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Martin Gauger war der einzige Jurist in Deutschland, der nach der Machtübernahme durch die Nationalsozialisten den Treueid auf Adolf Hitler (1889-1945) verweigerte. Der überzeugte Pazifist unternahm nach Erhalt seines Musterungsbescheids 1940 einen Suizidversuch und floh danach in die Niederlande. Bei einem Rückkehrversuch wurde er verhaftet und nach 1941 in das KZ Buchenwald überstellt. Von dort wurde er mit einem „Invalidentransport“ in die NS-Tötungsanstalt Pirna-Sonnenstein gebracht und vergast.
Der Sohn des pietistisch geprägten Elberfelder (heute Stadt Wuppertal) Pfarrers Joseph Gauger wuchs als fünftes von insgesamt acht Kindern auf. Seine Mutter stammte aus einer wohlhabenden Wuppertaler Familie. 1924-1930 studierte Gauger Rechts- und Wirtschaftswissenschaft in Tübingen, Kiel, London, Berlin und Breslau. Danach war er Gerichtsreferendar und 1934 Assessor bei der Staatsanwaltschaft und beim Landgericht in Wuppertal.
In jenem Jahr 1934 übernahm Hitler das Amt des Reichspräsidenten, ein Volksentscheid verlieh am 19. August dem Akt Scheinlegalität. Zu denjenigen, die dafür plädierten, die Ämter Reichskanzler und Reichspräsident getrennt bestehen zu lassen, gehörte Martins Vater, Direktor der Evangelischen Gesellschaft in Wuppertal-Elberfeld. Er wollte in der Zeitschrift „Licht und Leben“ so für Gewaltenteilung plädieren. Doch das Manuskript wurde durch Postkontrolle abgefangen, er selber in Schutzhaft genommen und die Zeitschrift befristet verboten.
Das war für Martin Gauger der unmittelbare Anlass, den Treueeid auf Hitler, der für alle Beamten am 20. August gesetzlich verordnet wurde und den er bei der Staatsanwaltschaft Mönchengladbach ableisten sollte, nicht zu leisten. Er wurde – als einziger namentlich bekannter Jurist – sofort entlassen. „Der Verlust meines Amtes geht mir erbärmlich nahe“, schrieb er seinem Bruder. Er sei jedoch froh, keinen „uneingeschränkten Eid der Treue und des Gehorsams gegenüber jemandem geleistet zu haben, der seinerseits an kein Recht und kein Gesetz gebunden ist“. Er hatte die Sorge, sich mit dem Eid zu verpflichten, gegen jemand auch gegen oder ohne Gesetz, nur auf Grund eines Führerbefehls vorgehen zu müssen.
In den folgenden Monaten schrieb er viele vergebliche Bewerbungen und eine juristische Dissertation über „Bekenntnis und Kirchenregiment in ihrer Beziehung zueinander“. Als sie 1936 erschien, wurde sie sofort als „schädliches und unerwünschtes Schrifttum“ beschlagnahmt. In der Dissertation wies er nach, dass eine Kirchenleitung, die Irrlehre verbreite, auch juristisch nicht rechtmäßig sei. Mit dieser Begründung hatte die „Bekennende Kirche“ (BK) auf der (Berlin-)Dahlemer Synode im Oktober 1934 an Stelle der regimetreuen „Deutschen Christen“ eine eigene Kirchenleitung eingesetzt.
Im Januar 1935 erhielt Gauger eine Anstellung in der Rechtsabteilung der Vorläufigen Kirchenleitung der Bekennenden Kirche in Berlin. Als diese im Februar 1936 während der 4. Bekenntnissynode der Deutschen Evangelischen Kirche in Bad Oeynhausen aufgrund theologischer und kirchenpolitischer Auseinandersetzungen auseinander brach, wurde er leitender Jurist des lutherischen Flügels, des „Rates der Evangelisch-Lutherischen Kirche Deutschlands“.
Im März 1936 schrieb er seinen Eltern: „Ich muß sagen, daß ich, wenn ich irgend die Wahl hätte, den Kirchendienst, der ja immer mehr ein kirchenpolitischer Dienst geworden ist, aufgäbe. Das Recht ist für die Auseinandersetzung immer bedeutungsloser geworden.“ Wegen der Eid-Verweigerung sei er aber für Staat und Industrie nicht tragbar. Auf dem kirchlichen Posten könne er auch nicht bleiben: „Die Landeskirchen werden sich meiner ganz gern noch zwei bis drei Jahre bedienen und mich dann mit den besten Segenswünschen auf die Schutthalde werfen.“ Die staatsloyale Haltung der lutherischen Bischöfe wurde vom NS-Staat nicht honoriert.
Als auch der Lutherrat als illegal bezeichnet wurde, meinte Gauger, damit habe sich der Versuch, „mit dem Staat ins Reine zu kommen, offiziell als gescheitert erwiesen“. 1938 erhielt er einen Ruf als Professor an das Christian College in Madras in Indien. Doch er lehnte ab: „Ich kann meinem Posten hier nicht entlaufen, solange ich da überhaupt noch Arbeitsmöglichkeiten habe.“ Als Reichskirchenminister Hanns Kerrl (1887-1941) der Kirchenführerkonferenz im Mai 1939 fünf „Grundsätze für eine den Erfordernissen der Gegenwart entsprechende neue Ordnung der DEK“ zur Unterzeichnung vorlegte, versuchte Gauger vergeblich, das zu verhindern. Nun sah er in seinem Posten keinen Sinn mehr, doch seinen Rücktritt lehnte Bischof Hans Meiser (1881-1956) ab. Durch den Berliner Gefängnispfarrer Harald Poelchau (1903-1972), einen Freund der Familie Gauger, hatte er inzwischen Hermann Stöhr (1898-1940), den Stettiner evangelischen Kriegsdienstverweigerer kennengelernt. Als sein eigener Entschluss, den Kriegsdienst zu verweigern, im Lutherrat bekannt wurde, löste Meiser das Dienstverhältnis.
1939 widersetzte er sich seiner Musterung zum Wehrdienst. Als der Krieg begann, wurde ihm eine Arbeit beim Roten Kreuz in Genf angeboten. Er lehnte diesen Fluchtweg ab. Als er dann im April 1940 den Gestellungsbefehl erhielt, schrieb er: „Ich habe einige Zeit angenommen, ich könnte diesen Krieg ertragen, wenn ich nicht mit der Waffe dienen müsste, aber das ist doch ganz eng und falsch gedacht und eigentlich auch feig.“ Jetzt war er davon überzeugt, „man dürfe überhaupt nicht Kriegsdienst tun; in diesem Krieg wenigstens, weil er kein Verteidigungskrieg ist“. Und er fügte hinzu: „Ich kann diesen Krieg nicht fördern, ich kann nicht helfen, dass das Meer von Blut und Tränen noch andere Länder überflutet.“
Sein Versuch, sich am 25.4.1940 das Leben zu nehmen, scheiterte. Er versteckte sich bei Poelchaus und plante dort eine Flucht über die Niederlande nach England. Am 17. Mai durchschwamm er den Rhein. Am Tag danach besetzte die deutsche Wehrmacht die Niederlande. Da er nicht mehr nach England fliehen konnte, plante er, auf dem Weg über Deutschland mit dem Fahrrad in die Schweiz zu gelangen. Durch Schüsse in die Beine hinderten deutsche Soldaten ihn am 19. Mai an der weiteren Flucht. Seit dem 22.5.1940 wurde er in der Strafanstalt Düsseldorf-Derendorf gefangen gehalten. Dort äußerte er sich über das Verhältnis von Notwehr und Verteidigung: „Nach meiner Meinung kann ein Krieg nur als Verteidigungskrieg gerechtfertigt werden, also in echter Notwehr.“ Die Auswertung des Notwehrbegriffs auf internationale Streitfälle lehnte er ab.
Als er am 9.6.1941 in das KZ Buchenwald verlegt wurde, bemühten sich seine Mutter und sein Bruder Siegfried vergeblich, die lutherischen Bischöfe Meiser und Theophil Wurm (1868-1953) dafür zu gewinnen, sich für einen Prozess einzusetzen, um Martin Gauger aus der Gewalt der Gestapo zu befreien und der Justiz zu unterstellen. In einem Abschiedsbrief an seinen Bruder Siegfried verurteilte er noch einmal den Krieg, verteidigte seine Verweigerung und fügte hinzu: „Wenn einmal der Nebel sich zerteilt hat, in dem wir leben, dann wird man sich fragen, warum nur einige, warum nicht alle sich so verhalten haben.“
Im KZ gelang es Alfred Leikam (1915-1992), einem jungen Christen aus Württemberg, trotz schärfster Isolation einige Male mit Martin Gauger zu sprechen, bevor er am 14.7.1941 mit 90 jüdischen und politischen Häftlingen in die Euthanasie-Anstalt auf dem Sonnenstein bei Pirna gebracht und dort in einer Gaskammer ermordet wurde. Sein Tod wurde mit „Herzschlag“ bekundet. Leikam berichtete später, es sei Gauger schwer gefallen, „seinen Glauben an die Gerechtigkeit Gottes hochzuhalten“. Er habe es auch nicht verstehen können, „dass bis weit in die Kreise der bekennenden Christenheit hinein der Nationalsozialismus immer noch Anerkennung fand, obwohl in der Kriegsführung, in der Handhabung der KZ-Lager und in dem gesamten Rechtsgebahren Niedertracht und Gemeinheit ganz offen zutage traten“.
Seit dem Jahr 2000 ist die frühere „Euthanasie“-Tötungsanstalt eine Gedenkstätte. Eine Stele im Raum neben der Gaskammer in Pirna-Sonnenstein ist Martin Gauger gewidmet. Die Stele mit seinem Foto und seiner Biographie ist eine von insgesamt 22, die an die Menschen erinnern, die dort von den Nationalsozialisten ermordet wurden. Gauger starb als einer von mehr als 1.000 KZ-Häftlingen. „Die Entscheidung konnte mir niemand abnehmen“ heißt der kleine Band, in dem Gaugers Biographie nachzulesen ist. Im September 2005 wurde im evangelischen Gemeindezentrum Pirna-Sonnenstein mit einer Gedenkveranstaltung an den 100 Jahre zuvor geborenen Martin Gauger erinnert. Im Gedenken an ihn verleiht der „Bund der Richter und Staatsanwälte in Nordrhein-Westfalen“ seit 2004 alle zwei Jahre den Martin-Gauger-Preis. Er wird im Rahmen eines landesweiten Schülerwettbewerbs ausgelobt und ist dem Gedanken der Menschenrechte verpflichtet. Die Preisverleihung findet möglichst am internationalen Tag der Menschenrechte am 10. Dezember statt. In Erinnerung an Gauger wurde an seiner letzten Adresse in Wuppertal, Hopfenstaße 6, ein Stolperstein verlegt.
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Schmidt, Klaus, Martin Gauger, in: Internetportal Rheinische Geschichte, abgerufen unter: https://www.rheinische-geschichte.lvr.de/Persoenlichkeiten/martin-gauger/DE-2086/lido/57c6c68c975877.68385323 (abgerufen am 12.10.2024)