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Die aus einer niederländisch-rheinischen Familie stammende Anna Maria van Schurmann war eine Ausnahmeerscheinung ihrer Zeit. Sie erwarb eine enzyklopädische Bildung, galt als beste Latinistin ihres Landes und studierte als einzige Frau an der Universität Utrecht. Sie trat für die Frauenbildung und das Frauenstudium ein und stand in Kontakt mit namhaften Wissenschaftlern. War sie in jungen Jahren für ihr Wissen und ihre Bildung bekannt, war sie es im Alter – nach ihrem umstrittenen Anschluss an die radikal pietistischen Labadisten – vor allem für ihre Frömmigkeit.
Anna Maria van Schurmann (auch von Schürmann) wurde am 5.11.1607 in Köln geboren. Die Familie ihres Vaters Friedrich van Schurmann (gestorben 1623) war 1550 aus Antwerpen geflohen, weil die protestantische Familie dort im Zuge der Glaubenskriege Verfolgung zu befürchten hatte. Sie kam nach Köln, wo zunächst protestantische Flüchtlinge durchaus geduldet wurden. In Köln heiratete Friedrich van Schurmann die aus einer rheinischen Adelsfamilie stammende Eva von Harff. Das Ehepaar bekam drei oder vier Kinder, wobei Anna Maria die einzige Tochter war. Ab 1610 sah sich die Familie auch in Köln religiöser Verfolgung ausgesetzt. Sie verließ die Stadt, lebte für kurze Zeit auf dem Harffschen Schloss in Dreiborn (heute Stadt Schleiden) und ließ sich dann im nordfriesischen Franeker nieder. Erst 1653/1654 kehrte Anna Maria van Schurmann nochmals nach Köln zurück, um zwei unverheirateten Tanten mütterlicherseits bei der Regelung von Erbschaftsangelegenheiten zu helfen.
Die meisten Kenntnisse über Anna Marias Kindheit stammen aus ihrer Schrift „Eukleria" von 1673, eine Art Bericht oder Autobiographie mit dem Ziel der Rechtfertigung ihres Anschluss an den Spiritualisten Jean de Labadie (1610-1674). Ihre Kindheit war geprägt von der Erziehung im protestantischen Glauben, die den Grundstein für ihre lebenslange Frömmigkeit, ihr Streben nach Tugendhaftigkeit und Bildung legte. Sie wurde früh in den Lehren der reformierten Kirche unterrichtet und lernte Lesen und Schreiben anhand der Bibel. Daneben übte sie sich in für Mädchen ihrer Zeit üblichen Beschäftigungen wie Handarbeiten, Basteln, Malen, dem Fertigen von Scherenschnitten und dem Pressen von Pflanzen. Nachdem der Vater ihre Begabung für die lateinische Sprache entdeckt hatte, durfte sie am Unterricht ihrer Brüder teilnehmen. Fortan wurde sie von ihrem Vater nicht nur in Latein, sondern auch in Deutsch und Niederländisch unterrichtet. Später lernte sie Englisch, Französisch, Italienisch, Altgriechisch und Hebräisch und durch befreundete Professoren orientalische Sprachen wie Arabisch, Syrisch, Chaldäisch und Samaritanisch. Die äthiopische Sprache soll sie sich sogar im Eigenstudium angeeignet haben. Nach dem Tod ihres Vaters und Lehrers 1623 widmete sie ihr Leben - wie sie es ihm versprochen hatte - ganz der Wissenschaft und Bildung, blieb unverheiratet und kinderlos.
In den folgenden Jahren erarbeitete sie sich ein umfassendes Universalwissen. Neben den zahlreichen Sprachen, die sie schon in Kindheit und Jugend gelernt hatte, bildete sie sich in Musik und Malerei aus. Durch Selbststudium und Privatunterricht bei namhaften Professoren erwarb sie umfangreiche Kenntnisse der Geographie, Geschichte, Astronomie, Mathematik, Biologie und Medizin. Die Grenzen der Frauenbildung erfuhr sie jedoch im Fach Theologie, da man die bestmögliche theologische Ausbildung nur an den Universitäten erhalten konnte, die ausschließlich Männer zugänglich waren.
Obwohl sie Anfang der 1630er Jahre als beste Latinistin des Landes galt und 1634/1636 in ihrer damaligen Heimatstadt Utrecht das lateinische Festgedicht zur Eröffnung der Universität verfasst hatte, wurde sie nicht zum Studium zugelassen. In ihrer Denkschrift „Dissertatio num feminae christianae conveniat studium litterarum" (Ob einer christlichen Frau wissenschaftliches Studium anstehe), veröffentlicht 1638 unter dem Titel „Amica dissertatio inter Annam Mariam Schurmanniam et Andr. Rivetum de capacitate ingenii muliebris ad scientas", reagierte sie auf diese Situation. Schon vorher hatte sie sich für die Frauenbildung eingesetzt und das in Briefwechseln und Abhandlungen, so mit dem Leidener, ursprünglich aus Frankreich stammenden Professor André Rivet (1572-1651), der Herforder Fürstäbtissin Elisabeth von der Pfalz (1618-1680) oder der Schriftstellerin und Philosophin Marie de Gournay (1565-1645), theoretisch erörtert.
Sie trat für das Frauenstudium jedoch nicht in einem politischen oder gar emanzipatorischen Sinne ein, sondern sah es als religiöse Frage. Christliche Frauen sollten die Möglichkeit erhalten, durch ein Studium ihre christliche Gelehrsamkeit und moralische Tugend zu verbessern. Die humanistischen Fächer Grammatik und Logik dienten nach ihrer Auffassung dazu am besten, gefolgt von Physik, Metaphysik, Geschichte und Sprachen. Mathematik, Musik, Poesie und Malerei hielt sie hingegen für einen Zeitvertreib und Jurisprudenz, Militärwesen und die Kunst der öffentlichen Rede für Frauen ohne Nutzen. 1641 erschien ein zweiter Druck ihrer ersten Arbeit unter dem Titel „Dissertatio logica de ingenii mulierbris ad doctrinam, et meliores litteras aptitudine" (Das Recht der Frauen auf die Arbeit als Wissenschaftlerin).
Ihre erste Denkschrift und die Hilfe des Gisbert Voetius (1589-1676), des reformierten Theologen und Gründungsrektors der Utrechter Universität, ermöglichte ihr ab den späten 1630er Jahren als einziger Frau das Studium an der Universität. Sie durfte aber nur getrennt von den männlichen Studenten in einer vergitterten Zelle, der „loge grillé", oberhalb der Aula an den Vorlesungen teilnehmen. Ihre Studienzeit war geprägt von den konservativ-calvinistischen Lehren Gisbert Voetius’. Die Zulassung zur Universität und deren außergewöhnliche Regelung brachten ihr weitere Bekanntheit über Utrecht hinaus ein. Mit 35 Jahren wurde sie in das Lexikon „Bibliotheca Belgica" des Valerius Andreas (1588-1655) aufgenommen. Sie stand in Kontakt mit zahlreichen berühmten Wissenschaftlern und erwarb sich selbst einen vorzüglichen Ruf als Gelehrte und Wissenschaftlerin. Mit dem französischen Philosophen René Descartes (1596-1650) korrespondierte sie über Bibelexegese und philologische Streitfragen. Persönlichkeiten wie die Schriftstellerin Madeleine de Scudéry (1607-1701) und die französische Königin Maria von Medici (1575-1642) fühlten sich geehrt, Handschriften von ihr zu erhalten. Ihr wurden Ehrenbezeichnungen wie beispielsweise „Mirakel von Köln", „Zierde von Utrecht" („Decus Ultrajecti") und „l´honneur de l´univers" (Ehre des Universum) zuteil.
In den späten 1660er Jahren erfuhr ihr Leben eine grundlegenden Wendung durch die Begegnung mit dem frühpietistischen Sektenführer Jean de Labadie in Genf. Sie entschied sich für ein Wanderleben unter seiner Führung und gab ihr Gelehrtendasein auf. In den folgenden neun Jahren bis zu ihrem Tod lebte sie in der Glaubensgemeinschaft, die sich unter anderem in Amsterdam, Herford, Altona und im westfriesischen Wieuwert aufhielt. Sie waren ständig auf der Flucht vor Verfolgung. Unter Strenggläubigen wurde Anna Maria jetzt als Ketzerin und in der Wissenschaft als Närrin abgeurteilt.
Im Mittelpunkt ihres letzten Lebensabschnitts standen die Pietas und der entstehende Pietismus. Sie widmete sich völlig dem bescheidenen und frommen Leben, was sie für im Sinne der Bibel hielt. In dieser Zeit verfasste sie auch ihre Autobiographie und Rechtfertigungsschrift „Eukleria oder die Erwählung des besseren Teils", deren erster Teil 1673 erschien. Darin distanzierte sie sich von ihrem früheren Leben und verurteilte ihr wissenschaftliches Wirken und ihren Ehrgeiz als oberflächlich. Der zweite Teil der Schrift erschien 1678 kurz nach ihrem Tod.
Anna Maria van Schurmann starb am 4.5.1678 in der Labadisten-Gemeinde nahe dem Dorf Wieuwerd. War sie in jungen Jahren für ihr Wissen und ihre Bildung bekannt, war sie es im Alter vor allem für ihre Frömmigkeit. Für sie selbst war die Verbindung aus Frömmigkeit und Wissen immer die Lebens- und Denkgrundlage.
Heute ziert eine Steinskulptur der Anna Maria van Schurmann den Kölner Rathausturm. Die Bildhauerin Elisabeth Perger stellte sie mit Staffelei, Pinsel, einem aufgeschlagenem Buch und einer Eule als Symbol für die Weisheit dar. Die Aufnahme in das Figurenprogramm des Rathausturms 1990/1991 war nicht unumstritten, da Anna Maria van Schurmann nur wenige Lebensjahre in Köln verbracht und wohl auch keine besondere Zuneigung zu ihrer Geburtsstadt empfunden hat. Trotzdem wurde ihr diese Ehrung als Universalgelehrte zu teil.
Werke
Amica dissertatio inter Annam Mariam Schurmanniam et Andr. Rivetum de capacitate ingenii muliebris ad scientas, 1638.
Dissertatio logica de ingenii mulierbris ad doctrinam, et meliores litteras aptitudine (Das Recht der Frauen auf die Arbeit als Wissenschaftlerin), 1641 (2. Druck der ersten Arbeit).
Opulscula hebraea, graeca, latina, gallica, prosaica et metrica („Kleine Werke"), 1648 (Neuausgaben 1650, 1652, 1749).
Eukleria seu melioris partis electio (Eukleria oder die Erwählung des besseren Teils), 2 Teile, 1673, 1684/1685.Liebmann, Otto, „Ueberweg", in: Allgemeine Deutsche Biographie 39 (1895), S. 119-121. [Online]
Literatur
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Brandes, Ute, Studierstuben, Dichterklub, Hofgesellschaft - Kreativität und kultureller Rahmen weiblicher Erzählkunst im Barock, in: Brinker-Gabler, Gisela (Hg.), Deutsche Literatur von Frauen, Band 1, München 1988, S. 222-247.
Franken, Irene, „Was aber bleibt von den Spuren unseres Namens". Eine Rede zum Gedenken an Anna Maria van Schürmann (1607-1678), in: Franken, Irene/Kling-Mathey, Christiane (Hg.), Köln der Frauen. Ein Stadtwanderungs- und Lesebuch, Köln 1992, S. 241-253.
Irwin, Joyce, Anna Maria van Schurmann – Eine Gelehrte zwischen Humanismus und Pietismus, in: Kleinau, Elke/Opitz, Claudia (Hg.), Geschichte der Mädchen- und Frauenbildung, Band 1, Frankfurt u.a. 1996, S. 309-324.
Köhler-Lutterbeck, Ursula/Siedenkopf, Monika, Frauen im Rheinland. Außergewöhnliche Biographien aus der Mitte Europas, Köln 2001, S. 44-49.
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Schmidt, Klaus, Glaube, Macht und Freiheitskämpfe. 500 Jahre Protestanten im Rheinland, Köln 2007, S. 57-59.
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Online
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Portrait of Anna Maria van Schurmann (Information in englischer Sprache über das Portrait Anna Maria van Schurmans von Jan Lievens, 1649 auf der Website der National Gallery London). [Online]
Schurman, Anna Maria van: Opuscula Hebraea, Graeca, Latina, Gallica, Prosaica et Metrica (Umfangreiche Information inklusive zahlreicher Quellenverweise auf der Website MATEO, Mannheimer Texte Online, der Universität Mannheim). [Online]
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Delhougne, Severine, Anna Maria van Schurmann, in: Internetportal Rheinische Geschichte, abgerufen unter: https://www.rheinische-geschichte.lvr.de/Persoenlichkeiten/anna-maria-van-schurmann/DE-2086/lido/57c94cf67bf9a6.49645628 (abgerufen am 07.10.2024)