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Hans Gerling war einer der bedeutendsten deutschen Versicherungsunternehmer des 20. Jahrhunderts.
Hans Gerling wurde am 6.6.1915 als Sohn des Robert Gerling und seiner Ehefrau Auguste geborene Hoffmeister (1879-1964) in Köln geboren. Nach dem Abitur am dortigen Realgymnasium Kreuzgasse studierte er Wirtschafts- und Rechtswissenschaften. Als sein Vater Robert Gerling (1878–1935) im Alter von 57 Jahren überraschend starb und kein rechtsgültiges Testament hinterließ, wurde zunächst Hans‘ ältester Bruder Robert jr. zum Nachfolger bestimmt. Robert Gerling jr. wanderte freilich 1939 in die USA aus und plante auch mittelfristig nicht, nach Deutschland zurückzukehren. Während des Zweiten Weltkriegs musste er seine beiden jüngeren Brüder Hans und Walter mit mehreren Vollmachten ausstatten, um das väterliche Unternehmen nicht zu gefährden und sicherzugehen, dass es nach dem Krieg nicht als Feindesbesitz beschlagnahmt würde.
Nach Kriegsende sorgte Hans Gerling federführend dafür, dass der Gerling Konzern seine Geschäfte rasch wieder aufnehmen konnte. Er verfügte über sehr gute Englischkenntnisse und konnte die Alliierten bereits im Juni 1945 davon überzeugen, dass weder er noch Generaldirektor Walter Forstreuther , der bereits für Robert Gerling sen. gearbeitet und während des Kriegs die Geschäfte geführt hatte, Mitglied einer nationalsozialistischen Organisation gewesen waren. Gerling war damit das erste deutsche Versicherungsunternehmen, das nach dem Krieg wieder tätig werden konnte.
Die folgenden Jahre wurden in erster Linie von den langwierigen und spektakulären Erbstreitigkeiten der drei Gerling-Brüder bestimmt. 1949 übernahm Hans Gerling den Vorstandsvorsitz aller Gerling-Gesellschaften, da sein Bruder Robert jr. in den USA blieb. Erst nach über 60 Zivilprozessen und auf massiven Druck von Vertretern aus Wirtschaft und Politik, die um das Ansehen der deutschen Versicherungswirtschaft fürchteten, kam es im September 1957 zu einem Vergleich zwischen den Brüdern: Robert Gerling jr. übernahm das Auslandsgeschäft, seine beiden jüngeren Brüder das inländische Geschäft zu gleichen Teilen. Walter Gerling, dessen Interessen nicht in erster Linie dem Familienunternehmen galten, verkaufte bis 1967 alle Anteile an seinen Bruder Hans, der seitdem als alleiniger Inhaber des Gerling-Konzerns fungierte.
Im Unterschied zu vielen anderen Unternehmenserben ruhte sich Hans Gerling nicht auf dem Lebenswerk des Vaters auf. Unter seiner Leitung blühte das Familienunternehmen in den folgenden Jahren auf: Gerling hatte ein Gespür für zukunftsweisende Märkte, neue Versicherungsprodukte und eine medienwirksame Inszenierung seines Konzerns – freilich nicht seiner Person. Er galt, für einen Familienunternehmer nicht untypisch, zeitlebens als öffentlichkeitsscheu und publizitätsabgeneigt. Bereits Mitte der 1950er Jahre expandierte Gerling ins Ausland und der Konzern avancierte zu einem der international angesehensten Industrieversicherer sowie bis 1961 zum zweitgrößten deutschen Versicherer. Zwischen 1953 und 1973 stiegen die vereinnahmten Prämien von 180 Millionen auf zwei Milliarden Mark. Seine privaten Gewinne beließ Gerling nahezu vollständig im Unternehmen.
In den 1970er Jahren folgte mit der Verwicklung in den Herstatt-Skandal die Ernüchterung. Hans Gerling hielt mit 80 Prozent die Mehrheit an Herstatt, so dass im Zuge der Devisenspekulationen der Bank auch der Versicherungskonzern in finanzielle Schieflage geriet. Um einen Vergleich für die Gläubiger des insolventen Bankhauses zu ermöglichen und verlorenes Vertrauen in den Versicherungskonzern zurückzugewinnen, veräußerte er 1974 51 Prozent seiner Anteile am Gerling-Konzern. Er schied als Vorstandsvorsitzender aus allen Gerling-Gesellschaften aus und übernahm stattdessen ein Aufsichtsratsmandat in der 1976 als Holdinggesellschaft gegründeten Gerling-Konzern-Versicherungs-Beteiligungs-AG. Dies war kein freiwilliger Entschluss, sondern Ergebnis eines Rechtsstreits um Gerlings Haftung als Haupteigentümer. Zudem übten die Deutsche Bank, die Westdeutsche Landesbank sowie das Wirtschafts- und Finanzministeriums Druck auf Gerling aus, um einen weiteren Imageschaden vom Finanzplatz Deutschland abzuwenden. 25,1 Prozent am Konzern übernahm die Zürich Versicherungs-Gesellschaft, 25,9 Prozent eine aus 59 industriellen Kunden bestehende Versicherungsholding der deutschen Industrie (VHDI). 1978 verkaufte die Zürich Versicherungs-Gesellschaft ihre Anteile an die VHDI, deren Mehrheit wiederum die Flick-Gruppe erwarb. Im gleichen Jahr übertrug Friedrich Karl Flick (1927–2006) nach einem offenen Konflikt mit Hans Gerling um die Besetzung von Aufsichtsratsposten den Vorstandsvorsitz der Holding wieder an Hans Gerling, der damit in seine frühere Funktion zurückkehrte. 1986 gelang es Gerling schließlich, sämtliche Anteile seines Konzerns zurückzuerwerben.
Inmitten der finanziell schwierigen Situation des Jahres 1991 – der Konzern verbuchte hohe Versicherungsverluste und geriet in Schieflage – starb Hans Gerling am 14. August; er war seit Ende der 1980er Jahre gesundheitlich schwer angeschlagen. Gerling starb damit ein Jahr nach seiner Frau Irene (1913–1990); aus der Ehe waren drei Töchter und ein Sohn hervor gegangen.
Sein Sohn Rolf (geboren 1954) folgte ihm als Mehrheitseigner nach, engagierte sich aber nicht im operativen Geschäft, sondern beschränkte sich auf den Vorsitz des Aufsichtsrats. Bereits unmittelbar nach dem Tod des Vaters war er gezwungen, 30 Prozent des Aktienkapitals an die Deutsche Bank zu verkaufen, um die Kapitalbasis des Unternehmens zu erweitern, Kredite abzulösen und die Erbschaftssteuer entrichten zu können. Nach für den Konzern wirtschaftlich schwierigen Jahren und einer notdürftigen Konsolidierung verkaufte Rolf Gerling seine Unternehmensanteile 2005 an die HDI.
Hans Gerling galt als einer der profiliertesten, aber auch umstrittensten Unternehmer der Nachkriegszeit. Hilmar Kopper (1935-2021) würdigte Hans Gerling postum als „visionären Realisten“, „kreativen Gestalter“ und geschickten Netzwerker, dem zeitlebens vor allem seine „geistige Unabhängigkeit“ wichtig gewesen sei. Innerbetrieblich wirkte Gerling als „sozialer Patriarch“, konservativ in seinen Anschauungen, repräsentativ und machtbewusst im Auftreten, scharf und mitunter barsch in seiner Rhetorik – alle Fäden des Konzerns liefen bei ihm zusammen. Im Kölner Friesenviertel ließ Hans Gerling einen imposanten Geschäftssitz und am Gereonshof das Gerling-Hochhaus errichten, das das Bild der Stadt prägte. 1973 ließ sich der Schriftsteller Günther Wallraff (geboren 1942) unter Vorlage gefälschter Personalunterlagen als Bote bei Gerling anstellen und veröffentlichte in dem Buch „Ihr da oben – wir da unten“ eine Reportage über die hierarchischen Strukturen bei Gerling.
Literatur
Barth, Boris, Der Gerling-Konzern als Familienunternehmen, in: Hilger, Susanne/ Soénius, Ulrich S. (Hg.), Netzwerke – Nachfolge – Soziales Kapital. Familienunternehmen im Rheinland im 19. und 20. Jahrhundert, Köln 2009, S. 103–118.
Frei, Norbert/Ahrens, Ralf/Osterloh, Jörg/Schanetzky, Tim, Flick: der Konzern, die Familie die Macht, München 2011.
Koch, Peter, Geschichte der Versicherungswirtschaft in Deutschland, Karlsruhe 2012.
Streeck, Wolfgang/Höpner, Martin (Hg.), Alle Macht dem Markt? Fallstudien zur Abwicklung der Deutschland-AG, Frankfurt a. M./New York 2003.
Online
Gerling Versicherungs-Beteiligungs-AG (Hg.), 100 Jahre Gerling – Eine Chronik [zuletzt abgerufen am 30.11.2013]. [Online]
Keun, Christian, Die reichsten Deutschen: Rolf Gerling – Milliardenschwer mit Sicherheit, in: Spiegel online 23.6.2001 [zuletzt abgerufen am 30.11.2013]. [Online]
Kopper, Hilmar, Hall of fame 1999 – Laudatio. Hilmar Kopper über Hans Gerling, in: manager magazin online 2.7.1999 [zuletzt abgerufen am 30.11.2013]. [Online]
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Junggeburth, Tanja, Hans Gerling, in: Internetportal Rheinische Geschichte, abgerufen unter: https://www.rheinische-geschichte.lvr.de/Persoenlichkeiten/hans-gerling/DE-2086/lido/57c6c75e10d8d6.84592694 (abgerufen am 12.10.2024)