenfelde in einer ersten umfassenden Bilanz, „über ihren Tod hinaus so fest im öffentlichen Bewusstsein verankert bleiben wie Johannes Rau“. Über Jahrzehnte hinweg spielte Rau auf der politischen Bühne eine herausragende Rolle. Nicht nur war er fast zwanzig Jahre lang nordrhein-westfälischer Ministerpräsident und damit nach Peter Altmeier der am längsten regierende Ministerpräsident eines Bundeslandes. Er stand zudem als Landtagsabgeordneter, Fraktionsvorsitzender, Landesminister und Parteivorsitzender im politischen Rampenlicht. Gekrönt wurde seine politische Laufbahn schließlich durch das Amt des Bundespräsidenten, in dem er insbesondere auf dem Feld der Integrationspolitik und der deutsch-israelischen Aussöhnung einen besonderen Schwerpunkt setzte.
Johannes Rau, der seit 1982 mit Christina Delius (geboren 1956), einer Enkelin von Gustav Heinemann, verheiratet war und drei Kinder hatte, starb am 27.1.2006 in Berlin. Seine letzte Ruhestätte fand er auf dem Dorotheenstädtischen Friedhof.
Die von ihm im Jahr 2000 gegründete Johannes-Rau-Stiftung wirkt noch heute vor allem auf den Gebieten der Jugendarbeit sowie bei interkulturellen, musischen und literarischen Projekten in seiner Heimatstadt Wuppertal.
Literatur
Florack, Martin, Johannes Rau, in: Gösmann, Sven (Hg.), Unsere Ministerpräsidenten in Nordrhein-Westfalen. Neun Porträts von Rudolf Amelunxen bis Jürgen Rüttgers, Düsseldorf 2008, S. 154-181.
Hitze, Guido, Die Parteien und das Land. Der Mythos vom „sozialdemokratischen Stammland“ NRW. Johannes Rau (1931-2006) als Ministerpräsident von Nordrhein-Westfalen, in: Brautmeier, Jürgen/ Heinemann, Ulrich (Hg.), Mythen – Möglichkeiten – Wirklichkeiten. 60 Jahre Nordrhein-Westfalen, Essen 2007, S. 153-171.
Hoffmann, Markus, Regierungsstile von Ministerpräsident Johannes Rau 1990 bis 1998. Versöhnen als Machtinstrument, Marburg 2006.
Korte, Karl-Rudolf/Florack, Martin/Grunden, Timo, Regieren in Nordrhein-Westfalen. Strukturen, Stile und Entscheidungen 1990 bis 2006. Wiesbaden 2006.
Mittag, Jürgen/Tenfelde, Klaus (Hg.), Versöhnen statt spalten. Johannes Rau: Sozialdemokratie Landespolitik und Zeitgeschichte, Oberhausen 2007.
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Florack, Martin, Johannes Rau, in: Internetportal Rheinische Geschichte, abgerufen unter: https://www.rheinische-geschichte.lvr.de/Persoenlichkeiten/johannes-rau/DE-2086/lido/57cd1c56466292.35478943 (abgerufen am 09.10.2024)