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Fritz Gräbe wurde als Geschäftsführer und Bauingenieur einer Solinger Baufirma im besetzten Wolhynien (westliche Ukraine) 1941/1942 Zeuge der Massenerschießungen an Juden. Er entschloss sich zum Schutz „seiner" Juden, die er teilweise mit falschen Papieren ausstattete und rettete. Nach 1945 verfasste er eine Zeugenaussage für den Nürnberger Hauptkriegsverbrecherprozess. Da er politisch angefeindet wurde, konnte er in seiner Heimat nicht mehr Fuß fassen und wanderte 1948 in die USA aus.
Hermann Friedrich Gräbe wurde am 19.6.1900 in Gräfrath, damals Kreis Solingen, als Sohn eines Webers geboren und evangelisch getauft. Er besuchte die Volksschule, lernte Stahlwarenfacharbeiter, arbeitete zwischenzeitlich als Versicherungsvertreter und bildete sich zum Bauingenieur weiter. 1924 heiratete er die Weberin Elisabeth Stader nicht in seiner Gräfrather Kirche, die einen deutschnationalen Pfarrer hatte, sondern in der Kirche Ketzberg, deren Pfarrer Dr. Hans Hartmann linkssozialistisch und pazifistisch eingestellt war. Eine nächste politische Entscheidung vollzog er erst mit seinem Eintritt in die NSDAP im September 1931, mit der er Mitte der 1930er Jahre brach. 1938, inzwischen bei der Firma Josef Jung in Solingen-Wald angestellt, wurde Gräbe mit einem Bauabschnitt des Westwalls bei Jünkerath beauftragt. Im August/September 1941 erhielt er den Auftrag der Organisation Todt, im besetzten sowjetischen Gebiet Ausbesserungs- und Reparaturaufgaben durchzuführen. Seine Hauptniederlassung richtete er in Sdolbunow (Wolhynien) ein, Filialen wurden in Rowno, Dubno, Misotsch, Ostrog, Poltawa und an anderen Orten errichtet.
Sein Schlüsselerlebnis war die Erfahrung der Rechtlosigkeit der Juden im deutsch besetzten Territorium. Aus seiner christlichen Erziehung heraus verschaffte er zahlreichen Juden in seinen Firmenfilialen Arbeit, schützte sie und versorgte sie aus eigenem Antrieb mit medizinischen Mitteln. Als im Juli 1942 das Gerücht eines bevorstehenden Pogroms im Ghetto von Rowno an ihn herangetragen wurde, erreichte er in Verhandlungen mit dem Stabsleiter des Gebietskommissars von Rowno, Beck, die schriftliche Erlaubnis zur Überführung seiner jüdischen Beschäftigten nach Sdolbunow. Tatsächlich begann der Pogrom früher als angekündigt. In der Nacht vom 13. zum 14.7.1942 bewachte Gräbe mit einigen führenden Mitarbeitern die Unterkunft seiner Beschäftigten im Ghetto Rowno. In der Frühe des 14. Juli zog er an der Spitze seiner 73 jüdischen Mitarbeiter, die Maschinenpistole in der rechten, den Erlaubnisschein in der linken Hand, zu Fuß aus dem umstellten Ghetto in das 12 Kilometer entfernte Sdolbunow. Unterwegs schlossen sich seinem Zug jüdische Flüchtlinge an, die sich in den Feldern und im Gebüsch am Wegesrand versteckt gehalten hatten.
Ein Vierteljahr später fanden die großen Pogrome statt, mit denen die verbliebenen Ghettos in Wolhynien aufgelöst und die Juden in Massenschießungen ermordet wurden. Gräbe selbst war Zeuge der Pogrome in Dubno (5.10.1942), Sdolbunow (13.10.1942) und Ostrog (14.10.1942). Um weitere Zeugen für diese Verbrechen zu haben, nahm er vertrauenswürdige deutsche und polnische Angestellte mit zu den Tatorten. Juden, die Gräbe mit ‚arischen’ Papieren ausgestattet hatte oder die er in illegalen Schein-Filialen, etwa in Poltawa, untergebracht hatte, überlebten die Massaker, die Wolhynien im Nazi-Jargon „judenrein" zurückließen. Seither beschäftigte Gräbe vermehrt polnische Arbeiter und Angestellte, durch die er auch in Kontakt mit der im Untergrund wirkenden bürgerlichen „Armee im Lande" (Armija Krajowa, AK) kam. Im Oktober 1943 gelang Gräbe die Befreiung des Militärkommandeurs der AK in Wolhynien, Kazimierz Bessendowski, und von rund 50 weiteren AK-Illegalen aus dem Gefängnis des Sicherheitsdienstes in Rowno. Wie die jüdischen, so bestätigten auch die polnischen Beschäftigten nach 1945 Gräbes menschliche Grundhaltung.
Wegen der schnell vorrückenden Roten Armee im Süden der Sowjetunion zog Gräbe mit einem Sonderzug nach Westdeutschland, wo er sich im September 1944 bei Aachen von den alliierten Truppen einholen ließ. Er stellte sich der US Army War Crimes Agency als Zeuge zur Ermittlung der deutschen Kriegsverbrechen in Wolhynien zur Verfügung. Seine Aussage für den Hauptkriegsverbrecherprozess in Nürnberg über die Pogrome in Rowno und in Dubno fanden Eingang in das Schlussplädoyer des britischen Staatsanwalts Sir Hartley Shawcross und in zahlreiche Dokumentationen zur NS-Zeit. Da er nach Bekanntwerden seiner Aussage Anfeindungen und Morddrohungen erhielt, entschloss er sich 1948, mit seiner Familie in die USA zu emigrieren. Dort gelang es ihm, eine Baufirma zu errichten. Er schloss sich der lutherischen Kirchengemeinde, einer Freimaurerloge und dem deutschen Klub in San Francisco an, den er auch eine Zeitlang leitete. Als er sich 1954 einbürgern ließ, amerikanisierte er seinen Namen zu Herman F. (Frederick) Graebe.
Für seine Rettungstaten im Zweiten Weltkrieg wurde er 1965 von Yad Vashem als einer der ersten Deutschen als „Gerechter unter den Völkern" geehrt. Nachdem der neue, nationalsozialistisch vorbelastete Verteidiger des Gebietskommissars von Sdolbunow, Georg Marschall, das Revisionsverfahren des zuvor zu lebenslänglicher Haft verurteilten Mandanten durchgesetzt hatte, in dem er Gräbe und elf überlebende Zeugen mit fragwürdigen Meineidsverfahren überzog, wurde Marschalls Strafe auf fünf Jahre Haft herabgesetzt. Gräbe musste dadurch seine Glaubwürdigkeit in Zweifel gezogen sehen. Besonderen Anteil daran hatte ein Artikel des Magazins „Der Spiegel" von Ende 1965, der wesentlich von dem Verteidiger Marschalls beeinflusst worden war und mehrere Fälschungen enthielt. Bis zu seinem Tod am 17.4.1986 kehrte Gräbe nicht mehr nach Deutschland zurück, während die bürgerliche Öffentlichkeit und die Rechtsextremisten sich weiterhin auf den „Spiegel"-Artikel beriefen.
Das Blatt wendete sich in der Folge von Steven Spielbergs Film „Schindler’s Liste", als auch nach lokalen Judenrettern gefragt wurde. Mit Hilfe von Zeugenaussagen und Zeugenschriften aus Deutschland, Luxemburg, Polen, Israel und den USA konnte nun Gräbes Rettungstätigkeit erstmals in breiter Form dokumentiert werden. Auch der „Spiegel" nahm nun von seinem problematischen Artikel Abstand. Zu Gräbes zehnten Todestag wurde 1996 eine Gedenktafel an seinem Wohnhaus in Solingen-Gräfrath angebracht, und zu seinem 100. Geburtstag wurde das Gräfrather Jugendzentrum nach Fritz Gräbe benannt. Damit wurde Gräbe wenigstens posthum auch in seiner Heimat rehabilitiert.
Quellen
Hofer, Walter, Der Nationalsozialismus, Dokumente, Frankfurt a.M. 1957.
Literatur
Huneke, Douglas K., In Deutschland unerwünscht. Hermann Gräbe. Biographie eines Judenretters, Lüneburg 2002.
Roman, Jozef, Eksposytura „Wschód Wolyn", in: Zycie na krawedzi. Wspomnienia zolnierzy antyhitlerowskiego wywiadu. Warschau 1980, S. 220-238.
Sassin, Horst, Gräbes Liste von 1942: Rettung aus einem Pogrom in Rowno, in: Die Heimat [Solingen] 21 (2005), S. 68-71.
Sassin, Horst, Fritz Gräbe. Ein Solinger Bauingenieur im wolhynischen Holocaust, in: Zeitschrift des Bergischen Geschichtsvereins 97 (1999), S. 205-256.
Spector, Shmuel, The Holocaust of the Volhynian Jews, 1941-1944, Jerusalem 1990.
Online
The Witness to Murder Who Decided to Act (Artikel in englischer Sprache über Hermann Friedrich Gräbe auf der Homepage The Righteous Among The Nations). [Online]
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Sassin, Horst, Fritz Gräbe, in: Internetportal Rheinische Geschichte, abgerufen unter: https://www.rheinische-geschichte.lvr.de/Persoenlichkeiten/fritz-graebe/DE-2086/lido/57c6d57e032fd6.00418826 (abgerufen am 03.12.2024)