Zu den Kapiteln
Auf dem Alten Friedhof in Bonn, unweit der Gräber von August Wilhelm Schlegel und Charlotte Schiller (1766-1826), befindet sich die Grabstelle Adele Schopenhauers, auf der, in italienischer Sprache, an die Tochter der Schriftstellerin Johanna Schopenhauer und Schwester des Philosophen Arthur Schopenhauer (1788-1860) erinnert wird: Qui riposa/ Luise Adelaide Lavinia Schopenhauer, / vissuta 52 anni, / egregia di cuore, d’ingegno, di talento/ ottima figlia, / affettuosa e costante agli amici/ Sostenna con nobilissima dignità d’animo/ mutamenti di fortuna, / e lunga dolorosa malattia/ con pazienza serena, / ebbe fine de‘ mali al 25 Ag. 1849./ Erse il monumento la sconsolata amica/ Sibilla Mertens-Schaaffhausen. (Hier ruht/ Luise Adelaide Lavinia Schopenhauer,/ die 52 Jahre gelebt hat, / herausragend an Gefühl, Begabung und Talent, / beste Tochter, /den Freunden zugeneigt und treu./ Sie ertrug mit edler Geisteshaltung/ Schicksalsschläge/ und eine lange schmerzhafte Krankheit/ mit ruhiger Geduld, /sie erfuhr das Ende der Leiden am 25. Aug. 1849./ Das Denkmal errichtete die untröstliche Freundin/ Sibilla Mertens-Schaaffhausen). Sibylle Mertens-Schaaffhausen fand die richtigen Worte, um die Persönlichkeit und das sicher nicht einfache Leben der Freundin für die Ewigkeit festzuhalten.
Die Familie Schopenhauer kam aus Danzig. Adele wurde jedoch am 12.6.1797 in Hamburg geboren. Die vermögenden und kosmopolitisch gesinnten Eltern Heinrich Floris Schopenhauer (1747-1805) und Johanna Schopenhauer geborene Trosiener (1766-1838) waren evangelisch aber die Religion spielte keine überwiegende Rolle in der Familie. Da sie oft mit dem Sohn Arthur (1788-1860) auf Reisen waren, weilte Adele während ihrer Kindheit häufig bei den mütterlichen Verwandten in Oliwa (heute Stadt Danzig). Nach dem Tod ihres Mannes beschloss Johanna Hamburg zu verlassen. Im September 1806 kam die neunjährige Adele mit der Mutter nach Weimar, kurz vor der Plünderung der kleinen thüringischen Residenzstadt durch napoleonische Truppen. Im Salon der Mutter, der für ein Jahrzehnt ein Zentrum des gesellschaftlichen Lebens in Weimar war, vollzog sich ihre kulturelle Erziehung. Adele lernte Italienisch, Französisch, Englisch, musizierte, malte und fertigte anmutige Scherenschnitte, die sofort als Kunstwerke anerkannt wurden und eifrig von Johann Wolfgang von Goethe (1749-1832) und Fürst Pückler-Muskau (1785-1871) gesammelt wurden. Mit ihrer engen Freundin Ottilie von Pogwisch (1796-1872), der späteren Schwiegertochter Goethes, gründete sie einen weiblichen Leseverein: hier wurden die Klassiker wie auch die modernen Romantiker gelesen.
Nach 1815 brach endgültig die unbeschwerte Welt ihrer Jugend zusammen. Die restaurative Neuordnung der politischen Welt wie der feudalen Gesellschaft nach dem Wiener Kongress ließ in der Residenzstadt eine Kluft zwischen aristokratischer Elite und Bürgertum, dem die Schopenhauers angehörten, entstehen. 1819 zerstörte der Konkurs des Danziger Bankhauses Muhl, in das Johanna das Familienvermögen investiert hatte, jede Hoffnung auf ein sorgloses Leben. Adele war jetzt ohne einen gesellschaftlichen Titel, ohne Kapital, geplagt von verschiedenen psychosomatischen Krankheiten, nicht auffallend schön, sehr gelehrt und oft nicht bereit, die für Frauen geltenden sozialen Normen zu akzeptieren. Mit diesen Voraussetzungen wusste Adele Schopenhauer, dass die Einsamkeit ihr Schicksal bestimmen würde: Mein Los hat eine Niete, denn ich bleibe krank und allein, schrieb sie mit 19 Jahren in ihr Tagebuch. Nach zwei tiefen Liebesenttäuschungen entschied sie sich 1827, Weimar zu verlassen, um für ihre Mutter und sich einen Wohnort für einen Neuanfang zu finden.
Im Januar 1828 traf sie in Köln Sibylle Mertens-Schaaffhausen. Zwischen den beiden hoch kultivierten Frauen entwickelte sich sofort eine innige Freundschaft. Für Adele Schopenhauer wurde zudem die Bindung zu der kongenialen Sibylle zu einem Rettungsanker. Adele überzeugte ihre Mutter an den Rhein umzusiedeln, um in der Nähe der Freundin zu wohnen, was im Sommer 1829 erfolgte. Um den Frauen ein günstiges Domizil zu ermöglichen, schlug Sibylle ihnen vor, ihren Zehnthof in Unkel am Rhein zu beziehen. Dort hielten sich die Schopenhauers in den warmen Sommermonaten auf, während sie im Herbst für die Wintermonate nach Bonn umzogen. Ab 1832 wohnten sie dort ganzjährig in der Wenzelgasse 61.
Die Zeit am Rhein wurde für Adele Schopenhauer eine wichtige Phase, um wieder zu sich zu finden: das milde Klima, aber insbesondere die Liebe und Fürsorge der neuen Freundin verliehen ihr Kraft und Energie. Sie nahm Teil am gesellschaftlichen Leben in Bonn und dem südlich davon gelegenen Plittersdorf (heute Stadt Bonn) in den Kreisen von Sibylle Mertens-Schaaffhausen, aber auch bei der Familie aus‘m Weerth, bei den Boisserées und den Bonner Professoren, zu denen sie schon in Weimar und Jena Kontakten gehabt hatten.
Mich freut hier unter Menschen, die Sie lieben und kennen, zu leben. Dalton und Münchow, auch Schlegel sehe ich oft. Das Universitätsleben in Bonn ist ohne Vergleich angenehmer, als das in Jena, Göttingen u[nd] Halle, die Profeßoren sind freier, ihrer Umgebung ist heiterer und alles noch in Werden, in Blühen, weil Vieles noch neu ist, schrieb Adele Schopenhauer am 14.7.1828 an Johann Wolfgang von Goethe, ihrem geistigen Vater. Joseph Wilhelm Eduard d’Alton (1772-1840) und August Wilhelm Schlegel gehörten zu den engsten Vertrauten der Schopenhauers in der Bonner Zeit. Die Erwähnung von Karl Dietrich von Münchow (1778-1836), der in Jena Professor Extraordinarius für Philosophie mit Lehrauftrag für Mathematik und Astronomie und ab 1818 in Bonn Professor für Astronomie und Leiter des Physikalischen Kabinetts war, zeigt, dass Adele Schopenhauer sich auch für naturwissenschaftliche Phänomene interessierte. Das geht auch aus ihren Briefen hervor. Die Zeit am Rhein sowie die neuen Freundschaften und Bekanntschaften erlaubten ihr auch, Versteinerungen, Antiquitäten und seltene Bücher für Goethes Sammlungen nach Weimar zu senden. Durch ihre Vermittlung kam der große Umriss des Wallrafschen Medusa-Kopfes zum Dichterfürsten, der noch heute im Treppenhaus am Frauenplan zu sehen ist.
Ihre breiten Kenntnisse waren auch der englischen Schriftstellerin Anna Jameson (1797-1860) bekannt, die 1833 auf einer Durchreise in Bonn Mutter und Tochter Schopenhauer traf und sich an sie in ihrem Buch „Visits and Sketches at home and abroad“ erinnert:[1] [Adele Schopenhauer] was one of the most generally accomplished women I ever met. […] distinguished by talents of the highest order and by great originality of character […].
Die Zeit im Rheinland war aber auch geprägt von der prekären finanziellen Situation der Schopenhauers. Die ohnehin begrenzten Ressourcen wurden zunehmend durch Johannas großzügigen Lebensstil in Gefahr gebracht. Adele musste oft Teile ihres geringen eigenen Kapitals opfern, um die Schulden der Mutter abzudecken. Trotzdem bedeutete die Zeit am Rhein auch eine produktive Phase, in der Adele Texte publizierte, allerdings, wie es üblich für viele Frauen der Zeit war, unter Pseudonym oder dem Schleier der Anonymität. Heute sind daher nur wenige ihrer Texte bekannt. 1835 veröffentlichte sie unter dem Namen Alma einige Gedichten in der Zeitschrift „Morgenblatt für gebildete Stände“, im selben Jahr unter dem Namen Adrian van der Venne eine Erzählung in der Zeitschrift „Phönix“. Im Jahr darauf erschien anonym die interessante Novelle „Der Nachfalter und das Sonntagskind. Ein Märchen neuer Zeit“ für das elegante „Rheinische Taschenbuch für das Jahr 1837“. Es handelt sich um ein höchst visionäres Märchen nach dem Vorbild von E.T.A. Hoffmann (1776-1822) und Ludwig Tieck (1773-1853), in dem das Geburtshaus Ludwig van Beethovens in der Bonngasse eine wichtige Rolle spielt.
Die begonnene Freundschaft mit Annette Droste-Hülshoff (1797-1848), die mehrmals Gast in Sibylles Anwesen in Plittersdorf und Bonn war, dürfte Einfluss auf diese Entwicklung gehabt haben. Die drei gleichaltrigen Frauen Adele, Sibylle und Annette fühlten sich, trotz einiger Missverständnisse, stark verbunden.
Ende 1836 bekam die kranke, gealterte und hoch verschuldete Johanna eine Lebensrente aus dem Großherzoglichen Haus Sachsen-Weimar zugestanden. Im September 1837 siedelten die Schopenhauers nach Jena um, wo Johanna im April 1838 starb. Mit dem Tod der Mutter sah Adele Schopenhauers sich auch mit einer neuen Freiheit konfrontiert: sie war 41 Jahre alt, ungebunden, aber auch wieder allein und ziellos. Sie dachte zuerst an eine Ausbildung als Dekorateurin und Arabesken-Malerin. Einige ihrer Werke wurden verkauft, aber Gesundheitsprobleme hinderten sie an langen Arbeitssitzungen und zwangen sie zu Kurzeiten. Sie wandte sich also der Schriftstellerei zu. Der Verlag Brockhaus publizierte ihre kleine Märchensammlung „Haus-Wald und Feldmärchen“ (1844) und ihren historischen Roman „Anna“ (1845); beides wurde gut rezensiert.
1844 entschied sie sich, die seit zwei Jahren verwitwete Freundin Sibylle Mertens-Schaaffhausen in Italien zu besuchen. Mit ihr reiste sie von Genua nach Pisa, Rom, Albano, Neapel und Ariccia. Sie wohnte lange in Florenz, wo sie forschte und Material sammelte, um eine Stadtbeschreibung besonders für reisende Frauen zu publizieren. In Italien konnte Adele Schopenhauer ihre verschiedenen Leidenschaften vereinigen, indem sie als Korrespondentin für einige deutsche Zeitschriften über Ausstellungen und Werke von zeitgenössischen Künstlern berichtete oder Novellen mit kunsthistorischem Hintergrund lieferte. Ihr letzter Roman „Eine dänische Geschichte“ (1848) hat einen dänischen Maler als Protagonisten. Die vielen realistischen Details der hier beschriebenen Landschaft konnte sie durch die befreundete dänische Malerkolonie in Rom gewinnen.
Geschwächt von einem Ausbruch ihrer Unterleibsleiden kam sie in Mai 1848 nach Bonn, wo sie bei der Freundin Sibylle wohnte, die sie hingebungsvoll pflegte. Nach einer kurzen Wiedergenesung starb Adele Schopenhauer am 25.8.1849. In Erinnerung an ihre glücklichen Tage in Italien verfasste Freundin Sibylle das eingangs zitierte Epitaph in italienischer Sprache.
Adele Schopenhauer wurde drei Tage nach ihrem Tod beerdigt: es war der 28.8.1849 und ganz Deutschland feierte den 100. Geburtstag ihres geistigen Vaters Johann Wolfgang von Goethe. Auch Walther von Goethe (1818-1885), Enkel des Dichterfürsten und ihr Patenkind, gedachte der Koinzidenz in dem ihr gewidmeten Nekrolog, und wünschte: Möge ein weihevoller Willkommen des „alten Herrn“ […] ihr den Eingang droben verschönt haben.
In Bonn und Minden erinnern Adele-Schopenhauer-Wege an die bemerkenswerte Frau, der die Klassik Stiftung Weimar 2019 eine Ausstellung widmete.
Quellen
Eine Übersicht zu Quelle für Adele Schopenhauers Leben sowie ein Werk- und Literaturverzeichnis bei Häfner/Fabbri 2019 und Steidele 2010, S. 286-299.
Werke (Auswahl)
Haus-, Wald- und Feldmärchen, Leipzig 1844.
Anna. Ein Roman aus der nächsten Vergangenheit, 2 Bände, Leipzig 1845.
Eine dänische Geschichte, Braunschweig 1848. Posthum erschienen: Tagebücher der Adele Schopenhauer, hg. v. Kurt Wolff, 2 Bände, Leipzig 1909.
Gedichte und Scheerenschnitten, hg. v. H. Heinrich Houben und Hans Wahl, Leipzig 1920.
Tagebuch einer Einsamen, hg. v. H. Heinrich Houben, Leipzig 1921
Florenz. Ein Reiseführer mit Anekdoten und Erzählungen, 1847/48; hg. v. Waltraud Maierhofer, Weimar 2007.
Literatur (Auswahl)
Büch, Gabriele, Alles Leben ist Traum. Adele Schopenhauer. Eine Biographie, Berlin 2002.
Häfner Claudia/Fabbri, Francesca (Hg.), Adele Schopenhauer. Unbekanntes aus ihrem Nachlass in Weimar, Wiesbaden 2019.
Fabbri, Francesca, „Kenst Du noch einen Schattenriß?" Adele Schopenhauer zwischen Romantik und Vormärz, in: Jahrbuch des Freien Deutschen Hochstifts 2018, S. 221-263.
Fabbri, Francesca, Der Nachtfalter und das Sonntagskind. Adele Schopenhauers Märchen neuerer Zeit, in: „Jetzt kommen andre Zeiten angerückt“. Schriftstellerinnen der Romantik, hg. v. Martina Wernli, Stuttgart 2022 Maurer, Doris, Johanna und Adele Schopenhauer (1766-1838 und 1797-1849), in: Das literarische Weimar - das literarische Bonn. Acht Porträts maßgeblicher Frauen, Bonn 2019, S. 112-131.
Steidele, Angela, Geschichte einer Liebe. Adele Schopenhauer und Sibylle Mertens, Berlin 2010.
Online
https://www.weimar-lese.de/persoenlichkeiten/s/schopenhauer-adele/adele-schopenhauer/, abgerufen am 6.10.2022 [online]
https://blog.klassik-stiftung.de/goethe-und-adele-schopenhauer/, abgerufen am 6.10.2022 [online]
http://www.scherenschnitt.org/schopenhauer/, abgerufen am 6.10.2022 [online]
Bitte geben Sie beim Zitieren dieses Beitrags die exakte URL und das Datum Ihres Besuchs dieser Online-Adresse an.
Fabbri, Francesca, Adele Schopenhauer, in: Internetportal Rheinische Geschichte, abgerufen unter: https://www.rheinische-geschichte.lvr.de/Persoenlichkeiten/adele-schopenhauer-/DE-2086/lido/63984845331575.08173206 (abgerufen am 09.11.2024)