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In der Welt des ausgehenden 20. Jahrhunderts war Annemarie Schimmel über den engen Fachkreis hinaus bei weitem die berühmteste nicht-muslimische Islamwissenschaftlerin. Dabei ist ihre Lebensaufgabe, die islamische Religion und Kultur über die gelehrte Zunft hinaus einer breiteren Öffentlichkeit nahezubringen, nach wie vor aktuell. Die Anerkennung, die sie in der ganzen islamischen Welt genoss, zeigte sich in hohen Ehrungen, mit denen sie bedacht wurde.
Annemarie Brigitte Schimmel wurde am 7.4.1922 als einziges Kind des mittleren Post- und Telegraphenbeamten Paul Wilhelm Schimmel (1889-1945) und seiner Ehefrau Anna (1887-1978) in Erfurt geboren. Die Familie war lutherisch, aber keine Kirchgänger. Mit 15 Jahren begann Annemarie neben ihrem Schulunterricht an der Erfurter Luisenschule Arabisch und Türkisch zu lernen, während sich die meisten ihrer Altersgenossen für Volk, Fahne und Führer begeisterten. Ihr Privatlehrer war Hans Ellenberger (1877-1949), Lektor an der Universität Jena. Nach dem Abitur immatrikulierte sie sich 1939, kurz nach Kriegsbeginn, an der Universität Berlin, wo sie bei Walther Björkmann (1896-1996), Ernst Kühnel (1882-1964), Richard Hartmann (1881-1965), Hans Heinrich Schaeder (1896-1957) und Annemarie von Gabain (1901-1993) Arabisch, Persisch, islamische Kunstgeschichte, Islamwissenschaft und Turkologie studierte. 1941 wurde sie mit 19 Jahren mit der Dissertation „Kalif und Kadi im spätmitteltalterlichen Ägypten“ bei Richard Hartmann promoviert.
Auch Annemarie Schimmel entkam dem NS-Staat nicht. Gezwungen, sich dem NS-Studentenbund anzuschließen, wurde sie aufgrund ihrer Kennnisse des Arabischen und Türkischen als Wissenschaftliche Hilfsarbeiterin in den Berliner Abhör- und Übersetzungsdienst des Auswärtigen Amts verpflichtet. Dort musste sie vornehmlich türkische Telegramme dechiffrieren. Zwischen dem 7.11.1944 und dem 31.3.1945 versuchte sie noch, ihre Habilitationsschrift „Die Struktur der Militärschicht unter den späten Mamluken. Studien zur Kulturgeschichte des spätmittelalterlichen Ägyptens“ einzureichen. Die Arbeit verbrannte jedoch im untergehenden Berlin.
Am 8.5.1945 wurde Annemarie Schimmel von den amerikanischen Behörden aus Berlin nach Marburg verbracht und blieb dort bis zum 22. September interniert. Bereits vorher hatte sie sich mit dem designierten Dekan der bald wieder zu eröffnenden Universität Marburg getroffen, dem katholischen Religionswissenschaftler Friedrich Heiler (1892-1967). Dieser bot ihr an, sie an der Marburger Universität im Fach Religionswissenschaft zu habilitieren. Am 5.1.1946 fand die mündliche Prüfung zu ihrer Habilitation in Berlin statt. Die Habilitationsschrift „Mamluken, Emire und der Sultan. Studien zur Organisation der Mamluken“ wurde nie publiziert – vermutlich handelte es sich aber um die erste Habilitation in Deutschland nach dem Ende des Krieges.
Heilers Gegenspieler in Marburg war der protestantische Theologe Rudolf Bultmann (1884-1976). Die beiderseitigen Querelen zeigten sich, als Annemarie Schimmel auf Anraten Heilers eine zweite Dissertation mit dem Thema „Der Begriff der mystischen Liebe im Islam“ einreichte. Bultmann fand die Arbeit, wie sie selbst berichtet, „nicht sehr geistreich“. Währenddessen wurde sie - bei knappstem Gehalt - aufgrund ihres jugendlichen Alters, ihrer ausgeprägten Freundlichkeit und ihrer hohen Sprachkompetenz von Marburg aus gern ins Ausland geschickt. Sie gehörte zu den ersten deutschen Islamwissenschaftlern, denen zugetraut wurde, Kontakte zu den weithin den Deutschen gegenüber höchst misstrauischen Orientalisten Europas zu knüpfen. Ihre frühen Auslandreisen etwa nach Schweden, Frankreich, die Niederlande oder in die Schweiz wurden von älteren deutschen Kollegen insgeheim beneidet.
Währenddessen glaubte Annemarie Schimmel immer mehr, dass Kollegen ihre Beförderung zum außerplanmäßigen Professor zu hintertreiben versuchten. So traf es sich gut, dass sie am 20.11.1954 einen Ruf an die Universität Ankara für das in der Türkei ganz neue Fach „Vergleichende Religionswissenschaft“ annehmen konnte. Zurecht fragte sie sich rhetorisch, ob eine deutsche evangelische Theologische Fakultät damals in Deutschland für dieses Fach eine Muslimin hätte berufen können. Ihre bereits damals guten Türkischkenntnisse spielten sicher eine Rolle: am 20.11.1954 begann Annemarie Schimmel mit der Lehre – auf Türkisch. Am 25.5.1955 heiratete sie Osman Tarı, einen Direktor im Landwirtschaftsministerium, und hieß nun Annemarie Schimmel-Tarı. Damit wurde sie nicht nur türkische Beamtin, sondern nach türkischem Recht Türkin. Nach deutschem Recht blieb sie allerdings deutsche Staatsangehörige. 1957 wurde die Ehe geschieden. Vorher hatten allerdings türkische Zeitungen das Gerücht verbreitet, Annemarie Schimmel sei zum Islam konvertiert. Diese Fehlinformation hat sie zeitlebens verfolgt. Am 1.11.1959 kehrte sie auf eine von Heiler mühselig erarbeitete Hilfskraftstelle nach Marburg zurück.
Otto Spies (1901-1981), Ordinarius für Islamwissenschaft an der Universität Bonn, vermittelte ihr 1961 eine Stelle als „außerplanmäßige Lektorin und Wissenschaftliche Rätin“ am neugegründeten „Seminar für Orientalische Sprachen“ (SOS). Auch wenn es um wenig mehr als Sprachlehre ging – Annemarie Schimmel verstand sich in der vorläufigen Hauptstadt Bonn bestens mit den Botschaftern Ägyptens, der Türkei oder Syriens. Sie gründete zusammen mit Albert Theile (1904-1986) „Fikrun wa Fann“ (Gedanke und Kunst), eine Kulturzeitschrift für die arabische Welt, die als ein interkultureller Bestseller bis 2017 existierte. Allerdings fühlte sie sich auch in Bonn immer wieder von Kollegen zurückgesetzt – mit Recht. So attestierte Otto Spies ihr: „Schimmelin, wenn Sie’n Mann wären, dann kriegten Sie‘n Lehrstuhl!“
Annemarie Schimmel hatte bereits frühzeitig die Bedeutung des in Deutschland weitgehend unbekannten islamischen Südasien erkannt. So machte sie den indo-pakistanischen Philosophen Muhammad Iqbal (1877-1938) in Deutschland bekannt. 1967 wurde sie als Lecturer in Indo-Muslime Culture an die Harvard University (USA) berufen, wo sie seit 1970 die Agha-Khan-Professorship of Indo Muslim Culture versah und verstärkt in ihrem zweiten großen Arbeitsgebiet, der Geschichte und Kultur des Islam auf dem indischen Subkontinent forschte. Ihre Stärke war die Vermittlung schwieriger mystischer Texte nicht nur aus dem Arabischen, Persischen und Türkischen, sondern auch aus Urdu, Pashto und Sindhi – Sprachen, von denen die meisten deutschen Orientfachleute kaum wussten, dass es sie gab. Während dieser Zeit publizierte sie weiter, hielt gut besuchte Vorträge und wurde Präsidentin der “International Association for the History of Religions.“
Annemarie Schimmel kehrte mit 65 Jahren 1992 an die Universität Bonn zurück. Inzwischen konnte sie auf eine Vielzahl gutgehender Bücher und Schriften zurückblicken. Sie publizierte weiter, nahm die ihr 1990 verliehene Honorarprofessur freundlich an und errichtete 1995 die Annemarie-Schimmel-Stiftung für Islamkunde e.V. Im Frühjahr 1995 begleitete sie Bundespräsident Roman Herzog (1934-2017) und dessen Frau Christiane (1936-2000) zu einem Staatsbesuch nach Pakistan. Am 4.5.1995 gab der Börsenverein des Deutschen Buchhandels bekannt, dass Annemarie Schimmel der Friedenspreis des Deutschen Buchhandels zuerkannt werden sollte. In der Begründung heißt es: „Inmitten erschreckender Zeichen des religiösen Fanatismus versteht der Stiftungsrat die Auszeichnung als ein Zeichen für die Begegnung, nicht die Konfrontation der Kulturen, als ein Zeichen für Duldsamkeit, Poesie und Weltkultur, welche die Form des Andersseins achtet.“
Das Unheil begann, als Annemarie Schimmel in den „Tagesthemen“ des ZDF befragt wurde, was sie von der „Todesfatwa“ des Imam Khomeini (1902-1989) halte, der alle Muslime aufforderte, Salman Rushdie (geboren 1947), den Verfasser des Buchs „The Satanic Verses“ (1988), zu töten. Sie antwortete so missverständlich, dass es zu einem Skandal kam. Es wurde eine sehr kontroverse, kulturkampfähnliche Debatte entfacht, wie sie in den Annalen des „Friedenspreises“ kaum Parallelen hat. Berühmte deutsche Autoren und Verlage forderten die Rückgabe des Friedenspreises. Alice Schwarzer (geboren 1942) machte Annemarie Schimmel zur „schriftgläubigen Muslimin“. In Wahrheit stand Annemarie Schimmel den Ketzern der islamischen Mystik näher als der islamischen Scharia. Der Bundespräsident stellte jedoch fest, dass Europa sich keinen Krieg der Religionen leisten könne und bestand darauf, am 15. Oktober selbst die Laudatio zu halten. Als Annemarie Schimmel ihre Rede in der vollbesetzten Paulskirche hielt, stand sie am Rand einer tiefen Depression. Sie sah ihr Lebenswerk der Versöhnung zwischen Orient und Okzident in Gefahr. Bald nahm sie jedoch ihr gewohntes Leben wieder auf, schrieb weiter dicke Bücher und hielt nach wie vor gut besuchte Vorträge – mied aber weiterhin jegliche Kritik an Muslimen.
Annemarie Schimmel war Mitglied zahlreicher wissenschaftlicher Gesellschaften. Sie war Ehrendoktorin mehrerer Universitäten und erhielt im In- wie Ausland eine Vielzahl wissenschaftlicher und kultureller Auszeichnungen. Die Stadt Bonn ehrte sie anlässlich ihres 80. Geburtstages am 7.4.2002 mit dem Eintrag in das Goldene Buch der Stadt.
Annemarie Schimmel starb am 26.1.2003 in Bonn und wurde dort am 4.2.2003 auf dem Poppelsdorfer Friedhof begraben. Einen Teil ihres Nachlasses vermachte sie der in ihrer Heimatstadt Erfurt neu gegründeten Universität Erfurt, deren Gründungssenat sie ab 1997 angehört hatte. Die Universität Erfurt pflegt das Gedenken an sie mit Ausstellungen und Veranstaltungen. Die Bonner Universität richtete ein Annemarie-Schimmel Kolleg ein.
Werke (Auswahl)
Kalif und Kadi im spätmittelalterlichen Ägypten, Diss., Leipzig 1943.
Studien zum Begriff der mystischen Liebe im Islam, Diss. theol. Marburg 1951, 1954.
Pakistan – ein Schloß mit 1000 Toren, Zürich 1965.
Gabriel’s Wing. A Study of the Religious Ideas of Sir Muhammad Iqbal, Leiden 1963.
Islamic Calligraphy. Iconography of Religions, Leiden 1970.
Zeitgenössische arabische Lyrik, ausgewählt, eingel. u. übers., Tübingen 1975.
Rumi: Ich bin Wind und du bist Feuer. Leben und Werk des großen Mystikers. Köln 1978, Neuausgabe, Xanten 2017.
Mystical Dimensions of Islam, Chapel Hill 1975.
Islam in the Indian Subcontinent, Leiden 1980.
Und Muhammad ist sein Prophet. Die Verehrung des Propheten in der islamischen Frömmigkeit, Düsseldorf 1981.
As Through a Veil. Mystical Poetry in Islam, New York 1982.
Der Islam, Stuttgart 2000, Einleitung und Anmerkungen zu: Der Koran (Originaltitel: Qurʾān. aus dem Arabischen übertragen v. Max Henning), Stuttgart 1990.
Die Religion des Islam. Eine Einführung, 11. Auflage, Stuttgart 2010 [Erstausgabe als Der Islam, 1990].
Mystical dimensions of Islam, Köln 1985; deutsch: Mystische Dimensionen des Islam. Die Geschichte des Sufismus, Frankfurt am Main 1995.
Islamic Names, Edinburgh 1989.
Mein Bruder Ismail. Erinnerungen an die Türkei, Köln 1990.
Die Zeichen Gottes. Die religiöse Welt des Islam, München 1995.
Jesus und Maria in der islamischen Mystik, München 1996.
Gesang und Ekstase. Sufi-Texte des indischen Islam, München 1999.
Im Reich der Großmoguln, München 2000.
Morgenland und Abendland. Mein west-östliches Leben, München 2002. – Englische Ausgabe: Orient and occident. My life in East and West, Pakistan 2007.
Auf den Spuren der Muslime. Mein Leben zwischen den Kulturen, 2002.
Bibliographie
Umar, Muhammad Suheyl, Bibliography of the Works of the Scholar-Hermit Prof. Dr. Annemarie Schimmel. From 1943 through 2003, Lahore, Iqbal Academy 2004.
Festschriften
Giese, Alma (Hg.), Gott ist schön und er liebt die Schönheit. Festschrift für Annemarie Schimmel zum 7. April 1992, dargebracht von Schülern, Freunden und Kollegen, Bern/New York 1994.
Subtelny, Eva Maria (Hg.), Essays presented to Annemarie Schimmel on the occasion of her retirement from Harvard University by her colleagues, students and friends, Cambridge, Mass. 1994.
Literatur (Auswahl)
Hoffmann, Anne, Islam in den Medien. Der publizistische Konflikt um Annemarie Schimmel, Münster 2004.
Wild, Stefan, Der Friedenspreis und Annemarie Schimmel: eine Nachlese, in: Die Welt des Islams 36 (1996), S. 107-122.
Wild, Stefan, In Memoriam Annemarie Schimmel (7. April 1922 - 26. Januar 2003), in: Die Welt des Islams 43 (2003), S. 131-142.
Wild, Stefan, Schimmel, Annemarie, in: Neue Deutsche Biographie 22 (2005), S. 777-778.
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Wild, Stefan, Annemarie Schimmel, in: Internetportal Rheinische Geschichte, abgerufen unter: https://www.rheinische-geschichte.lvr.de/Persoenlichkeiten/annemarie-schimmel/DE-2086/lido/5e86ea31e59e74.16536762 (abgerufen am 05.12.2024)