Zu den Kapiteln
Gerhard von Are war der wohl bedeutendste Propst des Bonner St. Cassiusstifts; er war der Bauherr der Münsterkirche in ihrer heutigen Gestalt. Zudem ist sein Name eng verknüpft mit der Erhebung der Gebeine der Heiligen Cassius und Florentius im Jahre 1166.
Geboren wurde er um 1100 auf Burg Are oberhalb von Altenahr, dem Stammsitz des gleichnamigen rheinischen Adelsgeschlechts, als zweiter Sohn des Grafen (comes) Theoderich I. (bezeugt 1087-1126), dem Erbauer der Burg und erstem namentlich bekannten Inhaber des Grafenamtes im Ahrgau. Gerhards älterer Bruder, Lothar I. (gestorben 1140) übernahm das väterliche Erbe. Die jüngeren Brüder waren: Friedrich II. von Are, Bischof von Münster (Episkopat 1152-1168), Ulrich (gestorben 1197), Vogt der Abtei Maria Laach und Begründer der Linie Are-Nürburg, Otto (gestorben 1162), Begründer der Linie Are-Hochstaden, der der spätere Kölner Erzbischof Konrad von Hochstaden entstammte, und Hugo (gestorben 1179), Kölner Domdechant.
Gerhards genaues Geburtsjahr liegt, ebenso wie seine Jugend, Bildung und Erziehung, wegen fehlender Quellen im Dunkeln. In Erscheinung tritt er erstmals in einer Urkunde des Kölner Erzbischofs Friedrich I. aus dem Jahr 1124, in der er als Gerhardus prepositus Bunnensis in der Zeugenliste genannt ist.[1] Da laut einer früheren Urkunde vom 11. Februar desselben Jahres noch Ekkebert als Stellvertreter des vorherigen, seit 1117 nicht mehr erwähnten Propstes Siegfried die Geschäfte führte, kann man Gerhards Ernennung zum Vorsteher des St. Cassiusstifts für das Jahr 1124 annehmen. Anlass für Gerhards Aufstieg in das einflussreiche Amt war wohl der unmittelbar zuvor stattgefundene und dem geschickten politischen Taktieren seines Vaters geschuldete Verkauf des Klosters Steinfeld aus Areschem Besitz an den Kölner Erzbischof. Durch das Amtdes Bonner Stiftspropstes gelang den Grafen von Are der Zugang zum geistlichen Führungskreis des Kölner Erzstifts und die Ausdehnung ihres Machtbereich bis zum Rhein.
Als Gerhard sein neues Amt antrat, war es um die Güter des Stifts nicht zum Besten bestellt; es besaß nicht einmal mehr das nach den kirchlichen Vorschriften erforderliche Hospital. So war es zunächst eines seiner wichtigsten Anliegen, den Besitz des Stiftes zu festigen und durch weitere Erwerbungen zu mehren. In nur sieben Jahren vergrößerte er das Stiftsgut dergestalt, dass Papst Innozenz II. (Pontifikat 1130–1143) am 31.3.1131 in einer umfangreichen Urkunde dem Stift den Besitz von insgesamt 30 Kirchen, einer Kapelle und fünf Teilrechten an Kirchen, mehreren Höfen, Weinbergen und Waldungen, dazu Oblationen, Stolgebühren und Zehnteinnahmen bestätigen konnte.[2] Das Gebiet erstreckte sich im weiten Umkreis um die Stadt Bonn, durch den gesamten Auelgau und Ahrgau bis hin zum Eifelgau, von Altenkirchen bis Blankenheim und von Daun bis Rheidt (heute Stadt Niederkassel). Neben weiteren Höfen, Weinbergen und Ländereien folgten später noch die Burgen Drachenfels (1149) und Poppelsdorf (zwischen 1149 und 1166) zur Sicherung des umfangreichen Besitzes. Geschickterweise war Gerhard von Anbeginn darauf bedacht, die erworbenen Güter durch eine gesonderte Genehmigung des Königs vogtfrei stellen zu lassen, um sie der weltlichen Gerichtsbarkeit zu entziehen, was dem Stift in der Folge größte Unabhängigkeit brachte. 1145 gelang es ihm sogar Kraft seines Amtes als Archidiakon, die engere Immunität des Cassiusstifts, die für die Kirche selbst und die umliegenden Klerikerhäuser bestand, auf sämtliche propsteilichen Güter in Bonn und der direkten Umgebung ausdehnen zu lassen. Selbst die Ministerialen, Stiftsdiener und Stiftshandwerker sowie die zum Kirchenbau zugezogenen Bauhandwerker (aliorum officiorum artifices), egal ob sie im Stift oder der Stadt wohnten, wurden nun der propsteilichen Gerichtsbarkeit unterworfen.
Doch Gerhard baute nicht nur die wirtschaftliche Macht des Stifts aus, sondern auch dessen geistliche Vorrangstellung. Dazu schärfte er vor allem das mit der Bonner Propstei verknüpfte Archidiakonalrecht, das bis dahin noch nicht in seinen Befugnissen und Rechten festgelegt war, und schuf erstmals klare Rechtsverhältnisse. Zunächst zog er die Führung der vier zum Bonner Archidiakonat gehörenden Dekanate an sich, indem er die beiden unbotmäßigen Dekanate Zülpichgau und Ahrgau durch ein Dekret Papst Innozenz‘ II. zum Gehorsam zwang. Dann ließ er sich in einem genialen Schachzug am 25.5.1135 unter den persönlichen Schutz der Kurie stellen und erlangte als specialis filius St. Ecclesiae Romanae (besonderer Sohn der Heiligen Römischen Kirche) das Privileg der freien Appellation an den apostolischen Stuhl unter Umgehung seines Erzbischofs, was ihn weitgehend unabhängig von der Kölner Kirche werden ließ. Von diesem Recht machte Gerhard im Interesse seines Stifts später reichlich Gebrauch, auch wenn die deutschen Bischöfe vergeblich dagegen protestierten. Der nächste Schritt war die Erlangung des freien Visitationsrechts, das sich Gerhard in einer Urkunde vom 16.12.1139 von Papst Innozenz II. bestätigen ließ.[3] Bemerkenswert ist dabei die Strafgewalt, die der Papst in die Hände des Bonner Propstes legte. Sollte es nämlich der Kölner Erzbischof trotz einer Aufforderung Gerhards versäumen, die Gegner der Bonner Propstei zu strafen, so sollte der Propst das Recht haben, diese nach den üblichen Vorladungen mit Bann und Interdikt zu belegen.
Den Höhepunkt in Gerhards Karriere bildete das Jahr 1156, in dem er nach dem Tod des Kölner Erzbischofs Arnolds II. von Wied vom Domkapitel als Nachfolger für den Erzstuhl gewählt wurde. Doch musste Gerhard sich durch die bei der Wahl entstandene Pattsituation – keiner der beiden Kontrahenten konnte die erforderliche Zweidrittelmehrheit erreichen – dem Schiedsspruch Kaiser Friedrichs I. Barbarossa (Regierungszeit 1152-1190) unterwerfen, der Friedrich II. von Berg den Vorzug gab.
Gerhards größte Lebensleistung bestand allerdings im Ausbau der Bonner Münsterbasilika. Er ließ seit 1140 den karolingischen Bau durch einen gewaltigen, von zwei Flankentürmen begleiteten Ostchor erweitern und an der Südseite der Kirche einen von Stiftsgebäuden umgebenen Kreuzgang errichten, der in seiner geschlossenen Erhaltung heute einmalig im Rheinland ist. Die mit einer Zwerchgalerie abschließende dreigeschossige Apsis (Rheinischer Etagenchor) mit ihrer besonders differenzierten Gestaltung war die erste ihres Typs am Niederrhein und prägte für nahezu 100 Jahre das Erscheinungsbild vieler Kirchen im rheinischen Raum durch Um- und Neubauten (beispielsweise St. Gereon in Köln oder Abteikirche Maria Laach). Die so geschaffene, am 13.9.1153 eingeweihte große Basilika bildete den feierlichen Rahmen für die Erhebung der Gebeine der Heiligen Cassius und Florentius am 2.5.1166, die Gerhard in Anwesenheit des Kölner Erzbischofs Rainald von Dassel nach einer Prozession über den Münsterplatz in kostbaren Schreinen auf dem Hochaltar bergen ließ.
Zwei Jahre darauf, am 23.2.1169 verstarb Propst Gerhard von Are nach einer langen, erfolgreichen Amtszeit von 45 Jahren und wurde in der Cyriacuskapelle im östlichen Kapitelhaus des Kreuzgangs des Bonner Münsters beigesetzt. Durch ihn war das Propstamt des Cassiusstifts zur einer der höchsten Würden in der Kölner Erzdiözese geworden. Während seiner Amtszeit erlangte das Stift elf Papsturkunden und eine Königsurkunde, was in dieser Häufung einmalig in der Geschichte des Stifts geblieben ist.
Anmerkungen
(1) H. Förster, Eine unbekannte Urkunde Erzbischofs Friedrichs I. von Köln (1100-1131), in: Annalen des Historischen Vereins für den Niederrhein 121 (1932) S. 132-133.
(2) Günther, Codex diplomaticus Rheno-Mosellanus, Teil 1,
Nr. 104.
(3) Günther, Codex diplomaticus Rheno-Mosellanus, Teil 1,
Nr. 125.
Quellen
Brackmann, Albert, Niederrheinische Urkunden des 12. Jahrhunderts, in: Annalen des Historischen Vereins für den Niederrhein 81 (1906), S. 112-130, besonders S. 112-117.
Günther, Wilhelm, Codex diplomaticus Rheno-Mosellanus, Teil 1, Koblenz 1822.
Lacomblet, Theodor Joseph, Urkundenbuch für die Geschichte des Niederrheins, Band 4, Düsseldorf 1840–1858, Nachdruck 1966.
Die Regesten der Erzbischöfe von Köln im Mittelalter, Band 2, bearb. von Richard Knipping, Bonn 1901.
Literatur
Bader, Ute, Geschichte der Grafen von Are bis zur Hochstadenschen Schenkung (1246), Bonn 1979.
Höroldt, Dietrich, Das Stift St. Cassius zu Bonn von den Anfängen der Kirche bis zum Jahre 1580, 2. Auflage, Bonn 1984. Niesen, Josef, Gerhard von Are, Propst des Bonner St. Cassiusstifts von 1124 bis 1169, in: Bonner Geschichtsblätter 57/58 (2008), S. 11-39.
Niesen, Josef, Gerhard von Are (um 1100-1169), in: Biographisch-Bibliographisches Kirchenlexikon 31 (2010), Sp. 500-501.
Niesen, Josef, Bonner Personenlexikon, 3. Auflage, Bonn 2011, S. 163-164.
Oediger, Friedrich Wilhelm, Das Bistum Köln von den Anfängen bis zum Ende des 12. Jahrhunderts (Geschichte des Erzbistums Köln 1), 2. Auflage, Köln 1964, Nachdruck 1991.
Rey, Manfred van, Bonn-St. Cassius, in: Nordrheinisches Klosterbuch, Teil 1, hg. von Manfred Groten [u. a.], Band 1, Siegburg 2009, S. 360-384.
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Niesen, Josef, Gerhard von Are, in: Internetportal Rheinische Geschichte, abgerufen unter: https://www.rheinische-geschichte.lvr.de/Persoenlichkeiten/gerhard-von-are/DE-2086/lido/57c6c7d2a3e018.63979389 (abgerufen am 08.12.2024)