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Karl Friedrich Küstner war einer der bedeutendsten beobachtenden Astronomen seiner Zeit. Der Bonner Wissenschaftler leistete sowohl auf dem Gebiet der Messungen mit dem Meridiankreis als auch in der damals neuen Disziplin der Sternspektroskopie Herausragendes. Mit den Polhöhenschwankungen der Erde entdeckte er außerdem einen Effekt, ohne dessen Berücksichtigung die genaue Ortsbestimmung auf der Erde heute nicht möglich wäre.
Obwohl Küstner kein gebürtiger Rheinländer war, verbrachte er mehr als 40 Jahre in Bonn. Die Bonner Universität hatte ihn im Jahre 1891 als ordentlichen Professor berufen und ihm auch die Leitung der Bonner Sternwarte übertragen. Küstner brachte die fotografische Astronomie in Bonn zu einem ersten Höhepunkt. Untrennbar mit seiner Person verbunden ist die Anschaffung eines großen Linsenfernrohrs (Doppelrefraktors) in der Alten Sternwarte an der Poppelsdorfer Allee. Dieses Gerät war das größte optische Teleskop, das je in Bonn zur Himmelsbeobachtung eingesetzt wurde. Es diente den Astronomen der Bonner Universitätssternwarte über Küstners Tod hinaus noch etwa 60 Jahre lang als wichtiges Beobachtungsinstrument.
Karl Friedrich Küstner wurde am 22.8.1856 als Sohn des Maurermeisters und Architekten Eduard Küstner (1823-1891) und seiner Ehefrau Amalie Küstner geborene Naumann (1827-1902) in Görlitz geboren. Die Familie war evangelisch. Schon als Jugendlicher erwachte sein naturwissenschaftliches Interesse. Zum Studium der Astronomie ging er 1875 nach Berlin und von dort 1876 nach Straßburg, wo er bei August Winnecke (1835-1897), der auch einige Jahre unter Friedrich Wilhelm Argelander in Bonn gearbeitet hatte, die astronomische Messtechnik erlernte. Bei Ihm schrieb Küstner auch seine Promotion „Bestimmungen des Monddurchmessers aus 9 Plejadenbedeckungen“, die 1879 in Halle veröffentlicht wurde. Wegen seiner außergewöhnlichen Begabung im Umgang mit Messgeräten wurde Küstner 1882 auf die Venusexpedition nach Punta Arenas in Argentinien mitgenommen. Im Jahr 1882 nutzten Astronomen in ganz Europa den seltenen Vorbeizug des Planeten Venus vor der Sonne, um die mittlere Entfernung Erde–Sonne, und damit die Dimensionen unseres Planetensystems zu bestimmen. Voraussetzung dafür war allerdings die gleichzeitige Messung von der Nord- und Südhalbkugel der Erde aus.
1882 erhielt Küstner eine Stelle als Observator in Hamburg und wechselte 1884 nach Berlin. Dort gelang ihm 1885 bei seinen Beobachtungen eine bahnbrechende Entdeckung. Mit einem Universal-Durchgangsinstrument registrierte er kleine Änderungen der Lage der Erdachse im Erdkörper, die sogenannten Polhöhenschwankungen. 1888 erschienen die Resultate seiner Messungen in einer Berliner Institutspublikation. Küstners Entdeckung führte kurze Zeit später zu einer systematischen Überwachung der Polbewegung (Breitendienst, International Polar Motion Service, IERS), die bis heute anhält.
Küstners Jahre in seiner Berliner und Bonner Zeit waren aber zunächst einmal hauptsächlich geprägt durch Arbeiten mit dem Meridiankreis. Ein solches Gerät ist ein fest nach Süden ausgerichtetes Teleskop, das in der Höhe verstellbar ist. Der Beobachter registriert im Okular die genaue Zeit, wann ein Stern exakt in südlicher Richtung steht. Küstner widmete sich über viele Jahre diesen Messungen, da sie die Grundlage des Studiums der Bewegung von Sternen darstellt. Umgekehrt war es aber auch möglich, ein solches Gerät zur genauen Bestimmung der Zeit zu nutzen. In Berlin und in Bonn versah Küstner den sogenannten Zeitdienst, bei dem er mit Hilfe seiner Messungen öffentliche Uhren kontrollierte. Folgerichtig nahm das Küstner in Bonn als erstes den Meridiankreis, den noch sein Vorgänger Eduard Schönfeld (1828-1891) bei der Firma Repsold bestellt hatte, in Betrieb. Mit diesem Gerät setze er seine Berliner Beobachtungsserien in Bonn fort. Küstners Erfahrung, seine Ausdauer und sein unermüdliches Bemühen um genaueste Messungen gipfelten in zwei Katalogen von Meridiankreisdaten (1897 und 1908), die weltweit Anerkennung fanden. Für diese Arbeiten erhielt er 1910 die Goldmedaille der Royal Astronomical Society Englands und 1916 die goldene Bradley Medaille.
In der Zeit, in der Küstner nach Bonn berufen wurde, vollzog sich in der Astronomie ein entscheidender Wandel. Zum einen begann die fotografische Platte die visuellen Beobachtungen am Fernrohr abzulösen. Außerdem entstand durch die Entwicklung der Spektroskopie eine neue Technik, mit der man anfing, die physikalischen Eigenschaften von Sternen zu ermitteln. Die Astronomie entwickelte sich zur Astrophysik. Küstner hat diesem neuen Gebiet bei seiner Arbeit in Bonn Rechnung getragen. Er setzte sich energisch dafür ein, ein neues Fernrohr zu beschaffen, das fotografische Arbeiten ermöglichte. Seine Bemühungen, für die auch die Ablehnung eines Rufes an die Hamburger Universität förderlich war, führten 1899 zur Installation eines großen Linsenteleskops in der Sternwarte an der Poppelsdorfer Allee. Dieser Doppelrefraktor bestand aus einem Teleskop für visuelle Beobachtungen mit einer Linse von 36 Zentimeter Durchmesser und einem fotografischen Rohr, dessen Öffnung einen Durchmesser von 30 Zentimeter hatte. Die Brennweite - und damit die Baulänge der Fernrohre - betrug bei beiden Rohren etwa fünf Meter. Da das Teleskop zu groß für einen der Türme der Alten Sternwarte an der Poppelsdorfer Allee war, baute man für das Instrument eine eigene Kuppel im Garten der Sternwarte. Auch wenn dieses Fernrohr im Vergleich zu anderen Teleskopen in Berlin, München oder Hamburg deutlich kleiner war, dienten Beobachtungen mit diesem Fernrohr über fast 100 Jahre lang den Bonner Astronomen für ungewöhnlich viele wissenschaftliche Publikationen. Die große Zahl der Veröffentlichungen nach 1980 lag vor allem an der Qualität der Küstnerschen Aufnahmen, die in dieser Zeit neu ausgewertet wurden.
Mit Aufnahmen vom Mond versuchte Küstner als erstes, die Abbildungseigenschaften des neuen Teleskops zu ermitteln. Seine Untersuchungen, für die er von 1900 bis 1904 etwa 200 Aufnahmen des Mondes herstellte, führten ihn zu der Erkenntnis, dass das Teleskop gute Abbildungseigenschaften hatte, aber die Luftunruhe in Bonn das astronomische Arbeiten beeinträchtigte. In dieser Zeit entstanden auch knapp 100 Belichtungen eines explodierenden Sterns im Sternbild Perseus (GK Persei). Allerdings hat Küstner die Ergebnisse dieser Auswertung trotz der intensiven Arbeit an diesem Material nur am Rand eines Jahresberichts erwähnt, da ihm die Qualität nicht ausreichend erschien.
Spektroskopie und fotografische Technik ermöglichten den Astronomen seinerzeit direkt, die radiale Geschwindigkeitskomponente eines Sterns zu bestimmen. Küstner sah in dieser Methode ein geeignetes Arbeitsfeld, um durch genaue Messungen Material für weitreichende Untersuchungen, zum Beispiel der Struktur der Milchstraße zu erhalten. Bezeichnend für seine Einstellung war aber, dass er zunächst einmal selber diese neue Methode testen wollte. So entstand die Idee, mit Hilfe der Spektroskopie eine genau bekannte Größe der Astronomie zu bestimmen. Die Bestimmung der mittleren Entfernung zwischen Sonne und Erde, die sogenannte Astronomische Einheit, erschien Küstner dafür geeignet. Da die astronomische Einheit gewissermaßen als „Zollstock“ für alle Entfernungen vom Planetensystem zu den entfernten Sternen wichtig war, galt der Messung dieser wichtigen Größe das besondere Interesse der Astronomen zu Beginn des 20. Jahrhunderts. Zu den bekannten Methoden fügte Küstner 1905 mit der Vermessung der Spektren des Sterns Arktur eine neue Methode hinzu. Erst nachdem er eine befriedigende Übereinstimmung festgestellt hatte, wandte er die neue Technik der Spektroskopie auf die Bestimmung der radialen Geschwindigkeiten von Sternen an. Seine Messungen gipfelten in zwei Katalogen in den Jahren 1908 und 1914. Die Präzision der Küstnerschen Messungen galt mehr als 50 Jahre später immer noch als herausragend. Die Methode der Bestimmung der astronomischen Einheit nach Küstner wird heute gelegentlich als Versuch im Physik- oder Astronomie-Unterricht in Schulen verwendet.
Um 1910 wurden in Amerika neue Teleskope gebaut. Küstner erkannte, dass er mit seinen Messungen auf Dauer gegenüber diesen größeren Geräten nicht konkurrenzfähig war. Nach der Vollendung seines zweiten Katalogs mit Radialgeschwindigkeiten begann er im Alter von fast 60 Jahren mit der Neuausrichtung seiner Arbeit am Bonner Refraktor. Nun nutzte er das Teleskop für Direktaufnahmen zur Bestimmung der Positionen der Sterne. Sein Plan war, dass zukünftig Astronomen diese Koordinaten nutzen sollten, um tangentiale Bewegungen von Sternen zu ermitteln. Gerade auch bei diesen Aufnahmen legte Küstner höchste Maßstäbe an sich selbst. Da der Refraktor ein kleines Öffnungsverhältnis hatte, musste ein Beobachter eine Aufnahme lange belichten. Küstner schaffte es, durch Ausschaltung störender Effekte, Fotoplatten über mehrere Stunden zu belichten. Die Qualität seiner Aufnahmen, die er jeweils wie ein Künstler signierte, machte sie über Jahrzehnte zu wichtigen Forschungsobjekten. Wie durch ein Wunder blieben diese Platten im Zweiten Weltkrieg unversehrt. 1967 verlegten die Bonner Astronomen wegen der Lichtverschmutzung in Bonn das Teleskop nach Schalkenmehren/Daun in die Vulkaneifel. Küstners Aufnahmen wurden hier mit dem gleichen Teleskop wiederholt, um Bewegungen von Sternen zu ermitteln. Die fotografischen Platten bildeten über viele Jahre die Grundlage für Arbeitsgruppen der Astronomie und Geodäsie bis Ende des 20. Jahrhunderts. Auch wegen der bedeutenden Entdeckung der Polhöhenschwankungen, steht Küstner in besonderem Maße für die Verbindung von Astronomie und Geodäsie, die in der heutigen Zeit durch die VLBI-Technik eine neue Blüte erfuhr.
Karl Friedrich Küstner war verheiratet mit Else Küstner (gestorben 1924), Tochter des Bildhauers Carl Börner (1828-1905) aus Hamburg. Die Familie wohnte in der Alten Sternwarte in der Poppelsdorfer Allee 46 in Bonn. Else Küstner war Malerin und bekam auf dem Gelände der Alten Sternwarte ein Atelier. Sie beteiligte sich in Bonn an Ausstellungen, zum Beispiel in der Villa Obernier. Die Familie hatte einen Sohn, der im Ersten Weltkrieg fiel, und zwei Töchter.
1910 wurde Küstner sowohl zum Mitglied der Deutschen Akademie der Naturforscher Leopoldina als auch zum korrespondierenden Mitglied der Königlich-Preußischen Akademie der Wissenschaften gewählt. Im Akademischen Jahr 1911/1912 war Küstner Rektor der Universität Bonn. 1913 wurde er Mitglied der National Academy of Sciences, 1917 korrespondierendes Mitglied der Akademie der Wissenschaften zu Göttingen. Nach seiner Emeritierung im Jahr 1925 verbrachte Küstner seinen Lebensabend in Mehlem (heute Stadt Bonn), wo er am 15.10.1936 starb.
2015 übergab das Argelander-Institut für Astronomie der Universität Bonn Karl Friedrich Küstners Nachlass der Universitäts- und Landesbibliothek Bonn.
Werke (Auswahl)
Neue Methode zur Bestimmung der Aberrations-Constante nebst Untersuchungen über die Veränderlichkeit der Polhöhe. Beobachtungs-Ergebnisse der königlichen Sternwarte zu Berlin 3 (1888), S. 1-59.
Eine spektrographische Bestimmung der Sonnenparallaxe, in: Astronomische Nachrichten 169 (1905), S. 241-264.
Katalog von 10663 Sternen zwischen 0 [Grad] und 51 [Grad] nördlicher Deklination für das Equinoktium 1900 nach den Beobachtungen am Repsoldschen Meridiankreise der Königlichen Sternwarte zu Bonn in den Jahren 1894 bis 1903, in: Bonner Veröffentlichungen 10 (1908), S. 1-333.
Radial Velocities of 99 stars of the second and third spectral classes observed at Bonn, in: Astrophysical Journal 27 (1908), S. 301-324.
Radialgeschwindigkeiten von 227 Sternen des Spektraltypus F bis M beobachtet 1908 bis 1913 am Bonner 30 cm-Refraktor, in: Astronomische Nachrichten 198 (1914), S. 409-448.
Literatur
Brosche, Peter, Küstner's Observations of 1884-85: the Turning Point in the Empirical Establishment of Polar Motion, Polar Motion: Historical and Scientifiv Problems ASP Conference Series 208 (2000), S. 101-107.
Geffert, Michael, Die Geschichte des Faches Astronomie an der Universität Bonn, in: Becker, Thomas/Rosin, Philip (Hg.), Die Natur- und Lebenswissenschaften. Geschichte der Universität Bonn, Band 4, Göttingen 2018, S. 308-313.
Hopmann, Josef, Küstner, Friedrich, in: Neue Deutsche Biographie 13 (1982), S. 240. [Online]
Hopmann, Josef, Karl Friedrich Küstner (Nekrolog), in: Vierteljahrsschrift der Astronomischen Gesellschaft 71 (1937), S. 21-34.
Schmidt, Hans, Astronomen der Rheinischen Friedrich-Wilhelms-Universität. Ihr Leben, Bonn 1990, S. 87-107.
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Geffert, Michael, Karl Friedrich Küstner, in: Internetportal Rheinische Geschichte, abgerufen unter: https://www.rheinische-geschichte.lvr.de/Persoenlichkeiten/karl-friedrich-kuestner/DE-2086/lido/6040a7fc06ed75.56196024 (abgerufen am 12.10.2024)