Zu den Kapiteln
Theodor Fliedners Gründung der Kaiserswerther (heute Stadt Düsseldorf) Diakonissenanstalt war wegweisend für das moderne Verständnis von Krankenpflege und Diakonie.
Theodor Fliedner wurde am 21.1.1800 in Eppstein im Taunus als Sohn des Pfarrers Jakob Ludwig Christoph Fliedner (1764-1813) und dessen Frau Henriette, geborene Heinold (1777-1848) geboren. Obwohl der Vater bereits 1813 starb, konnte Fliedner mit seinem jüngeren Bruder das Gymnasium in Idstein besuchen. 1817 begannen beide ein Theologiestudium zunächst in Gießen, später in Göttingen, das Theodor 1819 abschloss. In Göttingen lernte er die Erweckungstheologie kennen, deren praktische Umsetzung er später als Fundament seiner Arbeit bezeichnete.
Nach dem Studium trat Fliedner 1820 eine Hauslehrerstelle in Köln an, die ihm 1821 wieder gekündigt wurde. Daraufhin suchte er intensiv nach einer Pfarrstelle, bis ihm 1822 eine solche in dem kleinen Städtchen Kaiserswerth angeboten wurde. Bei der evangelischen Gemeinde dort handelte es sich um eine Diasporagemeinde in einem katholisch geprägten Umfeld. Die meisten Gemeindemitglieder arbeiteten in der vor Ort ansässigen Textilfabrik. Fliedner sah sich vor besonderen Herausforderungen, als kurz nach seiner Ankunft in Kaiserswerth die Fabrik bankrott machte und die Arbeiter ihrer Existenzgrundlage beraubt wurden. Fliedner versuchte die Not zu lindern, indem er den Männern half, neue Stellen zu finden oder sie mit Spenden unterstützte. Diese Ausgaben bedrohten jedoch bald die Existenz der Gemeinde selbst, deren Eigentum die Verpfändung drohte. Fliedner begab sich daraufhin auf damals übliche Kollektenreisen nach Barmen (heute Stadt Wuppertal) und Elberfeld (heute Stadt Wuppertal) sowie an den Niederrhein.
Wenig später weitete er den Radius auf Holland und England aus, wohin er 1823/1824 reiste. Die Reise war nicht nur finanziell ein Erfolg, Fliedner lernte dort vor allem das bürgerliche und kirchliche soziale Engagement kennen. In den Niederlanden machte er Bekanntschaft mit dem Gedanken der Diakonie und in England beeindruckte ihn die Gefängnisfürsorge. Diese Reise sicherte nicht nur die Existenz der Kaiserswerther Gemeinde, sondern inspirierte Fliedner wesentlich zu seinem späteren Werk. Er beteiligte sich an der Gründung der Rheinisch-Westfälischen Gefängnisgesellschaft, die das Gefängniswesen in den westlichen preußischen Provinzen verbessern wollte. Fliedner predigte im Gefängnis in Düsseldorf-Derendorf und setzte sich vor allem für den Gedanken der Rehabilitation der Gefangenen ein.
Zur gleichen Zeit widmete sich Fliedner der eigenen Familiengründung, welche er genauso strategisch anging wie seine Projekte. Nach längerer Suche wurde er auf Friederike Münster aufmerksam, die in einer „Rettungsanstalt für verwaiste und verwahrloste Kinder" in Düsseltal (Stadt Düsseldorf) tätig war. Fliedner versuchte nicht, um sie zu werben, sondern bot ihr direkt in einem Brief die Ehe zu seinen Bedingungen an. Friederike willigte ebenso sachlich ein, das Paar wurde am 15.4.1828 im hessischen Oberbiel (heute Stadt Solms) getraut, und Ende April zog Friederike in das Pfarrhaus in Kaiserswerth ein. Während Theodor Fliedner sich um die Gefängnisgesellschaft kümmerte und auf Reisen ging, versorgte Friederike den Haushalt und die rasch wachsende Familie. Bis 1842 gebar sie insgesamt elf Kinder, von denen nur drei das Erwachsenenalter erreichten, Luise (1830-1916), Wilhelmine (Mina) (1835-1904) und Georg (1840-1916).
1833 begannen die Fliedners mit einem gemeinsamen Projekt, einem Asyl für Frauen, die aus dem Gefängnis entlassen wurden. Da der Platz im Pfarrhaus nicht ausreichte, wurden die Frauen im Gartenhaus untergebracht. Hier liegen die Wurzeln für die weitere Tätigkeit der Fliedners. Das Gartenhaus bildet gewissermaßen den Gründungsmythos der späteren Diakonissenanstalt.
Fliedner erkannte die sozialen Missstände, die die Industrialisierung hervorgebracht hatte. Viele Kinder und Jugendliche litten unter materieller und emotionaler Armut. Um ihnen zu helfen und so vor Straffälligkeit zu bewahren, richtete er ebenfalls im Gartenhaus eine Strick- und eine Kleinkinderschule ein.
Die konsequente Fortsetzung dieser Ideen war die Gründung der „Pflegerinnen- oder Diakonissenanstalt" am Kaiserswerther Markt im Jahr 1836. Das Ziel dieser Anstalt war die Ausrichtung der Krankenpflege auf eine ganzheitliche, professionelle Betreuung der Kranken. Die damaligen Hospitäler waren in der Regel Armenhäuser, in denen Menschen, die sich nicht selbst versorgen konnten, verwahrt wurden. Die zentrale Idee war das Diakonissenamt, das Fliedner auf seinen Kollektenreisen kennen gelernt hatte. Das Diakonissenwesen wurde auf altkirchliche Vorbilder zurückgeführt und in der Romantik wieder aufgegriffen. Die Idee war die Umwandlung des in Verruf geratenen männlichen Krankenwärters in einen von Frauen getragenen, gesellschaftlich anerkannten Krankenpflegeberuf. Durch die Ausbildung zur Krankenpflegerin wurde zugleich bürgerlichen Frauen eine Alternative zur Heirat eröffnet. Grundlage war nach Fliedners Vorstellung ein dreifaches Dienstverhältnis der Diakonissen. Sie sollten sein: „Dienerinnen des Herrn Jesu, Dienerinnen der Kranken um Jesu willen [und] Dienerinnen untereinander". Damit wurden Religiosität und Professionalität miteinander verbunden. Am 31.10.1836 trat die 48-jährige Gertrude Reichardt (1788-1869) als erste Diakonisse ihren Dienst in Kaiserswerth an.
Zur Regelung des Alltags in der Diakonissenanstalt verfasste Fliedner eine Hausordnung und eine Dienstanweisung. Diese wurden im Laufe der Zeit mehrfach überarbeitet. Programmatisch und charakteristisch für Fliedner beginnt die erste Hausordnung, die 1837 erlassen wurde: „Da Gott ein Gott der Ordnung ist, so hat er in seinem Wort geboten, alles ehrlich und ordentlich zugehen zu lassen."
Unter dem Dach des „Rheinisch-Westfälischen Vereins für Bildung und Beschäftigung evangelischer Diakonissen" wurden unverheiratete Frauen in Krankenpflege ausgebildet. Während ihrer Tätigkeit für die Diakonie wurde für die Frauen gesorgt. Sie erhielten ein für die damaligen Verhältnisse gutes Gehalt, daneben Verpflegung, Unterkunft, Berufskleidung sowie eine Versorgung bei Krankheit und im Alter. Aufgebaut war die Diakonissenanstalt auf Treue und Gehorsam mit Fliedner an der Spitze. Erste Vorsteherin des „Mutterhauses", wie das Stammhaus in Kaiserswerth genannt wurde, war Friederike Fliedner. Sie kümmerte sich um den Alltag in der Diakonissenanstalt, während ihr Mann unermüdlich für die finanziellen und organisatorischen Rahmenbedingungen sorgte.
Das diakonische Werk expandierte schnell. Bereits 1838 entsandte Fliedner die erste Diakonisse nach Rheydt (heute Stadt Mönchengladbach). Es folgten Entsendungen nach Frankurt am Main, Kirchheim und viele andere Orte. 1844 gründete Fliedner die "Pastoralgehülfen- und Diakonenanstalt" für männliche Diakone in Duisburg. 1847 entstand mit Fliedners Unterstützung das Diakonissenhaus „Bethanien" in Berlin. Die Arbeit blieb aber nicht auf Deutschland beschränkt, Fliedner begleitete Diakonissen unter anderem nach England, in die USA und nach Jerusalem. Die Reisen nach Palästina waren Fliedner besonders wichtig. Beim 25-jährigen Jubiläum 1861 gab es 83 auswärtige Stationen und 26 selbständige Diakonissenhäuser. Bei dem Einsatz der Diakonissen bewies Fliedner Gespür für konkrete Notlagen. Als die Not unter den oberschlesischen Webern besonders groß wurde, entsandte Fliedner fünf Diakonissen, um sich um die verarmten Kinder und Waisen zu kümmern.
Das Mutterhaus in Kaiserswerth wurde nach Friederike Fliedners Tod 1842 von Fliedners zweiter Frau Caroline Bertheau (1811-1892), die er 1843 geheiratet hatte, geleitet. Auch hier wurde expandiert: Bereits 1843 vergrößerte man das Haus am Kaiserswerther Markt durch Anbauten auf das Doppelte.
In einer in der Nähe gelegenen ehemaligen Invalidenkaserne, die vom preußischen König Friedrich Wilhelm IV. (Regierungszeit 1840-1858) zur Verfügung gestellt wurde, eröffnete Fliedner nach Um- und Ausbauten 1852 eine „Heilanstalt für gemütskranke Frauen". Die Zahl der Patienten wurde in beiden Häusern gering gehalten, da sie vor allem Ausbildungsstätten für Krankenpflege sein sollten. Der ausgezeichnete Ruf der Diakonissenanstalt zog auch Schülerinnen aus dem Ausland an. Unter ihnen befand sich die britische Krankenschwester Florence Nightingale (1820-1910), die sich 1850/1851 zweimal für mehrere Wochen in Kaiserswerth aufhielt.
1849 hatte Fliedner das Pfarramt niedergelegt, um sich ausschließlich der Diakonie widmen zu können. Damit fand die Arbeit nicht mehr im Rahmen der evangelischen Kirche statt, sondern wurde endgültig eigenständig.
Im Todesjahr Fliedners 1864 ergibt sich folgende Bilanz: Zum Mutterhaus gehörten 425 Schwestern, davon 220 Krankendiakonissen und 52 Lehrdiakonissen, 133 Lernpflegerinnen und 20 Lehrprobenschwestern. Sie waren tätig in insgesamt 115 sozialen Einrichtungen verschiedenster Art.
Der Erfolg der Diakonissenanstalt geht vor allem auf den unermüdlichen und rastlosen Einsatz Theodor Fliedners zurück, der eine umfangreiche Öffentlichkeitsarbeit betrieb und die Diakonissen in aller Welt vor Ort unterstützte. Er hatte einen Ansatz für die Milderung drängender sozialer Probleme des 19. Jahrhunderts gefunden, der Richtung weisend für die Krankenpflege und das Diakoniewesen war und bis heute geblieben ist.
Theodor Fliedner starb am 4.10.1864 in Kaiserswerth an den Folgen einer Erkrankung, die er sich 1861 auf einer Ägyptenreise zugezogen hatte.
Nachlass
Der Nachlass Theodor Fliedners befindet sich im Archiv der Fliedner-Kulturstiftung.
Quellen (Auswahl)
Collektenreise nach Holland und England nebst einer ausführlichen Darstellung des Kirchen-, Schul-, Armen- und Gefängniswesens beider Länder, mit vergleichender Hinweisung auf Deutschland, vorzüglich Preußen, 2 Bände, Essen 1831.
Der Armen- und Krankenfreund : eine Monatsschrift. für d. Diakonie d. evang. Kirche. Namentlich für die Armen-, Kranken-, Kinder- und Gefangenen-Pflege zugleich ein Organ für den Rheinisch-Westphälischen Diakonissen-Verein Düsseldorf.
Literatur
Bautz, Friedrich-Wilhelm, Artikel „Fliedner, Theodor", in: Biographisch-Bibliographisches Kirchenlexikon 2 (1990), Sp. 57-59.
Fliedner, Georg, Theodor Fliedner. Durch Gottes Gnade Erneurer des apostolischen Diakonissen-Amtes in der evangelischen Kirche. Kurzer Abriß seines Lebens und Wirkens, Kaiserswerth, 2. Auflage 1886.
Friedrich, Norbert, Die Fliedners von Kaiserswerth. Theodor, Friederike und Caroline Fliedner. Ein gemeinsames Lebensbild, in: Mau, Rudolf (Hg.): Protestantismus in Preußen. Lebensbilder aus seiner Geschichte, Band 2: Vom Unionsaufruf 1817 bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts, Frankfurt a. M. 2009, S. 215-241.
Gerhardt, Martin, Theodor Fliedner. Ein Lebensbild, 2 Bände, Düsseldorf-Kaiserswerth 1933-1937.
Sticker, Anna, Theodor Fliedner (1800-1864), in: Rheinische Lebensbilder 5 (1973), S. 75-93.
Sticker, Anna, Theodor und Friederike Fliedner, Wuppertal/Zürich 1989.
Online
Die Fliedner-Kulturstiftung Kaiserswerth (Unfangreiches Informationsangebot über das Wirken Theodor und Frederike Fliedners, inklusive Kurzbiographien). [Online]
Fliednerarchiv – Nachlässe der Familie Fliedner (PDF-Datei auf der Website der Fliedner-Kulturstiftung Kaiserswerth). [Online
Fliedner, Theodor, Gutachten „die Diakonie und den Diakonat betreffend", in: Aktenstücke aus der Verwaltung des Evangelischen Oberkirchenraths, Band 3, Berlin 1856, S.108-126 (Text als PDF-Datei auf der Website der Fliedner-Kulturstiftung Kaiserswerth). [Online]
Frick, Robert, Artikel „Fliedner, Theodor", in: Neue Deutsche Biographie 5 (1961), S. 245-246. [Online]
Theodor Fliedner Stiftung - Historie (Information auf der Website der Theodor-Fliedner-Stiftung Duisburg). [Online]
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Küntzel, Astrid, Theodor Fliedner, in: Internetportal Rheinische Geschichte, abgerufen unter: https://www.rheinische-geschichte.lvr.de/Persoenlichkeiten/theodor-fliedner/DE-2086/lido/57c6ae0a8151d7.14353803 (abgerufen am 05.12.2024)