Zu den Kapiteln
Bereits zu Lebzeiten galt Oswald von Nell-Breuning als „Nestor der Katholischen Soziallehre“, der sozialwissenschaftliche, ökonomische, juristische, philosophische und theologische Kompetenzen vereinte.
Er wurde am 8.3.1890 als Sohn des Weingutbesitzers Arthur von Nell (1857-1939) und seiner Frau Bernharda von Breuning (1862-1933) in Trier geboren. Bevor der Vater sich seit 1895 ganz der Bewirtschaftung des Gutes St. Matthias, das er von seinem Vater geerbt hatte, widmete, hatte der promovierte Jurist als Erster Beigeordneter der Stadt Trier amtiert. Die Eltern des jungen Oswald hätten gerne gesehen, dass der Sohn den Familienbetrieb weiterführte; dieser jedoch wünschte sich schon früh, Priester zu werden.
Nach dem Abitur am humanistischen Trierer Friedrich-Wilhelm-Gymnasium, das schon Karl Marx besucht hatte, studierte er zunächst vier Semester lang Mathematik und Naturwissenschaften in Kiel, München, Straßburg und Berlin. 1910 nahm er das Studium der Philosophie und Theologie in Innsbruck auf, um ein Jahr später in das zweijährige Noviziat der Jesuiten im niederländischen ΄s-Heerenberg einzutreten (der Jesuitenorden war in Deutschland von 1872 bis 1917 verboten). Vom Jesuitenorden erhoffte er sich die Möglichkeit persönlicher Reifung und charakterlicher Durchformung. Dem Noviziat schloss sich das Philosophiestudium an der Ordenshochschule im niederländischen Valkenburg an, das jedoch durch seinen Dienst als Sanitäter bei einem Malteserlazaretttrupp im Ersten Weltkrieg zwischen 1914 und 1916 unterbrochen wurde. 1916 wurde er wegen einer Erkrankung als nicht mehr kriegsverwendungsfähig entlassen. Es folgte eine vierjährige Tätigkeit als Internatserzieher am Jesuitenkolleg „Stella Matutina“ im österreichischen Feldkirch. 1921 wurde von Nell-Breuning zum Priester geweiht. Eine Gemeinde hat er zeitlebens nicht betreut; der Orden sah ihn für eine wissenschaftliche Laufbahn vor.
Weitere Studien an der Päpstlichen Universität Gregoriana in Rom schlossen sich an. Von 1923 bis 1926 war er Mitglied einer Rednergruppe von Jesuiten, die in knapp 100 Städten mit religiös-wissenschaftlichen Vorträgen in Kirchen auftrat. 1926 schickte der Orden ihn nach Münster zu Joseph Mausbach (1861-1931) und Heinrich Weber (1888-1946), bei denen er 1928 über die „Grundzüge der Börsenmoral“ promovierte, womit er sich als katholischer Sozialethiker einen Namen machte. Im selben Jahr wurde er als Professor für Moraltheologie, Kirchenrecht und Gesellschaftswissenschaften an die neu gegründete, ordenseigene Philosophisch-Theologische Hochschule St. Georgen in Frankfurt am Main berufen.
Federführend arbeitete er an der 1931 veröffentlichten Sozialenzyklika „Quadragesimo anno“ von Papst Pius XI. (Pontifikat 1922-1939) mit, wobei er wichtige Anregungen vom „Königswinterer Kreis“, einem Zusammenschluss bedeutender katholischer Sozialwissenschaftler, empfing. Die Enzyklika mahnte gesellschaftliche Reformen an und entwickelte vor diesem Hintergrund den Gedanken des Subsidiaritätsprinzips und der berufsständischen Ordnung. Während der Zeit des Nationalsozialismus konnte von Nell-Breuning zwischen 1936 und 1945 nicht publizieren. Als Mitarbeiter der Vermögensverwaltung seines Ordens wurde 1936 ein Ermittlungsverfahren wegen angeblicher Devisenvergehen gegen ihn angestrengt; 1943 erging das Urteil: drei Jahre Haft. Diese musste er jedoch nicht antreten, weil er aufgrund seiner angeschlagenen Gesundheit für haftunfähig erklärt wurde. Im selben Jahr endete vorübergehend seine Vorlesungstätigkeit; der Lehrbetrieb an der Hochschule St. Georgen wurde eingestellt. Nach dem Zweiten Weltkrieg setzte er sich intensiv für seine sozialpolitischen Anliegen und die Reorganisation des sozialen Katholizismus ein. In zahlreichen Veröffentlichungen – unter anderem dem „Wörterbuch der Politik“, das er gemeinsam mit Hermann Sacher (geboren 1873) zwischen 1947 und 1959 herausgab – verhalf er der katholischen Soziallehre, öffentlich Gehör zu finden. In den drei Bänden seines Werkes „Wirtschaft und Gesellschaft“ (1956-1960) setzte er sich für eine wirtschaftliche Neuordnung, insbesondere der Unternehmensstrukturen ein, wofür er in der Zeit des Wiederaufbaus die Chance gekommen sah. So forderte er etwa eine stärkere Integration der Arbeitnehmer, einen gerechten Lohn und ein Streikrecht der Gewerkschaften. Bis zu seinem Lebensende sollte er über 1800 Schriften verfassen. Seine wichtigsten Themen waren die Ausgestaltung der katholischen Soziallehre und die Wiederannäherung von Kirche und Arbeiterschaft.
1948 wurde er in den wissenschaftlichen Beirat des Bundesministeriums für Wirtschaft berufen, dem er bis 1965 angehörte. Von 1950 bis 1958 saß er außerdem im wissenschaftlichen Beirat des Bundesministeriums für Wohnungsbau, von 1959 bis 1961 in demjenigen des Bundesministeriums für Familien- und Jugendfragen. Ebenfalls 1948 erteilte ihm die Philosophische Fakultät der Universität Frankfurt einen Lehrauftrag für Moraltheologie und Sozialethik, 1949 kam eine Lehrtätigkeit an der Frankfurter Akademie der Arbeit, einer Ausbildungseinrichtung für Gewerkschaftssekretäre, hinzu, 1956 wurde er Honorarprofessor für philosophische Grundfragen der Wirtschaft an der Wirtschafts- und Sozialwissenschaftlichen Fakultät in Frankfurt. Seit 1959 war er Mitglied des Wirtschaftswissenschaftlichen Instituts des Deutschen Gewerkschaftsbundes, wo er sich für eine Einheitsgewerkschaft stark machte. Er setzte sich ferner ein für die wirtschaftliche Mitbestimmung und für Modelle der Vermögensbildung für Arbeitnehmer. Trotz seiner Nähe zum Deutschen Gewerkschaftsbund kritisierte er diesen auch, so war er etwa ein Gegner der 35-Stunden-Woche bei vollem Lohnausgleich.
Sein gewerkschaftliches Engagement hinderte ihn nicht daran, auch opponierenden Gruppen beratend zur Seite zu stehen. Er war dank seiner unideologischen Sachlichkeit, seiner parteipolitischen Neutralität und seiner präzisen Analyse und Sprache sehr gefragt und beriet Politiker, Unternehmer sowie seine Kirche gleichermaßen. Obwohl von katholischen Unternehmern für sein Eintreten für die wirtschaftliche Mitbestimmung heftig kritisiert, wirkte er etwa mit bei der Gründung des Bundes katholischer Unternehmer 1949 und begutachtete später die Vorschläge von dessen Geschäftsführer Wilfrid Schreiber (1904-1975) zur dynamischen Rentenversicherung. Auch den beiden großen Volksparteien SPD und CDU diente er als Berater. So fanden seine Gedanken 1959 Eingang in das Godesberger Programm der SPD, ebenso wirkte er mit am CDU-Grundsatzprogramm von 1978.
Innerhalb des deutschen Katholizismus beteiligte er sich intensiv an den Diskussionen über die Gewerkschaften in den 1950er Jahren und die wirtschaftliche Mitbestimmung in den 60er Jahren. Auf der Würzburger Synode der Bistümer Westdeutschlands von 1971 bis 1975 engagierte er sich für das umstrittene Dokument „Kirche und Arbeiterschaft“. Von Nell-Breuning scheute sich nicht, seine Kirche zu kritisieren, ließ aber nie Zweifel an seiner Treue zur Kirche aufkommen und fühlte sich durch die Verleihung der Goldenen Bonifatius-Plakette durch die Deutsche Bischofskonferenz zu seinem 90. Geburtstag bestätigt.
Zahlreiche weitere Ehrungen wurden ihm zuteil, zuletzt das Bundesverdienstkreuz an seinem 100. Geburtstag. Er war Ehrenbürger seiner Heimatstadt Trier (1981) und der Stadt Frankfurt am Main (1983). Auch in seinem letzten Lebensjahrzehnt nahm er weiter rege Anteil an gesellschaftspolitischen Disputen. Erst kurz vor seinem Tod zog er sich zurück, wollte sich zu wirtschafts- und sozialpolitischen Fragen nicht mehr äußern und stattdessen die verbleibende Zeit theologischen Studien widmen. Oswald von Nell-Breuning starb am 21.8.1991 in Frankfurt am Main.
Werke (Auswahl)
Grundzüge der Börsenmoral, Freiburg 1928.
Die soziale Enzyklika, Köln 1932.
Zur christlichen Gesellschaftslehre. Freiburg 1947 (zusammen mit Hermann Sacher).
Mitbestimmung, Landshut 1950.
Wörterbuch der Politik. Gesellschaft - Staat - Wirtschaft - Soziale Frage, Freiburg 1952 (zusammen mit Hermann Sacher).
Wirtschaft und Gesellschaft heute, 3 Bände Freiburg 1956-60.
Grundsätzliches zur Politik, München 1975
Soziale Sicherheit. Zu Grundfragen der Sozialordnung aus christlicher Verantwortung, Freiburg 1979.
Gerechtigkeit und Freiheit. Grundzüge katholischer Soziallehre, München 1980.
Kapitalismus kritisch betrachtet. Zur Auseinandersetzung um das bessere „System“, Freiburg 1986.
Den Kapitalismus umbiegen. Schriften zu Kirche, Wirtschaft und Gesellschaft, Düsseldorf 1990.
Literatur
Grein, Eberhard, Ich war immer Opposition, Oswald von Nell-Breuning, Jesuit und Reformer – Visionen werden Wirklichkeit, St. Ottilien 2005.
Hengsbach, Friedhelm/Möhring-Hesse, Matthias/Schroeder, Wolfgang, Ein unbekannter Bekannter. Eine Auseinandersetzung mit dem Werk von Oswald von Nell-Breuning SJ, Köln 1990.
Kettern, Bernd, Artikel „Nell-Breuning, Oswald von“, in: Biographisch-Bibliographisches Kirchenlexikon 6 (1993), Sp. 589-603.
Klein, Heribert, Oswald von Nell-Breuning, Unbeugsam für den Menschen, Lebensbild, Begegnungen, Ausgewählte Texte, Freiburg 1989.
Online
Kurzbiographie von Pater Oswald von Nell-Breuning SJ (Information auf der Website des Oswald von Nell-Breuning Instituts Frankfurt für Wirtschafts- und Gesellschaftsethik der Philosophisch-Theologischen Hochschule Sankt Georgen). [Online]
Hengsbach, Friedhelm, „Nell-Breuning, Oswald von“, in: Neue Deutsche Biographie 19 (1998), S. 56-58. [Online]
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Streeck, Nina, Oswald von Nell-Breuning, in: Internetportal Rheinische Geschichte, abgerufen unter: https://www.rheinische-geschichte.lvr.de/Persoenlichkeiten/oswald-von-nell-breuning/DE-2086/lido/57c9534e0252d9.98758829 (abgerufen am 09.12.2024)