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Marie Juchacz war eine Frauenrechtlerin, Sozialpolitikerin und die erste Rednerin in einem deutschen Parlament. Bis 1933 war sie Vorsitzende der von ihr begründeten Arbeiterwohlfahrt.
Marie Juchacz wurde am 15.3.1879 als Tochter des Zimmermanns Theodor Gohlke und seiner Frau Henriette in Landsberg an der Warthe (Provinz Posen) geboren. In ärmlichen Verhältnissen und in einem stark ländlich geprägten Umfeld aufgewachsen, besuchte sie bis 1893 die Volksschule, um danach als Dienstmädchen in verschiedenen Haushalten und kurzzeitig in einer Fabrik zu arbeiten. In den Jahren 1896 bis 1898 war sie zwei Jahre als Wärterin in der Landespsychiatrie Landsberg tätig, bevor sie einen Schneiderkurs belegte und in der Werkstatt des Schneidermeisters Bernhard Juchacz, den sie 1903 heiratete, eine Anstellung fand. Die Ehe, aus der zwei Kinder hervorgingen, wurde 1906 geschieden.
Angeregt durch ihren älteren Bruder Otto, begann sich die junge Frau für Politik und die Sozialdemokratie zu interessieren.1906 zog sie nach dem Scheitern ihrer Ehe mit ihren beiden Kindern und ihrer jüngeren Schwester Elisabeth Röhl (1888-1930) nach Berlin, da für sie in ihrer Heimatgemeinde keine politische Betätigung möglich war. Beide Frauen traten 1907 in den Frauen- und Mädchenbildungsverein sowie 1908 in die Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD) ein. Kurze Zeit nach ihrem Beitritt wurden den beiden Schwestern die ersten Ämter in der sozialdemokratischen Frauenbewegung übertragen.
Frauen hatten bis zu diesem Zeitpunkt kein Recht, für ihre politischen Interessen einzutreten und durften sich erst nach der Aufhebung des preußischen Vereinsgesetzes im Jahr 1908 parteipolitisch engagieren. Marie Juchacz wurde noch im gleichen Jahr in den Vorstand des SPD-Wahlvereins Neukölln gewählt und gründete eine „Arbeitsgemeinschaft für fortgeschrittene und interessierte Frauen".
Im März 1913 fand Marie Juchacz, mittlerweile eine Politikerin von hohem Bekanntheitsgrad, in Köln als Parteisekretärin für den Bezirk Obere Rheinprovinz eine bezahlte Anstellung. Die Stelle wurde ihr von Luise Zietz (1865-1922), der einzigen Frau im SPD-Vorstand vermittelt. Von 1913 bis 1917 war sie Frauensekretärin der SPD in Köln und Mitglied des Vorstands der Bezirkskommission für den Bezirk Obere Rheinprovinz.
Während des Ersten Weltkriegs arbeiteten Marie Juchacz und Elisabeth Röhl in der Heimarbeitszentrale und bei der so genannten Lebensmittelkommission. Gemeinsam mit anderen Frauen sorgten sie dort für die Einrichtung von Suppenküchen und Nähstuben, für Heimarbeitsmöglichkeiten für Frauen und engagierten sich in der Unterstützung von Kriegswitwen und -waisen.
Im Frühjahr 1917, als es zur Spaltung der Sozialdemokraten und der Gründung der Unabhängigen Sozialdemokratischen Partei Deutschlands (USPD) kam, holte der SPD-Parteivorstand Friedrich Ebert (1871-1925) Marie Juchacz als Frauensekretärin nach Berlin zurück. Neben der Leitung des Frauenreferats übernahm sie von ihrer Vorgängerin Luise Zietz, die sich der USPD anschloss, auch die Redaktionsleitung der SPD-Zeitschrift „Die Gleichheit".
Im Oktober 1917 wurde sie als einzige Frau in den Parteivorstand der nach der Abspaltung verbliebenen Mehrheitssozialdemokraten (MSPD) und schließlich als eine von 37 Frauen nach der Novemberrevolution von 1918 in die Weimarer Nationalversammlung gewählt. Dort hielt sie am 19.2.1919 die erste Rede einer deutschen Parlamentarierin. Als einzige Frau gehörte sie dem „Ausschuss zur Vorberatung des Entwurfs einer Verfassung des Deutschen Reichs" der Nationalversammlung an. Erst drei Monate zuvor war das Frauenwahlrecht rechtlich festgesetzt worden.
Juchacz setzte sich mit Nachdruck für die verfassungsrechtliche Gleichstellung von Mann und Frau ein. Die Partizipation von Frauen am politischen Geschehen begriff sie als eine Chance, aus der bisherigen gesellschaftlichen Unmündigkeit herauszutreten und sich in die drängenden Probleme ihrer Zeit einzumischen. Dabei war das aktive und passive Wahlrecht für sie nur der erste Schritt, mit „angestrengtester und zielbewusstester Arbeit den Frauen im staatsrechtlichen und wirtschaftlichen Leben zu der Stellung zu verhelfen, die ihnen zukommt".
Als Mitglied des Reichstags zwischen 1920 und 1933 widmete sich Marie Juchacz hauptsächlich der Sozialpolitik. Sie trat für den Mütter- und Wöchnerinnenschutz, für Jugendhilfe und eine Änderung der Rechtsstellung nichtehelicher Kinder ein. Bis zu ihrer Emigration 1933 engagierte sie sich für sozial- und frauenpolitische Themen wie zum Beispiel die Reform des Ehescheidungsgesetzes oder des Strafrechtsparagraphen 218, der seit 1871 festschrieb, dass Frauen kein Recht hatten, über Anzahl und Folge ihrer Kinder selbst zu entscheiden. Außerdem kämpfte Juchacz für die Verbesserung staatlicher Fürsorge.
Ihre größte sozialpolitische Leistung war jedoch die Gründung der Arbeiterwohlfahrt (AWO) 1919. Geprägt durch ihre eigenen Erfahrungen und die Erlebnisse während des Krieges, hatte Marie Juchacz bereits während ihrer Tätigkeit in Köln erwogen, eine Selbsthilfe- und Wohlfahrtseinrichtung der organisierten Arbeiterschaft aufzubauen. Die Fürsorgearbeit während des Krieges ließ in ihr die Idee reifen, dass die Sozialdemokratische Partei eine Organisation benötigte, die Bedürftigen Hilfe bieten könnte.
1919 wurde sie vom Parteivorstand beauftragt, einen Hauptausschuss für die Arbeiterwohlfahrt zu gründen und zu leiten. Am 10.1.1920 rief Marie Juchacz, unterstützt von der preußischen Landtagsabgeordneten Hedwig Wachenheim (1891-1961), den „Hauptausschuss für Arbeiterwohlfahrt" (AWO) ins Leben. Die AWO entwickelte sich unter ihrer Vorsitzenden Marie Juchacz rasch zu einer tragfähigen Organisation mit Schulungseinrichtungen für Sozialarbeiter, Kindergärten und Erholungsheimen. Vor ihrer Auflösung 1933 hatte die AWO circa 135.000 ehrenamtliche Mitglieder, die in 2.600 Ortsausschüssen mit 1.414 Beratungsstellen tätig waren. Die Grundidee der AWO stellte dabei eine vom demokratischen Geiste und der Nächstenliebe geprägte Wohlfahrtspflege dar.
Marie Juchacz gelang es, dem jungen Wohlfahrtsverband breite Anerkennung und Achtung zu sichern. Die Arbeiterwohlfahrt rückte im Laufe der 1920er Jahre zunehmend ins Zentrum von Juchacz’ Aktivitäten, die parteipolitischen Mandate und Funktionen verloren für sie nach und nach an Bedeutung. Ihre Hauptaufgabe sah sie in der Unterstützung hilfsbedürftiger Menschen.
Nach der Machtübernahme durch Adolf Hitler (Amtszeit 1933-1945) löste sich die AWO 1933 auf, um der Vereinnahmung durch die NSDAP zu entgehen. Nur einzelne ehemalige Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen setzten ihre Fürsorgearbeit bis 1936 für Flüchtlinge, Inhaftierte und deren Familien fort.
Im März 1933 emigrierte die mittlerweile 54-jährige Marie Juchacz gemeinsam mit ihrem Schwager Emil Kirschmann zunächst ins Saarland und nach der Übernahme des Saargebiets durch das nationalsozialistische Regime weiter nach Südfrankreich. 1941 floh sie über Martinique nach New York, wo sie bis 1949 lebte. Dort gründete sie 1945 die „Arbeiterwohlfahrt USA – Hilfe für die Opfer des Nationalsozialismus", die nach Ende des Krieges mit Paketsendsendungen Unterstützung im zerstörten Deutschland leistete.
1949 kehrte Marie Juchacz nach Deutschland zurück. Auf der Reichskonferenz der neu gegründeten Arbeiterwohlfahrt in Köln 1949 wurde sie wegen ihrer herausragenden Verdienste in der Wohlfahrtspflege zur Ehrenvorsitzenden ernannt. Politisch wurde sie jedoch nicht mehr aktiv. Bis zu ihrem Tod nahm sie an zahlreichen Vorstandssitzungen, Arbeitstagungen und Fachkonferenzen der AWO teil, die sich mittlerweile von der SPD als eigenständige Organisation gelöst hatte. So war Juchacz auch 1955, obwohl bereits durch Krankheit geschwächt, Mitglied der Reichskonferenz der Arbeiterwohlfahrt in München, wo sie ihren letzten Vortrag hielt.
Marie Juchacz starb am 28.1.1956 im Alter von 76 Jahren in Düsseldorf. Ihre Asche wurde im Grab ihrer Schwester Elisabeth Röhl auf dem Südfriedhof in Köln beigesetzt.
An Marie Juchacz erinnern in mehren Städten nach ihr benannte Straßen sowie die Marie-Juchacz-Stiftung der Arbeiterwohlfahrt. 2003 wurde Juchacz mit einer Ein-Euro-Briefmarke der Deutschen Post in der Serie Frauen der deutschen Geschichte geehrt. Außerdem ist der Vorstandssitzungsaal der SPD-Fraktion im Berliner Reichstagsgebäude nach ihr benannt.
Werke
Die Arbeiterwohlfahrt: Voraussetzungen und Entwicklung, Berlin 1924.
Jugendwohlfahrt, Berlin 1924.
Der kommende Friede, Berlin 1919.
Praktische Winke für die sozialdemokratische Frauenbewegung, Berlin 1921.
Literatur
Arbeiterwohlfahrt Bundesverband e.V. (Hg.), 50 Jahre Arbeiterwohlfahrt, Bonn 1969.
Arbeiterwohlfahrt Bundesverband e.V. (Hg.), Beiträge zur Geschichte der Arbeiterwohlfahrt 1919-1994, Bonn 1995.
Arbeiterwohlfahrt Bundesverband e.V. (Hg.), Wanderausstellung Marie Juchacz 1879-1956, Bonn 2004.
Dertinger, Antje, Marie Juchacz, in: Schneider, Dieter (Hg.), Sie waren die ersten. Frauen in der Arbeiterbewegung, Frankfurt am Main 1988, S. 211-230.
Hasenclever, Christa, Marie Juchacz. Gründerin der Arbeiterwohlfahrt. Leben und Werk, Bonn 1979.
Köhler-Lutterbeck, Ursula (Hg.), Frauen im Rheinland, Köln 2001, S. 140-144.
Roehl, Fritz-Michael, Marie Juchacz und die Arbeiterwohlfahrt, Hannover 1961.
Online
Koch, Gabriele, Marie Juchacz (Information auf der Website FemBio.org des FemBio Frauen-Biographieforschung e.V.). [Online]
Miller, Susanne, "Juchacz, Maria", in: Neue Deutsche Biographie 10 (1974), S. 633. [Online]
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Striewski, Jennifer, Marie Juchacz, in: Internetportal Rheinische Geschichte, abgerufen unter: https://www.rheinische-geschichte.lvr.de/Persoenlichkeiten/marie-juchacz/DE-2086/lido/57c92fddc69b11.62149235 (abgerufen am 05.11.2024)