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Rosalie Marie Auguste Nitribitt, genannt Rosemarie, war eine Frankfurter Edelprostituierte und Opfer eines brutalen Mordes. Ihr Tod entwickelte sich zum ersten großen Gesellschaftsskandal der jungen Bundesrepublik Deutschland, da zu ihrem Kundenkreis hochrangige Vertreter aus Politik und Wirtschaft zählten. Die genauen Umstände und Hintergründe des Mordes sind, ebenso wie die Identität des Täters, bis heute ungeklärt.
Rosemarie Nitribitt wurde am 1.2.1933 als uneheliches Kind der minderjährigen Marie Rosalie Nitribitt in Düsseldorf geboren. Den unbekannten Vater lernte sie vermutlich nie kennen, zusammen mit ihren beiden Halbschwestern wuchs sie in ärmlichen Verhältnissen in Ratingen auf. Bereits im Jahre 1936 entzog das Düsseldorfer Jugendamt der überforderten und mehrfach straffällig gewordenen Mutter das Sorgerecht. 1938 wurden Rosemarie und ihre zwei Jahre jüngere Halbschwester Irmgard in ein Kinderheim in Eschweiler eingewiesen.
Von Eschweiler aus gelangte Rosemarie im Mai 1939 zu einer Pflegefamilie in Niedermendig bei Mayen in der Eifel. Zunächst schien sich Rosemarie gut in ihre neue Familie zu integrieren, da sich die Pflegeeltern Nikolaus und Anna Maria Elsen aufopfernd um ihren Fürsorgezögling kümmerten. Die Kriegsjahre drängten jedoch auch Familie Elsen in ärmliche Verhältnisse, trotzdem scheint das junge Mädchen in Niedermendig zum ersten Mal Geborgenheit kennen gelernt und Freunde gefunden zu haben. Rosemarie galt als fröhlich, aufgeweckt und lebhaft, ehe sie 1944 im Alter von elf Jahren von einem 18-jährigen Nachbarsjungen vergewaltigt wurde. Der Täter blieb unbestraft, da der Vorfall in dem kleinen Eifeldorf totgeschwiegen wurde.
Mit 13 Jahren freundete sich Rosemarie mit zwei Prostituierten an und kam so erstmals in Kontakt mit dem Rotlichtmilieu. Nach dem Krieg begann sie sich selbst zu prostituieren, zu ihren ersten Freiern zählten amerikanische und französische Soldaten. Bereits im Alter von 14 Jahren soll sie erstmals abgetrieben haben.
In einem kleinen Ort wie Niedermendig stellte Rosemaries „verwahrlostes" Verhalten einen beispiellosen Skandal dar. Sie galt als „sittlich gefährdet", da sie sich nächtelang mit Soldaten herumtrieb. Daher wandten sich die überforderten Pflegeeltern an das Jugendamt. Am 22.8.1947 ordnete das Amtsgericht Mayen die Unterbringung der Nitribitt in einem Fürsorgeheim an, doch diese setzte sich zunächst nach Koblenz, dann nach Frankfurt am Main ab, wo sie kurzzeitig als Kellnerin und Mannequin arbeitete und sich auch Gelegenheiten zur Prostitution ergaben. Mehrfach wurde das junge Mädchen von der Polizei aufgegriffen. Die folgenden Jahre verbrachte sie in Heimen und Besserungsanstalten. Immer wieder gelang es ihr jedoch zu flüchten und für einige Wochen unterzutauchen, zumeist in Frankfurt.
1951 wurde sie wegen „Landstreicherei" zu drei Wochen Haft verurteilt, die sie in der Jugendstrafanstalt in Frankfurt-Preungesheim verbüßte. Danach tauchte sie erneut in Frankfurt unter, wo sie als Prostituierte in der Umgebung des Frankfurter Hauptbahnhofs arbeitete. Als sie im April 1952 erneut von der Polizei aufgegriffen wurde, war kein Heim mehr bereit, sie aufzunehmen. Man überführte sie in die Arbeitsanstalt Brauweiler (heute Stadt Pulheim), wo sie Tüten kleben und am Webstuhl arbeiten musste.
Nach ihrer Freilassung und der Aufhebung der gerichtlich angeordneten Fürsorgeerziehung im April 1953 zog es Rosemarie Nitribitt endgültig nach Frankfurt, wo sie sich ein kleines Zimmer mietete und begann, sich ihren Platz im Rotlichtmilieu zu erobern. Bald wurde aus der Gelegenheitshure eine professionelle Dirne, die zunächst ihre Kunden in zwielichtigen Lokalen sowie rund um den Frankfurter Hauptbahnhof suchte.
Die Bekanntschaft mit einem reichen türkischen Freier ermöglichte ihr schließlich den Kauf eines „Opel Kapitän", mit dem sie über die Kneipen und das Areal des Hauptbahnhofs hinaus tätig sein konnte. Andere Freier luden sie in den Urlaub ans Mittelmeer ein. Sie erhielt Zugang zu gesellschaftlich gehobenen Kreisen, zu denen Rechtsanwälte, Ärzte, Politiker und Unternehmer zählten.
Bereits im Mai 1956 erlaubten ihre Einnahmen aus der Prostitution die Anschaffung des legendären Mercedes 190 SL mit roten Ledersitzen und Weißwandreifen, der zu ihrem Markenzeichen werden sollte. Das Luxuscoupé, mit dem sie auf Kundenfang ging, signalisierte, dass sie keine gewöhnliche Straßendirne war.
Obwohl die Nitribitt als geizig galt, investierte sie in ihre 'Karriere', nahm an Benimmkursen teil und ließ sich Sprachunterricht geben. Sie kleidete sich stets nach der neuesten Mode und bezog im März 1956 eine teure Neubauwohnung am Eschenheimer Turm in der Frankfurter Stiftsstraße 36. Aber nicht nur Statussymbole wie der Mercedes und die teure Garderobe, auch ihre Spitznamen, wie „Kapitän-Lady", „Gräfin Mariza" oder „Rebekka" spiegelten Rosemarie Nitribitts gehobene Stellung in der Hierarchie der Frankfurter Prostituierten wider. Mit dem auffälligen Mercedes fuhr die Nitribitt zwischen der Frankfurter Hauptwache und dem Kaiserplatz herum und lud reiche Freier ein, sie nach Hause oder ins Hotel zu begleiten. Gegen Trinkgeld erhielten zudem interessierte Hotelgäste von den Portiers der Luxushotels ihre Telefonnummer.
Gegen Ende des Jahres 1956 legte sich Rosemarie Nitribitt einen Pudel zu, der sie stets auf der Jagd nach Freiern begleitete und das Bild der Edelhure komplettierte. Im Oktober 1957 bestellte sie sich ein schwarzes Mercedes-Coupé 300 S, hielt aber auch Ausschau nach Geld-Anlagemöglichkeiten. Im Gespräch waren wohl die Beteiligung an einer Bar, einer Pension oder einem Gestüt.
Ihr wirtschaftlicher Erfolg führte dazu, dass sie in der erfolgsorientierten jungen Bundesrepublik soziale Anerkennung fand. Die moralische Entrüstung setzte erst nach ihrem Tod ein.
Die öffentliche und ungenierte Zurschaustellung ihres Gewerbes und ihre Bekanntheit, die durch den Kauf des schwarzen Mercedes erhöht wurde, standen jedoch in krassem Gegensatz zu den Normen und Idealen der prüden deutschen Nachkriegsgesellschaft. Es galt das Ideal der „bürgerlichen Wohlanständigkeit", geprägt durch das Leitbild von der anständigen Hausfrau und Mutter. Umso provokanter wirkte das selbstbewusste Auftreten der Nitribitt und ihr kometenhafter gesellschaftlicher und finanzieller Aufstieg. In der Öffentlichkeit wurde sie verschämt als „Lebedame" oder „Kurtisane" bezeichnet. Zwar war die Nitribitt eine stadtbekannte Erscheinung, doch nahm zu ihren Lebzeiten niemand öffentlich Anstoß an ihrer Art der Freiersuche. Sie galt ohnehin als „unbezahlbar" für den „normalen Mann".
Am 1.11.1957 wurde Rosemarie Nitribitt in ihrer Wohnung ermordet aufgefunden – der Putzfrau waren die seit drei Tagen gestapelten Brötchentüten vor der verschlossenen Tür und das Jaulen des Pudels aufgefallen. Als die Polizei die Leiche fand, war die 24-jährige bereits mehrere Tage tot. Weil die beiden von einem Nachbarn herbeigerufenen Beamten aufgrund der durch die voll aufgedrehte Heizung entstandenen Hitze und des Verwesungsgeruchs in der Wohnung sofort die Fenster öffneten, ohne vorher die Zimmertemperatur gemessen zu haben, konnten die Gerichtsmediziner den genauen Todeszeitpunkt später nicht mehr feststellen. Trotzdem legte die Kriminalpolizei den Todeszeitpunkt auf den 29.10.1957 fest. Zwar wurden in der Wohnung Kampfspuren festgestellt, doch Geld, Schmuck und Pelze waren noch vorhanden, sodass kein Verdacht auf Raubmord bestand.
Bei den weiteren, von zahlreichen Pannen und Unzulänglichkeiten begleiteten Ermittlungen stellte sich heraus, dass Rosemarie Nitribitt Kontakt zu bedeutenden Persönlichkeiten hatte, darunter zu Harald von Bohlen und Halbach (1916-1985) aus der „Krupp-Familie", den Industriellensöhnen Harald Quandt (1921-1967) und Gunther Sachs (1932-2011), die zwar vernommen, aber nicht zum Kreis der engeren Verdächtigen gerechnet wurden. Die leidenschaftlichen Briefe, die Harald von Bohlen und Halbach der Nitribitt geschrieben hatte, sowie Fotos von ihm wurden während der Ermittlungen von den Beamten sichergestellt, um den Krupp-Sprössling nicht zu diskreditieren.
Auch ein in der Wohnung gefundenes Tonband, das offenbar zum Tatzeitpunkt eingeschaltet war, konnte wegen der schlechten Aufnahmequalität nicht zur Klärung des Mordes beitragen, ebenso wenig wie Rosemarie Nitribitts Notizbuch, worin sie akribisch die Namen ihrer Freier festgehalten hatte. Es soll mehr als hundert Namen enthalten haben.
Die Tat entwickelte sich, nicht zuletzt, weil sie unaufgeklärt blieb, zum spektakulärsten Mordfall der Adenauer-Zeit. Rosemarie Nitribitts „Ruhm" und die Faszination der legendären Edelhure entstanden erst nach ihrem Tod. Über Nacht machten die Medien sie in ganz Deutschland zu einer Berühmtheit. Sie beherrschte wochenlang die Titelseiten und avancierte zur berühmtesten Prostituierten Deutschlands.
Dass es eine Hure nicht nur zu Wohlstand bringen konnte, sondern auch noch zu Kontakten in gesellschaftlich hochstehende Kreise war eine absolute Unerhörtheit. Die Ermordung der Nitribitt und die Enthüllungen über ihren gesellschaftlichen Umgang stellten die Adenauer-Republik als doppelmoralische Anstalt dar. Unter dem Vorwand sittlicher Entrüstung wurden ihr Lebensweg vom Fürsorgezögling zur Edelhure, ihre Preise und Vermögensverhältnisse dargestellt. Sie wurde geradezu zum Synonym für Luxus, Laster und Lotterleben. In Ermangelung von Fakten spekulierten die Medien über den Tathergang wie über die Freier der Ermordeten. Weil bei den polizeilichen Ermittlungen gravierende Fehler gemacht wurden, Seiten aus den Ermittlungsakten verschwanden und der Mord nie aufgeklärt wurde, hieß es, der Täter sei in einflussreichen Kreisen zu suchen.
Rosemarie Nitribitt wurde am 11.11.1957 auf dem Düsseldorfer Nordfriedhof beigesetzt. Erst im Dezember 2007 gab die Frankfurter Staatsanwaltschaft den bisher im Frankfurter Kriminalmuseum zu Lehr- und Lernzwecken aufbewahrten Schädel der Nitribitt frei, der somit erst am 10.2.2008 in ihrem Grab auf dem Düsseldorfer Nordfriedhof beigesetzt werden konnte.
Literatur
Dierichs, Helga, Rosemarie Nitribitt - Tod einer Hure, in: Helfried Spitra (Hg.), Die großen Kriminalfälle, München 2003, S. 36-59.
Keiffenheim, Martina, Edelhure Nitribitt. Die Rosemarie aus Mendig, Aachen 1998.
Kuby, Erich, Rosemarie. Des deutschen Wunders liebstes Kind, Hamburg 1961.
Leweke, Wendelin, Gretchen und die Nitribitt. Frankfurter Kriminalfälle, Frankfurt am Main 1991.
Steiger, Christian, Rosemarie Nitribitt. Autopsie eines deutschen Skandals, Königswinter 2007.
Ulrich, Bernd, Rosemarie Nitribitt, in: Scholtyseck, Joachim/Ulrich, Bernd (Hg.), Skandale in Deutschland nach 1945, Bielefeld 2007, S. 41-49.
Verfilmungen
Das Mädchen Rosemarie (1958).
Die Wahrheit über Rosemarie (1959).
Rosemaries Tochter (1976).
Das Mädchen Rosemarie (1996).
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Striewski, Jennifer, Rosemarie Nitribitt, in: Internetportal Rheinische Geschichte, abgerufen unter: https://www.rheinische-geschichte.lvr.de/Persoenlichkeiten/rosemarie-nitribitt/DE-2086/lido/57c954f49f4d25.71264948 (abgerufen am 09.10.2024)