Adolph Diesterweg

Schulpädagoge (1790-1866)

Horst F. Rupp (Würzburg)

Adolph Diesterweg, Porträt.

Fried­rich Adolph Wil­helm Dies­ter­weg präg­te als Schul­päd­ago­ge zu Be­ginn des 19. Jahr­hun­derts ma­ß­geb­lich das Sys­tem der Aus­bil­dung von Volks­schul­leh­rern in Se­mi­na­ren im Rhein­land.

Ge­bo­ren am 29.10.1790 in Sie­gen als sieb­tes Kind des Jus­tiz­amt­man­nes Karl Fried­rich Dies­ter­weg (1754-1812) und des­sen Frau Ca­tha­ri­na Char­lot­te (1759-1798) ge­bo­re­ne Dres­ler, be­gann er 1808 ein ma­the­ma­tisch-na­tur­wis­sen­schaft­lich ori­en­tier­tes Stu­di­um in Her­born, Hei­del­berg und Tü­bin­gen. 1813 hei­ra­te­te er Sa­bi­ne Ens­lin (1794-1866). Aus der Ehe gin­gen neun Kin­der her­vor.

Durch die Wir­ren der na­po­leo­ni­schen Krie­ge ver­schlug es ihn eher zu­fäl­lig in den Leh­rer­be­ruf. Über Sta­tio­nen in Frank­furt/Main (1813-1818) und (Wup­per­tal-)El­ber­feld (1818-1820) kam er 1820 auf die Di­rek­to­ren­stel­le am neu ge­schaf­fe­nen Leh­rer­se­mi­nar in Mo­ers. Vom Geist der Auf­klä­rung und des 18., des „päd­ago­gi­schen Jahr­hun­derts" so­wie der preu­ßi­schen Re­for­m­epo­che ge­prägt, ent­fal­te­te er in Mo­ers, und ab 1832 in Ber­lin, als Leh­rer, Leh­rer­bild­ner, theo­re­ti­scher Päd­ago­ge und Es­say­ist in kri­ti­scher Zeit­ge­nos­sen­schaft ei­ne un­ge­mein brei­ten­wirk­sa­me prak­tisch-päd­ago­gi­sche und päd­ago­gisch-pu­bli­zis­ti­sche Tä­tig­keit, die ihn in­ner­halb we­ni­ger Jah­re zur be­wun­der­ten Leit­fi­gur ins­be­son­de­re der nach ge­stei­ger­tem So­zi­al­pres­ti­ge stre­ben­den Volks­schul­leh­rer wer­den ließ.

 

Aber die Ent­wick­lung der po­li­ti­schen Ver­hält­nis­se in Deutsch­land und spe­zi­ell in Preu­ßen er­wies sich sei­nen pro­gres­siv-li­be­ra­len Ide­en als nicht sehr güns­tig. Die ab 1840 mit der Über­nah­me der preu­ßi­schen Re­gent­schaft durch Fried­rich Wil­helm IV. (Re­gie­rungs­zeit als Kö­nig bis 1858, ge­stor­ben 1861) ver­stärkt ein­set­zen­de staat­li­che Re­stau­ra­ti­on und schlie­ß­lich Re­ak­ti­on und ihr Zu­sam­men­spiel mit der pro­tes­tan­ti­schen Neo­or­tho­do­xie lie­ßen sei­ne päd­ago­gi­schen und po­li­ti­schen Vor­stel­lun­gen mehr und mehr ins ge­sell­schaft­li­che Ab­seits ge­ra­ten. 1847 wur­de er schlie­ß­lich in den vor­läu­fi­gen, 1850 in den end­gül­ti­gen Ru­he­stand ver­setzt, nach­dem es im Zu­ge der 1848er Re­vo­lu­ti­on für kur­ze Zeit so aus­ge­se­hen hat­te, als ob ei­ne für Dies­ter­weg und sei­ne Ide­en güns­ti­ge Wen­dung zu li­be­ra­len, de­mo­kra­ti­schen und kon­sti­tu­tio­nell ab­ge­si­cher­ten Staats­ver­hält­nis­sen mög­lich wä­re.

In den 1850er und 60er Jah­ren muss­te Dies­ter­weg den für ihn bit­te­ren Sie­ges­zug kon­ser­va­tiv-re­ak­tio­nä­rer Po­li­tik in Staat und Schu­le er­le­ben. Im Be­reich der Schu­le ver­kör­per­ten für ihn die drei „preu­ßi­schen Re­gu­la­ti­ve", nach ih­rem Au­tor, dem preu­ßi­schen Staats­rat Fer­di­nand Stiehl (1812-1878) auch die „Stiehl­schen Re­gu­la­ti­ve" (1854) ge­nannt, den Geist be­zie­hungs­wei­se auch Un­geist der Zeit. Dem Kampf ge­gen die­se Re­gu­la­ti­ve und das sie prä­gen­de Welt­bild galt sei­ne gan­ze Kraft bis zu sei­nem Le­bens­en­de. Seit 1858 wirk­te er als Ab­ge­ord­ne­ter im preu­ßi­schen Land­tag in die­sem Sin­ne. Ei­ne durch­grei­fen­de Än­de­rung der Ver­hält­nis­se zu er­le­ben war ihm aber bis zu sei­nem Tod am 7.7.1866 in Ber­lin nicht ver­gönnt.

Dies­ter­weg hat­te sich als jun­ger Leh­rer an der Mus­ter­schu­le in Frank­furt/Main in­ten­siv auch mit der päd­ago­gi­schen Theo­rie der Zeit aus­ein­an­der­zu­set­zen. Er kam in Kon­takt mit dem da­mals die päd­ago­gi­sche Sze­ne in Deutsch­land be­herr­schen­den Pes­ta­loz­zia­nis­mus. Und in den we­ni­gen Jah­ren in El­ber­feld hat­te er durch die Be­geg­nung mit dem Ro­chow-Schü­ler Jo­hann Fried­rich Will­berg (1766-1846) auch die Ge­le­gen­heit, das Den­ken der rous­seauis­tisch be­ein­fluss­ten Phil­an­thro­pen in sei­ne Päd­ago­gik zu in­te­grie­ren. So ver­stand er sich als ein auf na­tu­ra­lis­ti­scher Grund­la­ge ste­hen­der Päd­ago­ge, der dem Zög­ling Raum bie­ten woll­te, sich in sei­nen An­la­gen zu ent­fal­ten, oh­ne mit künst­li­chen Ein­grif­fen die­sen mehr or­ga­nisch-bio­lo­gisch ge­dach­ten Ent­wick­lungs­pro­zess der Er­zie­hung und Bil­dung zu stark len­ken und steu­ern zu wol­len. Klar schä­len sich in die­sen Jah­ren auch schon ei­ni­ge wei­te­re zen­tra­le Be­stand­tei­le sei­ner Päd­ago­gik her­aus, wie et­wa sein be­tont for­ma­ler Bil­dungs­be­griff, das Prin­zip der Selbst­tä­tig­keit des Schü­lers/der Schü­le­rin und des in­duk­ti­ven Lehr­ver­fah­rens, die Be­to­nung der In­di­vi­dua­li­tät des Leh­rers und sei­ner Me­tho­de so­wie die Wert­schät­zung ei­nes dia­lo­gi­schen Un­ter­richts.

Ab 1820 sah er sich als preu­ßi­scher Se­mi­nar­di­rek­tor der neu in­stal­lier­ten se­mi­na­ris­ti­schen Leh­rer­bil­dung in Mo­ers ver­stärkt in der Pflicht, sein päd­ago­gi­sches Den­ken auch pu­bli­zis­tisch aus­zu­wei­sen. In Bü­chern und Auf­sät­zen, in Ent­wür­fen für die preu­ßi­sche Un­ter­richts­ver­wal­tung und schlie­ß­lich auch als Her­aus­ge­ber und Au­tor der von ihm be­grün­de­ten „Rhei­ni­schen Blät­ter für Er­zie­hung und Un­ter­richt" (ab 1827) ent­fal­te­te er ei­ne in der Brei­te der deut­schen Leh­rer­schaft un­ge­mein wir­kungs­rei­che und pro­fi­lier­te öf­fent­li­che Tä­tig­keit, die in dem von ihm 1835 erst­mals ein­bän­dig, dann ab der zwei­ten Auf­la­ge 1838 zwei­bän­dig her­aus­ge­ge­be­nen Werk „Weg­wei­ser zur Bil­dung für (deut­sche) Leh­rer" ei­nen ge­wis­sen Hö­he­punkt fand.

Ei­ne be­son­de­re Be­deu­tung kam in sei­nem päd­ago­gi­schen Den­ken und sei­ner Bio­gra­phie auch der christ­li­chen Re­li­gi­on zu; sie be­nö­tig­te er vor al­lem zur an­thro­po­lo­gi­schen wie auch ethi­schen Fun­die­rung sei­ner Päd­ago­gik. Sei­ne Re­li­gi­on ist da­bei deut­lich auf­klä­re­risch ge­prägt: Ver­nunft und Mo­ral ste­hen im Zen­trum. Ur­sprüng­lich war sei­ne Re­li­gi­on je­doch eher re­for­miert-kon­fes­sio­na­lis­tisch, am Hei­del­ber­ger Ka­te­chis­mus aus­ge­rich­tet. Spä­te­re Ein­flüs­se brach­ten ihn aber schlie­ß­lich in ei­ne auf­ge­klärt-ra­tio­na­lis­ti­sche Glau­bens­rich­tung, die dann in dem von ihm ab cir­ca 1817 pu­bli­zier­ten Schrif­ten greif­bar wird und die ge­prägt ist von ei­ner Aus­ein­an­der­set­zung mit der rhei­ni­schen Er­we­ckungs­be­we­gung und ih­rer Fi­xie­rung auf die Sün­den- und Prä­des­ti­na­ti­ons­the­ma­tik. So schreibt er et­wa in sei­nen Ta­ge­buch­auf­zeich­nun­gen in El­ber­feld: „Der Fun­da­men­tal­satz bib­li­scher Theo­lo­gen: >Dass der Mensch von Na­tur aus nichts nüt­ze und zu al­lem Bö­sen ge­neigt sei< - darf in der Er­zie­hung nicht be­rück­sich­tigt wer­den. Er wür­de sehr ver­derb­lich wir­ken." Und die Haupt­ten­denz des Chris­ten­tums fin­det er „in der Er­stre­bung der höchs­ten Sitt­lich­keit, des mo­ra­li­schen Ide­als". Chris­ten­tum und Phi­lo­so­phie lie­fern ihm bei­de „das­sel­be Re­sul­tat, das­sel­be Ge­setz, das dem Men­schen ins Herz ge­schrie­ben ist".

Auf der Grund­la­ge ei­nes so aus­ge­rich­te­ten Re­li­gi­ons­ver­ständ­nis­ses for­mier­te sich auch sei­ne Kon­zep­ti­on des Fa­ches Re­li­gi­ons­un­ter­richt, wo­bei zwei un­ter­schied­li­che Va­ri­an­ten fest­zu­stel­len sind: In Ver­öf­fent­li­chun­gen bis 1820 hat­te er die An­schau­ung ver­tre­ten, dass die Re­li­gi­on kei­nen se­pa­ra­ten Fach­un­ter­richt be­nö­ti­ge, son­dern dass sie als ei­ne Art Un­ter­richt­s­prin­zip in al­lem üb­ri­gen Un­ter­richt prä­sent sein kön­ne. In der päd­ago­gi­schen Skiz­ze „Au­gust und Wil­helm" (ver­mut­lich 1817 ent­stan­den) lässt er den ide­al ge­schil­der­ten Leh­rer sei­ne ei­ge­ne re­li­gi­ons­di­dak­ti­sche Theo­rie ver­tre­ten: „Auf den münd­li­chen, zu ge­wis­sen Stun­den re­gel­mä­ßig wie­der­keh­ren­den Re­li­gi­ons­un­ter­richt hielt er nicht viel … Er selbst hat­te an sich die trau­ri­ge Er­fah­rung ma­chen müs­sen, dass durch zu ge­naue Zer­glie­de­rung der Re­li­gi­ons­be­grif­fe der echt re­li­giö­se Geist leicht ver­scheucht wer­de."

Mit sei­nem Ein­tritt in das preu­ßi­sche Schul- und Leh­rer­bil­dungs­sys­tem ab 1820 voll­zog sich bei ihm je­doch ei­ne Art rea­lis­ti­sche Wen­dung. Nun kann er ganz ex­pli­zit ein Fach Re­li­gi­ons­un­ter­richt an der öf­fent­li­chen Schu­le ver­tre­ten: „… wer soll­te es nicht er­ken­nen, dass zur Re­li­gio­si­tät auch ein be­stimm­ter, kla­rer und aus­führ­li­cher Un­ter­richt über Re­li­gi­on ge­hö­re! … Die Er­kennt­nis Got­tes (kommt) aus dem Un­ter­richt über Gott." Bei­de Mo­del­le von Re­li­gi­ons­un­ter­richt ru­hen je­doch auf dem glei­chen auf­klä­re­risch ge­präg­ten Re­li­gi­ons­be­griff.

Nach dem er­zwun­ge­nen Aus­schei­den aus dem Amt des Se­mi­nar­di­rek­tors 1847 kehr­te Dies­ter­weg zu sei­ner ur­sprüng­lich ver­tre­te­nen Kon­zep­ti­on der Eli­mi­nie­rung ei­nes ei­ge­nen Fa­ches Re­li­gi­on zu­rück. Re­li­gi­on wird er­neut zum Un­ter­richt­s­prin­zip er­klärt, und „Je­der Leh­rer (wird) – ein Re­li­gi­ons­leh­rer". Da­ne­ben kann er aber auch die Kon­zep­ti­on ei­nes „All­ge­mei­nen Re­li­gi­ons­un­ter­richts" ver­tre­ten, die kirch­lich-kon­fes­sio­nel­le Ele­men­te aus dem Ka­non der Un­ter­richts­in­hal­te ver­bannt hat. Die evan­ge­li­sche Kir­che, die er von sei­ner re­li­giö­sen Po­si­ti­on her pri­mär als ei­ne Er­zie­hungs­in­stanz ver­stan­den wis­sen woll­te, hat­te durch ihr Bünd­nis mit dem re­ak­tio­när ten­die­ren­den Staat sich für ei­ne dog­ma­tisch-pie­tis­tisch aus­ge­rich­te­te Form des Re­li­gi­ons­un­ter­richts und der Schu­le ins­ge­samt ent­schie­den, wie Dies­ter­weg dies in den Stiehl­schen Re­gu­la­ti­ven zu er­ken­nen mein­te. Die­se Ge­gen­po­si­ti­on zu ei­nem eng kon­fes­sio­na­lis­ti­schen Re­li­gi­ons- und Kir­chen­ver­ständ­nis war nicht zu­letzt auch die Ur­sa­che für sei­nen Kon­flikt mit dem re­ak­tio­nä­ren preu­ßi­schen Staat, da das Bünd­nis von Thron und Al­tar Teil der preu­ßi­schen Staats­dok­trin war.

Werke

Sämt­li­che Wer­ke, be­arb. von Ruth Ho­hen­dorf, Ber­lin 1956-1990 (Abt. 1, bis ein­schl. Band 17) be­zie­hungs­wei­se Neu­wied. 1998-2003 (Abt. 2, bis ein­schl. Band 23).

Literatur

Bautz, Fried­rich Wil­helm, Ar­ti­kel „Dies­ter­weg, Adolph", in: Bio­gra­phisch-Bi­blio­gra­phi­sches Kir­chen­le­xi­kon 1 (1990), Sp. 1294-1296.
Bloth, Hu­go G., Adolph Dies­ter­weg, Hei­del­berg 1966.
Gei­ß­ler, Gert/Rupp, Horst F., Dies­ter­weg zwi­schen For­schung un­d My­thos. Tex­te und Do­ku­men­te zur For­schungs­ge­schich­te, Neu­wied u.a. 1996.
Ho­hen­dorf, Gerd/Rupp, Horst F. (Hg.), Päd­ago­gik – Leh­rer­bil­dung – Bil­dungs­po­li­tik, Wein­heim 1990.
Rupp,Horst F., Fried­rich Adolph Wil­helm Dies­ter­weg. Päd­ago­gik und Po­li­tik, Göt­tin­gen/Zü­rich 1989.
Uni­ver­si­tät-Ge­samt­hoch­schu­le Sie­gen (Hg.): Adolph Dies­ter­weg. Wis­sen im Auf­bruch. Ka­ta­log zur Aus­stel­lung zum 200. Ge­burts­tag, Wein­heim 1990.

Online

Reb­le, Al­bert, Ar­ti­kel „Dies­ter­weg, Adolf", in: Neue Deut­sche Bio­gra­phie 3 (1957), S. 666-667. [On­line]

Büste Adolph Diesterwegs, 1892, Bildhauer: Albert Wolff (1814-1892). (Grafschafter Museum im Moerser Schloss)

 
Zitationshinweis

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Rupp, Horst F., Adolph Diesterweg, in: Internetportal Rheinische Geschichte, abgerufen unter: https://www.rheinische-geschichte.lvr.de/Persoenlichkeiten/adolph-diesterweg/DE-2086/lido/57c693f8891fb8.76837553 (abgerufen am 14.12.2024)