Marianne Pünder

Juristin, Direktorin der Sozialen Frauenschule des Katholischen Deutschen Frauenbundes Berlin/Helene-Weber-Akademie, NS-Gegnerin (1898-1980)

Manfred Berger (Dillingen an der Donau)

Marianne Pünder. (Ida-Seele-Archiv)

Ma­ri­an­ne Pünder ge­hör­te zu der ers­ten Ge­ne­ra­ti­on von Frau­en, die rei­bungs­los stu­die­ren und pro­mo­vie­ren konn­te. Sie war ma­ß­ge­bend an der Pro­fes­sio­na­li­sie­rung der So­zia­len Ar­beit be­tei­ligt. We­ni­ger be­kannt ist, dass sich die ge­bür­ti­ge Köl­ne­rin wäh­rend der NS-Dik­ta­tur cou­ra­giert für po­li­tisch Ver­folg­te und in Not ge­ra­te­ne Men­schen ein­setz­te. Da­mit zählt sie eben­so zum Kreis der Wi­der­stands­kämp­fer wie die Män­ner und Frau­en des 20. Ju­li 1944.

Aus der am 31.5.1881 in Trier ge­schlos­se­nen Ehe des Land­rich­ters Her­mann Jo­seph Pünder (1841-1917) mit Ca­ro­li­ne, ge­nannt Ca­ro­la, Schoemann (1856-1943) gin­gen fünf Kin­der her­vor: Ger­trud (1882-1967), Hed­wig (1884-1948), Mat­thi­as Wer­ner (1885-1973), Her­mann Jo­sef Ma­ria Ernst und schlie­ß­lich am 1.4.1898 in Köln Ma­ri­an­ne, ge­nannt Mi­mi.

Zum Haus­halt der Pünders ge­hör­ten ein Kin­der­mäd­chen, ei­ne Kö­chin so­wie in den letz­ten Jah­ren ih­res Le­bens die er­blin­de­te Gro­ß­mut­ter Ca­ro­li­ne Hen­ri­et­te Schoemann, ge­bo­re­ne Fuis­ting (1819-1886). Her­mann Pünder wur­de 1889 an das Ober­lan­des­ge­richt nach Köln ver­setzt. Die Fa­mi­lie, die dem ge­ho­be­nen rhei­ni­schen Bür­ger­tum an­ge­hör­te, war ka­tho­lisch. Re­li­gio­si­tät wie Her­zens­gü­te präg­ten die Er­zie­hung der Kin­der, bei der sich Va­ter wie Mut­ter welt­of­fen und to­le­rant zeig­ten. Als Ma­ri­an­ne zwei Jah­re alt war, zog die Fa­mi­lie nach Ber­lin, der Be­ru­fung Her­mann Pünders an das neu er­rich­te­te Reichs­mi­li­tär­ge­richt fol­gend. Mit Pünders Auf­stieg zum Reichs­mi­li­tär­ge­richts­rat im „Rang ei­nes Ra­thes 2. Klas­se“ war der Ti­tel Ge­heim­rat ver­bun­den.

Ma­ri­an­ne Pünder ab­sol­vier­te nach der Volkschu­le die Hö­he­re Töch­ter­schu­le. Stan­des­ge­mäß wur­de die Aus­bil­dung im ex­klu­si­ven Mäd­chen­pen­sio­nat „Ma­ri­en­bur­g“ im nie­der­län­di­schen Ni­j­me­gen, das un­ter der Lei­tung von Sa­cré Co­eur-Schwes­tern stand, fort­ge­setzt. Nach dem Ab­itur ent­schied sie sich für ein aka­de­mi­sches Stu­di­um und stu­dier­te an den Uni­ver­si­tä­ten Ber­lin und Frei­burg im Breis­gau Rechts- und Staats­wis­sen­schaf­ten. In Frei­burg pro­mo­vier­te Ma­ri­an­ne Pünder 1923 zum Dr. rer. pol. In ih­rer Dis­ser­ta­ti­on „Zur Ide­en­ge­schich­te der christ­lich-na­tio­na­len Ar­bei­ter­be­we­gun­g“ ver­folg­te sie die Ur­sprün­ge und Zie­le der christ­lich-na­tio­na­len Ar­bei­ter­be­we­gung und de­ren viel­fach ver­schlun­ge­ne Auf­fä­che­run­gen in Ar­bei­ter­ver­ei­nen und Ge­werk­schaf­ten. Da­mit be­han­del­te sie ein seit lan­gem schwel­len­des bri­san­tes The­ma der christ­li­chen Ge­sell­schafts- und So­zi­al­po­li­tik. Di­rekt nach Ab­schluss des Stu­di­ums wur­de die jun­ge Dok­to­rin Pri­vat­se­kre­tä­rin von Hed­wig Drans­feld (1871-1925), Prä­si­den­tin des Ka­tho­li­schen Deut­schen Frau­en­bun­des (KDFB) und Zen­trums­po­li­ti­ke­rin. Nach de­ren frü­hem Tod ar­bei­te­te Ma­ri­an­ne Pünder für kur­ze Zeit bei der Thys­sen AG in Ham­burg und in Ber­lin. An­fang der 1920er Jah­re lern­te Ma­ri­an­ne Pünder im Be­zirks­amt Ber­lin-Neu­kölln die Tu­ber­ku­lo­se­für­sor­ge­rin Ma­ri­an­ne Ha­pig (1894-1973) ken­nen. Seit 1935 wohn­ten die Frau­en zu­sam­men, zu­erst in ei­nem klei­nen Haus auf dem Are­al der Pünder­schen Vil­la in Lich­ter­fel­de, Ma­ri­en­stra­ße 15, ab 1945 Un­ter den Ei­chen 123. We­gen ih­res ge­mein­sa­men Auf­tre­tens und Wir­kens wur­den die Freun­din­nen die „bei­den Ma­ri­an­nen“ ge­nannt.  

Durch die Ver­mitt­lung von He­le­ne We­ber, sei­ner­zeit Mi­nis­te­ri­al­rä­tin im Preu­ßi­schen Mi­nis­te­ri­um für Volks­wohl­fahrt, er­hielt Ma­ri­an­ne Pünder 1925 ei­ne Stel­le als Do­zen­tin an der So­zia­len Frau­en­schu­le des Ber­li­ner Zweig­ver­eins des KDF, die in Deutsch­land ei­nen gu­ten Ruf als Aus­bil­dungs­stät­te für pra­xis­be­zo­ge­ne So­zi­al­be­ru­fe hat­te. Ma­ri­an­ne Pünder un­ter­rich­te­te ne­ben Wohl­fahrts­kun­de (Für­sor­ge) die Fä­cher Volks­wirt­schafts­leh­re, Staats­kun­de, So­zi­al­po­li­tik und Po­li­ti­sche Bil­dung. Von He­le­ne We­ber er­hielt sie den Auf­trag, in Zu­sam­men­ar­beit mit Lui­se Bes­ser (1889-1982), Mar­ga­re­te Cor­de­mann (1889-1968), Ma­ria Laar­mann (1891-1958), Eli­sa­beth Nitz­sche (1888-1964) und Mar­ga­re­te Treu­ge (1876-1962) neue, all­ge­mein ver­bind­li­che Richt­li­ni­en für die Stoff­plä­ne der Wohl­fahrts­schu­len in Preu­ßen zu er­ar­bei­ten. Hin­sicht­lich der Stel­lung des Fa­ches Wohl­fahrts­kun­de be­ton­te Ma­ri­an­ne Pünder die Be­deu­tung der prak­ti­schen Ar­beit in­ner­halb der theo­re­ti­schen Aus­bil­dung, die, wie sie for­mu­lier­te: „… ei­nen dop­pel­ten Cha­rak­ter trägt: 1. Sie ist Mit­tel der Aus­bil­dung, ver­mit­telt: Kennt­nis­se und An­schau­ung, ich möch­te fast sa­gen: Be­le­ge für den theo­re­ti­schen Un­ter­richt, 2. Sie ist zu­gleich ein ge­wis­ser An­fang des Be­rufs­zie­les und soll zur selb­stän­di­gen Ent­schei­dung und Ver­ant­wor­tung füh­ren. Da­mit stellt sie ganz kon­kret die Fra­ge nach der Be­ru­fung zur so­zia­len Ar­beit und führt die Schü­le­rin vor in­ners­te, per­sön­li­che Ent­schei­dun­gen.“[1] 

1930 war Ma­ri­an­ne Pünder De­le­gier­te des Aus­wär­ti­gen Am­tes bei der Vor­kon­fe­renz der Gen­fer Ab­rüs­tungs­kon­fe­renz, 1932 De­le­gier­te beim Völ­ker­bund.

Mit der Macht­über­nah­me der Na­tio­nal­so­zia­lis­ten be­gann für Ma­ri­an­ne Pünder ei­ne schwe­re Zeit. Als Do­zen­tin an ei­ner ka­tho­li­schen Aus­bil­dungs­stät­te stand für sie fest, dass christ­li­ches und na­tio­nal­so­zia­lis­ti­sches Men­schen­bild nicht mit­ein­an­der zu ver­ein­ba­ren wa­ren. Sie er­mög­lich­te den Se­mi­na­ris­tin­nen ei­ne ei­ge­ne Ur­teils­bil­dung, statt sie im Geis­te der NS-Ideo­lo­gie zu un­ter­rich­ten. Be­reits im Schul­jahr 1934/1935 kri­ti­sier­te der in der Schweiz ge­bo­re­ne Prü­fungs­kom­mis­sar und Ab­tei­lungs­lei­ter für Volks­ge­sund­heit bei der NS­DAP-Reichs­lei­tung, Dr. Leo­nar­do Con­ti (1900-1945), das die Se­mi­na­ris­tin­nen der kon­fes­sio­nell ge­bun­de­nen Aus­bil­dungs­stät­te zwar al­les über den Na­tio­nal­so­zia­lis­mus wüss­ten, aber mit dem Her­zen nicht da­bei sei­en. Früh lern­te Ma­ri­an­ne Pünder über ih­re Fa­mi­lie den NS-Staat und des­sen bru­ta­le Ver­fol­gun­gen von po­li­ti­schen Wi­der­ständ­lern ken­nen. Ihr Bru­der, der an­ge­se­he­ne No­tar und Rechts­an­walt am Kam­mer­ge­richt Wer­ner Pünder, ge­riet in Kon­flikt mit den neu­en Macht­ha­bern, weil er die Ver­tei­di­gung sei­nes Par­tei­freun­des, des ehe­ma­li­gen Reichs­ab­ge­ord­ne­ten der Zen­trums­par­tei An­dre­as Her­mes über­nahm. Der Po­li­ti­ker wur­de im März 1933 in ei­nem von den Na­tio­nal­so­zia­lis­ten in­sze­nier­ten Ver­fah­ren we­gen Ver­un­treu­ung zu vier Mo­na­ten Haft ver­ur­teilt. In ei­ne weit­aus ge­fähr­li­che­re Si­tua­ti­on ge­riet Wer­ner Pünder, als er die In­ter­es­sen von Hed­wig Klau­se­ner (1888-1971) wahr­nahm, der Wit­we von Erich Klau­se­ner, der als Lei­ter der Ka­tho­li­schen Ak­ti­on im Zu­ge der von der NS-Pro­pa­gan­da als „Röhm-Re­vol­te“ oder „Röhm-Putsch“ dar­ge­stell­ten Er­eig­nis­se En­de Ju­ni/An­fang Ju­li 1934 von brau­nen Scher­gen li­qui­diert wur­de. Die Fa­mi­lie Pünder stand in ver­wandt­schaft­li­cher Be­zie­hung zu Hed­wig Klau­se­ner. In der Sa­che ging es um die Fest­stel­lung ei­nes amt­lich als Frei­tod ge­tarn­ten Tö­tungs­de­lik­tes. We­gen die­ses Rechts­bei­stan­des ge­gen das Deut­sche Reich und den Frei­staat Preu­ßen wur­de Wer­ner Pünder am 16.4.1933 ver­haf­tet, für ei­ni­ge Wo­chen in „Schutz­haf­t“ ge­nom­men und mit Er­schie­ßung be­droht. Er kam in das be­rüch­tig­te Ge­sta­po-Ge­fäng­nis in der Prinz-Al­brecht-Stra­ße 8. Ver­ge­bens be­müh­te sich Ma­ri­an­ne Pünder, Haft­er­leich­te­run­gen für den Bru­der zu er­rei­chen. Da Wer­ner Pünder in­ter­na­tio­nal ver­netzt war, fürch­te­te Adolf Hit­ler (1889-1945) um sein Re­nom­mee in der Aus­lands­pres­se und der Häft­ling wur­de ent­las­sen. Die Er­fah­run­gen mit dem Bru­der ver­stärk­ten Ma­ri­an­ne Pünders Ver­ach­tung für den Ge­sta­postaat.

 

In engs­ter Ko­ope­ra­ti­on mit Mar­ga­re­te Som­mer (1893-1965), Ge­schäfts­füh­re­rin des 1938 von Bi­schof Kon­rad Graf von Prey­sing (1880-1950) er­rich­te­ten Hilfs­werks beim Bi­schöf­li­chen Or­di­na­ri­at Ber­lin, un­ter­stütz­ten die „Ma­ri­an­nen“ ver­folg­te Mit­bür­ger und Mit­bür­ge­rin­nen, oh­ne An­se­hen der Re­li­gi­on oder Eth­nie, ob pro­mi­nent oder nicht. Im Bü­ro von Ma­ri­an­ne Ha­pig im St. Hed­wig-Kran­ken­haus wur­de ei­ne klei­ne Kar­tei über il­le­gal le­ben­de Ju­den ge­führt, um die­sen wech­seln­de Quar­tie­re und Nah­rungs­mit­tel zu be­schaf­fen. Da­für wa­ren zehn bis 20 Hel­fer not­wen­dig, die sich aus Vor­sicht nicht ken­nen durf­ten. Im Au­gust 1944 bau­ten die Freun­din­nen ein in­for­mel­les Hilfs­netz­werk auf, das so­wohl die Häft­lin­ge des ge­schei­ter­ten Hit­ler-At­ten­tats vom 20. Ju­li 1944 als auch de­ren Ehe­frau­en bei ih­ren Be­su­chen in Ber­lin und Vor­spra­chen bei der Ge­sta­po und der Jus­tiz­ver­wal­tung un­ter­stütz­te. Hier­zu hiel­ten sie en­gen Kon­takt zu dem ka­tho­li­schen An­stalts­pfar­rer von Te­gel und Plöt­zen­see, Pe­ter Buch­holz (1888-1963). Für die nach Ber­lin an­ge­reis­ten „Ver­rä­ter­frau­en“ be­sorg­ten sie un­auf­fäl­li­ge Un­ter­künf­te, wie im Haus des Ka­tho­li­schen Deut­schen Frau­en­bun­des, in Klös­tern oder an­de­ren kirch­li­chen Ge­bäu­den. Au­ßer­dem führ­ten sie die Ehe­frau­en der Häft­lin­ge in die kon­spi­ra­ti­ve Ar­beit ein. Da­zu ge­hör­te es, den Auf­ent­halt des ein­ge­ker­ker­ten Ehe­man­nes zur er­fah­ren, das Auf­sichts­per­so­nal zu be­ste­chen, sich ei­ne Be­su­cher­er­laub­nis zu er­kämp­fen, Le­bens­mit­tel- und Wä­sche­lie­fe­run­gen zu or­ga­ni­sie­ren und – mit am wich­tigs­ten – das Aus­tau­schen von In­for­ma­tio­nen über die be­vor­ste­hen­den Pro­zes­se und die Schick­sa­le der Mit­an­ge­klag­ten.

Ei­ne zen­tra­le Rol­le in der Ver­mitt­lung von Kon­tak­ten nach au­ßen hat­ten die „Ma­ri­an­nen“ spe­zi­ell für den im neu­er­rich­te­ten Ge­sta­po-Ge­fäng­nis in der Lehr­ter Stra­ße 3, dann in der Haft­an­stalt Te­gel in­haf­tier­ten Je­sui­ten­pa­ter Al­fred Delp (1907-1945) über­nom­men. Schnell er­kun­de­ten sie, wer un­ter den Be­wa­chern be­reit war, ge­gen Zi­ga­ret­ten, Al­ko­hol oder an­de­re Kost­bar­kei­ten „al­le Au­gen zu­zu­drü­cken“, wenn der Je­sui­ten­pa­ter zur Fei­er der Hei­li­gen Mes­se Wein und Brot be­nö­tig­te oder je­ne klei­nen, ei­gens an­ge­fer­tig­ten Stoff­täsch­chen, in de­nen von Al­fred Delp ge­weih­te Hos­ti­en zu an­de­ren Mit­häft­lin­gen ge­bracht wer­den konn­ten. Zu­dem schmug­gel­ten sie mit List und Mut über den Wä­sche­wech­sel Nach­rich­ten und Schrift­stü­cke von ihm her­aus. Die­se Do­ku­men­te wur­den 1947 erst­mals un­ter dem Ti­tel „Im An­ge­sicht des To­des - ge­schrie­ben zwi­schen Ver­haf­tung und Hin­rich­tung 1944-1945“ ver­öf­fent­licht.

Auf eben­so aben­teu­er­li­che Wei­se ge­lang­te un­ter Mit­hil­fe der bei­den Freun­din­nen der Ab­schieds­brief des zum To­de ver­ur­teil­ten christ­li­chen Ge­werk­schaft­ler­s Ni­ko­laus Groß, der sich be­reits seit 1927 im Wi­der­stand ge­gen den Na­tio­nal­so­zia­lis­mus en­ga­gier­te und zum so­ge­nann­ten „Köl­ner Kreis“ ge­hör­te, aus der Haft­an­stalt an die Öf­fent­lich­keit. Sein Sohn, Bern­hard Groß (1934-2019), äu­ßer­te sich in ei­nem In­ter­view über die „Ma­ri­an­nen“: „Ge­ra­de die­se bei­den glau­bens­star­ken Frau­en ha­ben un­se­ren Va­ter und den üb­ri­gen Ge­fan­ge­nen un­ter Ge­fähr­dung des ei­ge­nen täg­lich ge­hol­fen, das Los der Ge­fan­ge­nen zu er­tra­gen.“[2] 

Auch Ma­ri­an­ne Pünders Bru­der, der Zen­trums­po­li­ti­ker Her­mann Pünder, ge­hör­te zu den In­haf­tier­ten. Die Ver­haf­tungs­wel­le nach dem miss­lun­ge­nen At­ten­tat vom 20. Ju­li 1944 er­fass­te auch ihn und er wur­de in das Zel­len­ge­fäng­nis in der Lehr­ter Stra­ße 3 ge­bracht. Dort wur­de er von der Schwes­ter ver­sorgt. Es ge­lang ihr, für den Bru­der den Prä­si­den­ten der Reichs­rechts­an­walts­kam­mer, Jus­tiz­rat Rein­hard Neu­bert (1896-1945), als of­fi­zi­el­len Pro­zess­ver­tei­di­ger zu ge­win­nen. Durch die von ihr in­iti­ier­te Ein­fä­de­lung ei­nes Kon­tak­tes des Freun­des der Fa­mi­lie Pünder, des Ber­li­ner Ge­ne­ral­in­ten­dan­ten und Preu­ßi­schen Staats­rats Heinz Ti­et­jen (1881-1967) zu Ro­land Freis­ler (1893-1945), dem be­rüch­tig­ten Vor­sit­zen­den des Volks­ge­richts­ho­fes, konn­te am 20.12.1944 - man­gels Be­wei­sen - ein Frei­spruch für Her­mann Pünder er­reicht wer­den. Die Ge­sta­po igno­rier­te den Frei­spruch je­doch und ver­schlepp­te den „Hoch­ver­rä­ter“ am 2.2.1945 in das KZ Fürs­ten­berg in Meck­len­burg, da­nach wie­der nach Ber­lin, am 7. Fe­bru­ar in das KZ Bu­chen­wald bei Wei­mar, An­fang April in das KZ Dach­au und schlie­ß­lich in die „Al­pen­fes­tung Ti­rol“. Durch ein von Ra­dio Va­ti­kan aus­ge­strahl­tes Kom­mu­ni­qué er­fuh­ren Ma­ri­an­ne Pünder und die Fa­mi­lie ih­res Bru­ders, dass Her­mann Pünder sich wohl­be­hal­ten in der Ob­hut der ame­ri­ka­ni­schen Ar­mee auf Ca­pri be­fand und so­mit die Ver­schlep­pung durch die Na­tio­nal­so­zia­lis­ten über­lebt hat­te. 

Die "beiden Mariannen", Marianne Pünder und Marianne Hapig. (Privatbesitz)

 

Nach dem Zu­sam­men­bruch der NS-Ter­ror­herr­schaft en­ga­gier­te sich Ma­ri­an­ne Pünder in der am 26.6.1945 in Ber­lin ge­grün­de­ten Christ­li­chen De­mo­kra­ti­schen Uni­on so­wie beim Wie­der­er­rich­ten von Le­bens­struk­tu­ren in der schwer zer­stör­ten und in vier Be­sat­zungs­zo­nen auf­ge­teil­ten Stadt Ber­lin. 1957 über­nahm sie die Lei­tung der So­zia­len Frau­en­schu­le des KDFBs, die sich ab 1962 „He­le­ne-We­ber-Schu­le. Ka­tho­li­sche Schu­le für So­zi­al­ar­beit“ nann­te und der sie bis 1965 vor­stand. 

Marianne Pünder (5. v. l.) bei einem Treffen des Katholischen Frauenbundes. (Archiv des KDFB e.V.)

 

Nach dem Bau der Ber­li­ner Mau­er ab dem 13.8.1961 un­ter­stütz­te die Schul­di­rek­to­rin mit Kor­re­spon­denz und durch jähr­li­che Tref­fen in Ost­ber­lin die ehe­ma­li­gen Schü­le­rin­nen, die als So­zi­al­ar­bei­te­rin­nen in der DDR ih­ren Un­ter­halt ver­dien­ten. Sie er­kann­te, dass der drin­gen­de Be­darf an männ­li­chen Für­sor­ger/So­zi­al­ar­bei­ter in der of­fe­nen Ju­gend­ar­beit, ins­be­son­de­re im Hin­blick auf die nach dem Zwei­ten Welt­krieg an­stei­gen­de Zahl ka­tho­li­scher Lehr­lings- und Ju­gend­hei­me, es not­wen­dig mach­te, auch Män­ner in die So­zia­le Frau­en­schu­le auf­zu­neh­men. Die Auf­nah­me von männ­li­chen Stu­die­ren­den an ei­ner Frau­en­schu­le für ei­nen bis­her tra­di­tio­nel­len Frau­en­be­ruf stell­te neue Her­aus­for­de­run­gen an die Aus­bil­dung. Die Di­rek­to­rin eb­ne­te den Weg für die Auf­nah­me von Män­nern an der So­zia­len Frau­en­schu­le des KDFBs, die 1972 mit der staat­li­chen Ali­ce-Sa­lo­mon-Fach­hoch­schu­le für So­zi­al­ar­beit und So­zi­al­päd­ago­gik fu­sio­nier­te. Der Ver­ei­ni­gung ging ein lang­wie­ri­ger Pro­zess vor­aus. Doch im In­ter­es­se ei­ner wei­te­ren Qua­li­fi­zie­rung der Aus­bil­dung für so­zia­le Be­ru­fe fan­den schlie­ß­lich die Kri­ti­ker Ver­ständ­nis für den not­wen­di­gen Ver­än­de­rungs­pro­zess. Auch die ehe­ma­li­ge Di­rek­to­rin war nicht ge­ra­de er­freut über die Auf­lö­sung „ih­rer Schu­le“, de­ren gan­ze Trag­wei­te, wie sie mein­te, erst viel spä­ter er­kannt wer­den wür­de. Die ent­stan­de­ne Lü­cke wur­de im Ok­to­ber 1991 mit der Neu­grün­dung der Ka­tho­li­schen Fach­hoch­schu­le für So­zi­al­päd­ago­gik Ber­lin (heu­te Ka­tho­li­sche Hoch­schu­le für So­zi­al­we­sen Ber­lin), ge­tra­gen vom Bis­tum Ber­lin, wie­der ge­schlos­sen.

Ma­ri­an­ne Pünder ge­hör­te zu den rund 50 be­kann­ten deut­schen ka­tho­li­schen Per­sön­lich­kei­ten, die sich im Früh­jahr 1965 in ei­nem Schrei­ben an Papst Paul VI. (1897-1978, Pon­ti­fi­kat 1963-1978) wand­ten. Dar­in ba­ten sie ihn, die „aus­ste­hen­de Pro­mul­ga­ti­on“ der viel dis­ku­tier­ten Kon­zil­s­er­klä­rung vom 20.11.1964 „über die nicht­christ­li­chen Re­li­gio­nen mit dem 4. Ab­schnitt über die Ju­den“ („Nos­tra ae­ta­te“) nicht län­ger hin­aus­zu­zö­gern. Mit 82 Jah­ren - we­ni­ge Wo­chen vor ih­rem Tod - lei­te­te sie noch im Rah­men des 86. Ka­tho­li­ken­ta­ges in Ber­lin, an dem cir­ca 80.000 Men­schen teil­nah­men, ei­nen der neun öku­me­ni­schen Bu­ßgän­ge, die am 6.6.1980 durch die Stra­ßen der ge­teil­ten Stadt führ­ten. Ihr Bu­ßgang ging von der ehe­ma­li­gen Un­ter­su­chungs­haft­an­stalt Lehr­ter Stra­ße im Tier­gar­ten zur Kir­che St. Jo­seph im Wed­ding.

Die en­ga­gier­te Ka­tho­li­kin war un­ter an­de­rem Mit­glied be­zie­hungs­wei­se Mit­ar­bei­te­rin fol­gen­der In­sti­tu­tio­nen: Zen­tral­vor­stand des KDFBs, Eli­sa­beth-Kon­fe­ren­zen - Diö­ze­san­vor­sitz Ber­lin, Zen­tral­ko­mi­tee der deut­schen Ka­tho­li­ken, Vi­ze­prä­si­den­tin des 79. Ka­tho­li­ken­ta­ges 1962 (Han­no­ver), Mit­ar­beit in Ar­beits­ge­mein­schaf­ten bei den Ka­tho­li­ken­ta­gen in den Jah­ren 1950 (Pas­sau-Alt­öt­ting), 1952 (Ber­lin), 1954 (Ful­da), 1958 (Ber­lin) und noch 1980 (Ber­lin), Ka­tho­li­sche Ar­beits­ge­mein­schaft für Müt­ter­er­ho­lung, Deut­scher Ca­ri­tas­ver­band: Fach­aus­schuss für Fa­mi­li­en­für­sor­ge und Ar­men­pfle­ge, Deut­scher Aus­schuss für das Er­zie­hungs- und Bil­dungs­we­sen.

Für ihr ka­ri­ta­ti­ves Wir­ken er­hielt Ma­ri­an­ne Pünder 1958 die päpst­li­che Aus­zeich­nung Pro Eccle­sia et Pon­ti­fice und 1978 die Gol­de­ne Eh­ren­na­del des Deut­schen Ca­ri­tas­ver­ban­des. 1968 wur­de sie mit dem Bun­des­ver­dienst­kreuz Ers­ter Klas­se aus­ge­zeich­net.

Ma­ri­an­ne Pünder starb am 11.8.1980 in Ber­lin. Sie wur­de we­ni­ge Ta­ge spä­ter un­ter gro­ßer An­teil­nah­me auf dem Fried­hof der St. Mat­thi­as-Ge­mein­de in Ber­lin-Schö­ne­berg, Röb­ling­s­tra­ße 91 (Abt. 1 Wahl­stel­le 85), bei­ge­setzt. Post­hum wur­den die „Ma­ri­an­nen“ vom Ber­li­ner Se­nat mit ei­ner Ge­denk­ta­fel an der Fas­sa­de ih­res Wohn­hau­ses in Ber­lin-Ste­glitz, Ma­ri­en­stra­ße 15, ge­ehrt, de­ren fei­er­li­che Ent­hül­lung am 28.6.1989 er­folg­te.  

Schriften

Zur Ide­en­ge­schich­te der christ­lich-na­tio­na­len Ar­bei­ter­be­we­gung, Diss. rer. pol. Frei­burg i. Br. (1921) 1922.
Zu dem Ent­wurf ei­nes Haus­ge­hil­fen­ge­set­zes, in: Die Christ­li­che Frau 1922, S. 25-28.
Wohl­fahrts­schu­le in Ver­bin­dung mit der prak­ti­schen Aus­bil­dung der Schü­le­rin­nen, in: Preu­ßi­sches Mi­nis­te­ri­um für Volks­wohl­fahrt (Hg.), Bei­trä­ge zur Me­tho­den­fra­ge der Wohl­fahrts­schu­len, Ber­lin 1931, S. 50-58.
He­le­ne-We­ber-Schu­le 1917–1967. 50 Jah­re Ka­tho­li­sche Schu­le für So­zi­al­ar­beit, Ber­lin 1967.
So­zia­le Ar­beit, in: Sa­cra­men­tum Mun­di. Theo­lo­gi­sches Le­xi­kon für die Pra­xis, Band 4, Frei­burg [u.a.] 1969, Sp. 596–605.
… ich war ihr Lehr­ling, in: Pris­ma der Frau 1971, S. 77.
In Me­mo­ri­am Hed­wig Klau­se­ner, in: Pris­ma der Frau 1971, S. 99.
Der be­droh­te Mensch, in: Die Christ­li­che Frau 1971, S. 13-15.
Eh­ren­amt­li­che – ne­ben­amt­li­che – frei­wil­li­ge Mit­ar­beit, in: Ca­ri­tas 73 (1972), S. 129–176.
Hed­wig Drans­feld, in: Stup­pe­rich, Ro­bert. (Hg.), West­fä­li­sche Le­bens­bil­der 12 (1979), S. 145–161.
Aus der Zeit in Ber­lin, in: Pré­gar­dier, Eli­sa­beth/ Mohr, An­ne, Ern­te ei­nes Le­bens: He­le­ne We­ber (1881-1962). Weg ei­ner Po­li­ti­ke­rin, Es­sen 1991, S. 59-62.

Literatur

Bü­cker, Ve­ra/Na­dorf, Bern­hard/Pott­hoff, Mar­kus (Hg.), Ni­ko­laus Groß. Ar­bei­ter­füh­rer-Wi­der­stands­kämp­fer – Glau­bens­zeu­ge. Wie sol­len wir vor Gott und un­se­rem Volk be­ste­hen? Der po­li­ti­sche und so­zia­le Ka­tho­li­zis­mus im Ruhr­ge­biet 1927 bis 1949, Müns­ter 2001.
Jauch, Ernst-Al­fred, Sie gab zahl­lo­sen Frau­en Ori­en­tie­rung. Ma­ri­an­ne Pünder hat sich um das Lai­en-Apos­to­lat ver­dient ge­macht, in: Ka­tho­li­sche Nach­rich­ten Agen­tur (KNA) Das Por­trait. Nr. 155, 14. Au­gust 1980. Ka­tho­li­scher Deut­scher Frau­en­bund Diö­ze­san­ver­band Ber­lin (Hg.), Ka­tho­li­sche Frau­en­ar­beit in Preu­ßen. 100 Jah­re Ka­tho­li­scher Deut­scher Frau­en­bund in Ber­lin, Ber­lin 2009, S. 30-37.
Klau­se­ner, Erich, Frau­en in Fes­seln – Hoff­nung in der Fins­ter­nis. Von Mut und Op­fer ka­tho­li­scher Frau­en im Drit­ten Reich, Ber­lin 1982.
Kot­zur, Mar­le­ne, Ste­glitz – Frau­en set­zen Zei­chen, Ber­lin 1990, S. 46-48.
Lob-Hü­de­phol, An­dre­as, „Wi­der­stand aus christ­li­cher Hu­ma­ni­tät“. So­zia­le Ar­beit in Ca­ri­tas und ka­tho­li­scher Kir­che zwi­schen Ein­pas­sung und auf­blit­zen­dem Wi­der­set­zen, in: Amt­hor, Ralph Chris­ti­an (Hg.), So­zia­le Ar­beit im Wi­der­stand! Fra­gen, Er­kennt­nis­se und Re­fle­xio­nen zum Na­tio­nal­so­zia­lis­mus, Wein­heim/Ba­sel 2017, S. 194-211.
Pünder, Her­mann, Von Preu­ßen nach Eu­ro­pa. Le­bens­er­in­ne­run­gen, Stutt­gart 1968.
Sand­voß, Hans-Rai­ner, Ber­lin 1933-1945. Wi­der­stand in Ste­glitz und Zeh­len­dorf, Ber­lin 1986, S. 130-131.
See­len, Man­ja, Pünder, Ma­ri­an­ne, in: Le­xi­kon für Theo­lo­gie und Kir­che, Band 11, Frei­burg [u.a.] 2001, S. 223.
Wig­ger, An­net­te, Ma­ri­an­ne Pünder (1898-1980), in: Wich­mann-Jahr­buch des Diö­ze­san­ge­schichts­ver­eins Ber­lin, N.F. 8 = 44/45 (2005), S. 210-222.
Wör­mann, Hein­rich, Wi­der­stand in Char­lot­ten­burg, Ber­lin 1991, S. 180.

Soziale Frauenschule des Berliner Zweigvereins des Katholischen Deutschen Frauenbundes, undatiert. (Ida-Seele-Archiv)

 
Zitationshinweis

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Berger, Manfred, Marianne Pünder, in: Internetportal Rheinische Geschichte, abgerufen unter: https://www.rheinische-geschichte.lvr.de/Persoenlichkeiten/marianne-puender/DE-2086/lido/63173e1067d432.14982088 (abgerufen am 26.04.2024)