Rheinischer Kapitalismus

Ursula Nothelle-Wildfeuer (Freiburg/Sankt Augustin)

Der Bundestag in Bonn, 1954, Foto: Brodde. (Bundesarchiv, B 145 Bild-F002349-0009)

1. Zu Herkunft, Bedeutung und Aktualität des Begriffs „Rheinischer Kapitalismus“

Der Be­griff „Rhei­ni­scher Ka­pi­ta­lis­mus“ ist nicht ei­ne Er­fin­dung rhei­ni­scher Ka­ba­ret­tis­ten und Kar­ne­va­lis­ten, eben­so we­nig die Selbst­be­schrei­bung der Wirt­schafts­ord­nung der so ge­nann­ten Bon­ner Re­pu­blik. Auch ei­ne et­wai­ge Nä­he zum Be­griff des „Köl­schen Klün­gel­s“ scheint eher die As­so­zia­ti­on un­d ­Ver­mu­tung ei­nes „ord­nungs­po­li­tisch in­ter­es­sier­te(n) West­fa­le(n)“[1]  denn ei­ne wis­sen­schaft­li­che Aus­sa­ge zu sein. Viel­mehr han­delt es sich um ei­nen Be­griff, der sich in der wis­sen­schaft­li­chen De­bat­te erst re­la­tiv spät, näm­lich im An­schluss an den fran­zö­si­schen Öko­no­men und Ma­na­ger Mi­chel Al­bert (ge­bo­ren 1930) und sein 1990 er­schie­ne­nes Buch „Ka­pi­ta­lis­mus con­tra Ka­pi­ta­lis­mus“ (deutsch: 1992) ent­wi­ckel­te und ei­ne Ka­te­go­ri­sie­rung der un­ter­schied­li­chen Ka­pi­ta­lis­mus­for­men er­mög­lich­te. Im Ver­ständ­nis der meis­ten Theo­re­ti­ker, die sich mit dem Be­griff des Rhei­ni­schen Ka­pi­ta­lis­mus und sei­ner Be­stim­mung be­schäf­tigt ha­ben, meint er den In­halt der So­zia­len Markt­wirt­schaft – oft mit dem Fo­kus auf de­ren spe­zi­fi­scher Rea­li­sie­rung seit der Nach­kriegs­zeit.[2]  Er stellt je­den­falls ei­ne ter­mi­no­lo­gi­sche Prä­zi­sie­rung dar, wo­durch er auf ein in­ter­na­tio­na­les Le­vel ge­ho­ben wur­de. Da­mit wur­de „die Grund­la­ge für den Ver­gleich zwi­schen ei­nem neo­li­be­ra­len, an­glo­ame­ri­ka­ni­schen Ka­pi­ta­lis­mus­ver­ständ­nis und ei­nem Ka­pi­ta­lis­mus mit christ­li­cher Wer­te­ord­nun­g“[3]  ge­legt. Sehr häu­fig ist dies­be­züg­lich auch die Re­de von ei­nem „drit­ten We­g“ zwi­schen ei­nem in­di­vi­dua­lis­ti­schen Ka­pi­ta­lis­mus und ei­nem so­zia­lis­ti­schen Ka­pi­ta­lis­mus.

Das At­tri­but „rhei­ni­sch“ ver­weist na­tür­lich auch auf die geo­gra­phi­schen und zeit­ge­schicht­li­chen Wur­zeln die­ser spe­zi­fi­schen Ka­pi­ta­lis­mus­form[4] : Auch wenn ei­ne star­ke Säu­le des Kon­zepts der So­zia­len Markt­wirt­schaft in der Frei­bur­ger Schu­le um Wal­ter Eu­cken (1891-1950) be­steht, so ist si­cher­lich ei­ne zwei­te, für die kon­kre­te po­li­ti­sche Um­set­zung eben­so be­deut­sa­me Säu­le im Rhein­land zu fin­den. Das zeigt zum ei­nen die Tat­sa­che, dass die Ent­wick­lung und Um­set­zung des Kon­zepts der So­zia­len Markt­wirt­schaft un­trenn­bar ver­bun­den ist mit der Bon­ner Re­pu­blik und den Ade­nau­er­schen Ent­schei­dun­gen, denn „[o]hne Ade­nau­er und das ka­tho­li­sche Rhein­land hät­te sich West­deutsch­land nie­mals zu dem be­wun­der­ten­ ­Rechts- und So­zi­al­staat, ja selbst Er­hard nicht der Va­ter des deut­schen Wirt­schafts­wun­ders wer­den kön­nen.“[5] . Zum an­de­ren ist auch auf der Theo­rie­ebe­ne mit Al­fred Mül­ler-Arm­ack, dem Staats­se­kre­tär im Wirt­schafts­mi­nis­te­ri­um Lud­wig Er­hards und spä­te­ren Pro­fes­sor für Volks­wirt­schafts­leh­re in Köln der Na­mens­ge­ber und Mit­be­grün­der des Kon­zepts der So­zia­len Markt­wirt­schaft rhei­ni­scher Pro­ve­ni­enz zu nen­nen. Ent­schei­dend ist sein 1946 ver­fass­tes Buch „Wirt­schafts­len­kung und Markt­wirt­schaf­t“.

Der Bundestag in Bonn, 1954, Foto: Brodde. (Bundesarchiv, B 145 Bild-F002349-0009)

 

Er­neu­te Ak­tua­li­tät hat der Rhei­ni­sche Ka­pi­ta­lis­mus im Kon­text der Su­che nach kri­sen­si­che­ren glo­ba­len Wirt­schafts­struk­tu­ren be­kom­men. Die Kri­se am Fi­nanz­markt im Jahr 2008, nach­fol­gend die Kri­se der rea­len Wirt­schaft und seit län­ge­rem die Wäh­rungs- und Schul­den­kri­se zahl­rei­cher Eu­ro-Staa­ten ha­ben in den letz­ten Mo­na­ten und Jah­ren über­deut­lich wer­den las­sen, dass wirt­schaft­li­cher Er­folg und wirt­schaft­li­ches Wachs­tum kein na­tio­nal­staat­li­ches Na­tur­recht ist, eben­so kein na­he­zu au­to­ma­tisch sich ein­stel­len­des Er­geb­nis bei Be­fol­gung be­stimm­ter volks- und auch be­triebs­wirt­schaft­li­cher Re­geln.

In der kri­ti­schen Ana­ly­se der Ur­sa­chen, aber auch in den Über­le­gun­gen zur Pro­blem­be­he­bung des ak­tu­el­len Kri­sen­sze­na­ri­os, ist im­mer wie­der die Re­de vom Staats­ver­sa­gen be­zie­hungs­wei­se von der Rol­le des Staa­tes, aber auch vom Markt­ver­sa­gen be­zie­hungs­wei­se von der Rol­le des Mark­tes, von der Gier der Haupt­ak­teu­re, aber auch von feh­len­den Re­geln und Struk­tu­ren welt­weit, vom not­wen­di­gen En­de des Ka­pi­ta­lis­mus, aber auch von der Not­wen­dig­keit, zu dif­fe­ren­zie­ren zwi­schen kurz­fris­ti­ger staat­li­cher Not­hil­fe und lang­fris­ti­ger Si­che­rung frei­er Märk­te. Letzt­lich aber – und das zeigt die gan­ze Wucht und Er­schüt­te­rung durch die Kri­se – wer­den auch fun­da­men­tal die frei­heit­li­chen Sys­te­me von De­mo­kra­tie und Markt­wirt­schaft ins­ge­samt in Fra­ge ge­stellt. Bei al­ler Dif­fe­renz der Ana­ly­sen im De­tail wird eins auf je­den Fall deut­lich: Es steht we­sent­lich mehr an als die Su­che nach ei­ner schnel­len neu­en, leicht hand­hab­ba­ren Stra­te­gie. Letzt­lich geht es um ei­ne fun­da­men­ta­le Rück­be­sin­nung auf die Grund­la­gen des Wirt­schaf­tens - ein „ad fon­tes“ ist ge­fragt. 

2. Differenzierungen im Kapitalismus-Begriff

Hat­te es nach dem Schei­tern des Kom­mu­nis­mus An­fang der 1990er Jah­re des letz­ten Jahr­hun­derts zu­nächst so aus­ge­se­hen, als sei der Ka­pi­ta­lis­mus das sieg­rei­che Sys­tem und als sei mit dem Weg­fall des ideo­lo­gi­schen Wi­der­parts auch, wie Fran­cis Fu­ku­yama (ge­bo­ren 1952) be­haup­te­te, das En­de der Ge­schich­te ge­kom­men, so stell­te sich die­se Über­zeu­gung doch schnell als Irr­tum her­aus. Es wur­de deut­lich, dass zwar die De­bat­te zwi­schen den Sys­te­men des Ka­pi­ta­lis­mus und des Kom­mu­nis­mus weit­ge­hend zu En­de ist, dass aber in­ner­halb des Sys­tems Ka­pi­ta­lis­mus die De­bat­te wei­ter­ge­führt wird und da­bei hin­sicht­lich der ge­mein­ten Form des Ka­pi­ta­lis­mus sorg­fäl­tig dif­fe­ren­ziert wer­den muss. In die­sem zeit­li­chen Zu­sam­men­hang ent­stand Mi­chel Al­berts Un­ter­schei­dung zwi­schen dem neo-ame­ri­ka­ni­schen Ka­pi­ta­lis­mus­mo­dell des schnel­len Ge­winns, der kurz­fris­ti­gen Ef­fi­zi­enz und der na­he­zu aus­schlie­ß­li­chen Wall­s­treet-Ori­en­tie­rung, und dem „an­de­re(n) Ka­pi­ta­lis­mus“,[6]  dem rhei­ni­schen Mo­dell mit sei­ner Be­to­nung des Un­ter­neh­mers, der vor­herr­schen­den Rol­le der Ban­ken, der lang­fris­ti­gen In­ves­ti­tio­nen und des so­zia­len Si­che­rungs­sys­tems zur Ab­si­che­rung der zen­tra­len Le­bens­ri­si­ken (wie Krank­heit, Al­ter, Un­fall, Ar­beits­lo­sig­keit, spä­ter der Pfle­ge­be­dürf­tig­keit), der Mit­be­stim­mung und des Kon­sen­ses.[7]  Da­bei macht Al­bert üb­ri­gens schnell klar, dass es hier nicht um et­was rein Deut­sches geht: „Deutsch­land ist nur ei­ne be­son­de­re Ver­kör­pe­rung die­ses rhei­ni­schen Mo­dells des Ka­pi­ta­lis­mus. Ein Mo­dell, das kaum be­kannt ist und we­nig ver­stan­den wird, das von Nord­eu­ro­pa bis in die Schweiz reicht und dem auch Ja­pan teil­wei­se an­ge­hört.“[8] 

Alfred Müller-Armack, Porträtfoto. (Konrad-Adenauer-Stiftung/Archiv für Christlich-Demokratische Politik - Fotoarchiv)

 

Auch kirch­li­cher­seits hat Papst Jo­han­nes Paul II. (Pon­ti­fi­kat 1978-2005) in sei­ner En­zy­kli­ka „Cen­te­si­mus an­nus“ von 1991 durch ei­ne hilf­rei­che Dif­fe­ren­zie­rung deut­lich ge­macht, dass man nicht ein­fach von dem Ka­pi­ta­lis­mus spre­chen kann: „Wird mit »Ka­pi­ta­lis­mus« ein Wirt­schafts­sys­tem be­zeich­net, das die grund­le­gen­de und po­si­ti­ve Rol­le des Un­ter­neh­mens, des Mark­tes, des Pri­vat­ei­gen­tums und der dar­aus fol­gen­den Ver­ant­wor­tung für die Pro­duk­ti­ons­mit­tel, der frei­en Krea­ti­vi­tät des Men­schen im Be­reich der Wirt­schaft an­er­kennt, ist die Ant­wort si­cher po­si­tiv. Viel­leicht wä­re es pas­sen­der, von »Un­ter­neh­mens­wirt­schaft« oder »Mark­wirt­schaft« oder ein­fach »frei­er Wirt­schaft« zu spre­chen. Wird aber un­ter »Ka­pi­ta­lis­mus« ein Sys­tem ver­stan­den, in dem die wirt­schaft­li­che Frei­heit nicht in ei­ne fes­te Rechts­ord­nung ein­ge­bun­den ist, die sie in den Dienst der vol­len mensch­li­chen Frei­heit stellt und sie als ei­ne be­son­de­re Di­men­si­on die­ser Frei­heit mit ih­rem ethi­schen und re­li­giö­sen Mit­tel­punkt an­sieht, dann ist die Ant­wort eben­so ent­schie­den ne­ga­tiv.“ (CA 42). Wenn auch die po­si­tiv be­wer­te­te Spiel­art des Ka­pi­ta­lis­mus in dem päpst­li­chen Schrei­ben aus gu­ten Grün­den nicht So­zia­le Markt­wirt­schaft und auch nicht Rhei­ni­scher Ka­pi­ta­lis­mus ge­nannt wird, so ist in­halt­lich doch ge­nau das be­schrie­ben. Wil­helm Röp­ke (1899-1966) bringt eben­falls be­reits 1956 die­se Un­ter­schei­dung ein und be­schreibt mit sei­ner po­si­tiv kon­no­tier­ten Form der Markt­wirt­schaft ex­akt das Kon­zept der So­zia­len Markt­wirt­schaft mit ih­ren un­ver­zicht­ba­ren Ele­men­ten: „Markt­wirt­schaft ei­ner ato­mi­sier­ten, ver­ma­ß­ten und pro­le­ta­ri­sier­ten Ge­sell­schaft ist et­was völ­lig an­de­res als die­je­ni­ge ei­ner Ge­sell­schaft mit brei­ter Ei­gen­tums­streu­ung, stand­fes­ten Exis­ten­zen und ei­ner Fül­le ech­ter und den Men­schen Halt ge­ben­den Ge­mein­schaf­ten, mit Ge­gen­ge­wich­ten ge­gen Wett­be­werb und Preis­me­cha­nik, mit In­di­vi­du­en, die ver­wur­zelt und de­ren Exis­tenz nicht von den na­tür­li­chen Le­bens­an­kern los­ge­ris­sen ist, mit Gleich­ge­wicht der Macht­grup­pen und ei­nem brei­ten Stand mitt­le­rer und selb­stän­di­ger Exis­ten­zen, mit ge­sun­dem Ver­hält­nis zwi­schen Stadt und Land, In­dus­trie und Land­wirt­schaft und mit vie­len an­de­ren Din­gen, die hier zu nen­nen wä­ren.“[9] 

3. Die normative Basis des Rheinischen Kapitalismus

Nach Al­fred Mül­ler-Arm­ack kann der Be­griff der So­zia­len Markt­wirt­schaft „als ei­ne ord­nungs­po­li­ti­sche Ide­e“ de­fi­niert wer­den, „de­ren Ziel es ist, auf der Ba­sis der Wett­be­werbs­wirt­schaft die freie In­itia­ti­ve mit ei­nem ge­ra­de durch die markt­wirt­schaft­li­che Leis­tung ge­si­cher­ten so­zia­len Fort­schritt zu ver­bin­den“.[10]  Der Be­griff der Frei­heit, der den grund­le­gen­den Ziel­wert So­zia­ler Markt­wirt­schaft dar­stellt und durch Markt und Wett­be­werb rea­li­siert wird, wird in ei­ner De­fi­ni­ti­on Lud­wig Er­hards fol­gen­der­ma­ßen prä­zi­siert: „Frei­heit darf nicht zu ei­nem Göt­zen­dienst wer­den, oh­ne Ver­ant­wor­tung, oh­ne Bin­dung, oh­ne Wur­zeln. Die Ver­bin­dung zwi­schen Frei­heit und Ver­ant­wor­tung be­darf viel­mehr der Ord­nung.“[11]  Und noch ein­mal Lud­wig Er­hard: „Der tie­fe Sinn der So­zia­len Markt­wirt­schaft liegt dar­in, das Prin­zip der Frei­heit auf dem Markt mit dem so­zia­len Aus­gleich und der sitt­li­chen Ver­ant­wor­tung je­des Ein­zel­nen dem Gan­zen ge­gen­über zu ver­bin­den.“[12] 

Der So­zi­al­ethi­ker und Do­mi­ni­ka­ner Wolf­gang Ocken­fels (ge­bo­ren 1947) spricht von der So­zia­len Markt­wirt­schaft als ei­ner „an­spruchs­vol­le(n) Kul­tur­pflan­ze“,[13]  die auf­grund ih­rer spe­zi­fi­schen Be­schaf­fen­heit ei­ner ent­spre­chen­den Pfle­ge be­darf. Markt­wirt­schaft be­zie­hungs­wei­se Ka­pi­ta­lis­mus funk­tio­niert al­so nicht ein­fach im Sin­ne ei­nes Au­to­ma­tis­mus nach ei­nem for­ma­len Re­gel­sys­tem, son­dern baut „auf ei­nem so­zia­len und grund­recht­li­chen Wer­te­sys­tem auf […], das zu ei­nem be­stimm­ten mo­ra­li­schen Ver­hal­ten und zu ge­sell­schafts- und so­zi­al­po­li­ti­schen Maß­nah­men drängt.“[14] 

Papst Johannes Paul II., 1993.

 

Bei der Su­che nach dem Spe­zi­fi­kum die­ser Ka­pi­ta­lis­mus­form geht es mit­hin nicht vor­ran­gig um ein­zel­ne öko­no­mi­sche Fra­gen, son­dern viel­mehr um die fun­da­men­ta­len ethi­schen Fra­gen nach Frei­heit und Ver­ant­wor­tung, nach Ord­nung und so­zia­ler Ge­rech­tig­keit, nach Ver­läss­lich­keit von Struk­tu­ren und Ein­stel­lun­gen, um Fra­gen, die in den letz­ten bei­den Jahr­zehn­ten bis in die Ge­gen­wart hin­ein in der volks­wirt­schaft­li­chen Theo­rie­bil­dung weit­ge­hend ver­nach­läs­sigt wur­den. Die­se nor­ma­ti­ve Ba­sis der So­zia­len Markt­wirt­schaft ist in en­ger Ver­bin­dung mit der christ­lich-abend­län­di­schen Kul­tur im All­ge­mei­nen, mit der evan­ge­li­schen So­zi­al­ethik und mit dem Men­schen­bild und den So­zi­al­prin­zi­pi­en der ka­tho­li­schen So­zi­al­leh­re im Be­son­de­ren ent­stan­den und zu ver­ste­hen. Hier ist noch ein­mal auf die spe­zi­el­le, oben be­reits er­wähn­te Be­deu­tung des ka­tho­li­schen Rhein­lands hin­zu­wei­sen: der Ein­fluss der ka­tho­li­schen Kir­che auf die Nach­kriegs­be­völ­ke­rung, die grö­ß­ten­teils noch der rö­misch-ka­tho­li­schen Kir­che an­ge­hör­te, und da­mit auf die Po­li­tik des jun­gen deut­schen Staa­tes mach­te sich deut­lich be­merk­bar so­wohl in der Op­po­si­ti­on ge­gen den So­zia­lis­mus und Kom­mu­nis­mus als auch in der deut­li­chen Ab­set­zung von der men­schen­ver­ach­ten­den Ideo­lo­gie und Po­li­tik des Drit­ten Rei­ches. Zu­nächst war es in der Nach­kriegs­zeit der Köl­ner Erz­bi­schof Jo­sef Kar­di­nal Frings, spä­ter dann vor al­len Din­gen und de­tail­lier­ter noch sein ein­fluss­rei­cher ­Nach­fol­ger Jo­seph Kar­di­nal Höff­ner, die die Ver­bin­dung zwi­schen der ka­tho­li­schen So­zi­al­leh­re und der ent­ste­hen­den neu­en wirt­schaft­li­chen un­d ­ge­sell­schaft­li­chen Ord­nung im­mer wie­der deut­lich her­aus­zu­strei­chen wuss­ten.[15] 

4. Weichenstellungen für den Rheinischen Kapitalismus beziehungsweise die Soziale Marktwirtschaft durch die christlich-soziale Bewegung

Die Ent­ste­hung der So­zia­len Markt­wirt­schaft ist al­ler­dings nicht nur und noch nicht ein­mal vor­ran­gig ei­ne Fra­ge der Theo­rie­ent­wick­lung, son­dern ba­siert auch und we­sent­lich auf den ge­schicht­li­chen so­zia­len Be­we­gun­gen, die vor al­len Din­gen im 19. Jahr­hun­dert in der Aus­ein­an­der­set­zung mit der auf­kom­men­den In­dus­tria­li­sie­rung und vi­ru­lent wer­den­den so­zia­len Fra­ge das Fun­da­ment für ei­ne wer­te­ba­sier­te und so­zi­al ver­ant­wor­te­te li­be­ra­le Wirt­schafts­ord­nung ge­legt ha­ben. In die­sem Zu­sam­men­hang spielt auch die christ­lich-so­zia­le und christ­lich-po­li­ti­sche Be­we­gung ei­ne nicht mar­gi­na­le Rol­le.

4.1 Die Herausforderung durch die soziale Frage des 19. Jahrhunderts

Da­bei stellt die ka­tho­li­sche Kir­che ne­ben der so­zia­lis­ti­schen Ar­bei­ter­be­we­gung[16]  ei­nen ent­schei­den­den Ak­teur im Kon­text der Be­schäf­ti­gung mit der so­zia­len Fra­ge des 19. Jahr­hun­derts dar. Zu Be­ginn die­ser Ent­wick­lung stand sie je­doch vor ei­ner dop­pel­ten Her­aus­for­de­rung: Nicht nur war sie nach der Sä­ku­la­ri­sa­ti­on 1803 ih­rer fi­nan­zi­el­len und da­mit der ma­te­ri­el­len Ba­sis vie­ler ih­rer bis­he­ri­gen Mit­tel der Seel­sor­ge be­raubt. Sie stand dar­über hin­aus auch zu­nächst oh­ne fest for­mu­lier­tes So­zia­li­de­al den Pro­ble­men und Nö­ten der Zeit ge­gen­über und such­te nach Ant­wort­mög­lich­kei­ten auf die so­zia­le Fra­ge. Die­se tan­gie­re – so for­mu­lier­te es ei­ner ih­rer zen­tra­len Re­prä­sen­tan­ten, der Main­zer Bi­schof Wil­helm Em­ma­nu­el von Ket­te­ler (1811-1877, Epis­ko­pat 1850-1877) im Jahr 1864 – das de­po­si­tum fidei, al­so die Grund­la­gen des Glau­bens, und von da­her stell­ten vie­le Ten­den­zen der in­dus­tri­el­len Re­vo­lu­ti­on, die mit der Wür­de des Men­schen nicht ver­ein­bar wa­ren, aus der Per­spek­ti­ve des christ­li­chen Glau­bens ei­ne spe­zi­el­le und un­über­seh­ba­re Her­aus­for­de­rung für Kir­che und Chris­ten dar.

Joseph Kardinal Höffner. (Archiv des Erzbistums Köln)

 

In Deutsch­land voll­zog sich die In­dus­tria­li­sie­rung im Ver­gleich zu Eng­land und Frank­reich mit ei­ner Ver­zö­ge­rung von drei Ge­ne­ra­tio­nen, Deutsch­land wur­de ei­gent­lich erst zwi­schen 1870 und der Jahr­hun­dert­wen­de zum In­dus­trie­staat. Der Pau­peris­mus ent­stand mit­hin als Aus­läu­fer der al­ten, vor­in­dus­tri­el­len Ar­mut, al­ler­dings ver­schärft durch die neue so­zia­le Schicht der völ­lig ver­arm­ten In­dus­trie­ar­bei­ter, für wel­che die Not ei­ne ganz ei­ge­ne Qua­li­tät und Quan­ti­tät hat­te.

4.2 Die katholische Romantik

An­ge­sichts der Neu­ar­tig­keit der Pro­ble­ma­tik konn­te die Kir­che nicht gleich ein ein­zi­ges um­fas­sen­des fer­ti­ges Lö­sungs­kon­zept prä­sen­tie­ren. Viel­mehr wur­den ver­schie­de­ne We­ge und An­satz­punk­te in den Blick ge­nom­men und auf ih­re Taug­lich­keit für die Men­schen hin un­ter­sucht.

Ein ers­ter An­satz war der der ka­tho­li­schen Ro­man­tik, de­ren wich­ti­ge Ver­tre­ter wie et­wa Jo­seph Gör­res, Adam Hein­rich Mül­ler (1779-1829) oder Franz von Baa­der (1765-1841) nach ei­ner prä­zi­sen Ana­ly­se der ge­sell­schaft­li­chen Si­tua­ti­on ei­ne to­ta­le So­zi­al­re­form for­der­ten, die die Ent­wick­lung des wirt­schaft­li­chen und ge­sell­schaft­li­chen Li­be­ra­lis­mus grund­sätz­lich zu be­en­den such­te durch ei­ne Rück­kehr zum Mit­tel­al­ter und sei­ner ge­schlos­se­nen Ge­sell­schafts­ord­nung - als (theo­lo­gisch le­gi­ti­mier­ter) Stän­de­ord­nung (Me­di­o­eva­lis­mus).

4.3 Die katholisch-soziale Bewegung um Bischof Ketteler

Sehr bald aber setz­te sich die Er­kennt­nis durch, dass das Rad der Ge­schich­te nicht zu­rück­zu­dre­hen und des­halb auch die ein­mal be­gon­ne­ne Ent­wick­lung nicht rück­gän­gig zu ma­chen war. Wich­ti­ge Ver­tre­ter der so ar­gu­men­tie­ren­den ka­tho­lisch-so­zia­len Be­we­gung wie zum Bei­spiel Franz-Jo­seph Rit­ter von Buß (1803-1878), Wil­helm Em­ma­nu­el von Ket­te­ler oder Ge­org von Hert­ling (1843-1919), er­kann­ten im Lau­fe ih­rer Be­schäf­ti­gung mit der so­zia­len Fra­ge, dass nicht das gan­ze markt­wirt­schaft­li­che Sys­tem des Teu­fel sei, son­dern dass es dar­auf an­kom­me, Än­de­run­gen in­ner­halb des Sys­tems an­zu­stre­ben.

Wilhelm Emmanuel Freiherr von Ketteler, 1870, Porträtfoto.

 

Bi­schof Ket­te­ler kam im Lau­fe sei­ner Be­schäf­ti­gung mit der Pro­ble­ma­tik end­gül­tig zu der Er­kennt­nis, dass es „gar nicht ab­zu­se­hen (ist), dass das mo­der­ne In­dus­trie­sys­tem in na­her Zu­kunft durch ein an­de­res, bes­se­res er­setzt wer­de.“[17]  Kei­ne Macht der Welt wer­de trotz der nicht zu leug­nen­den schäd­li­chen Aus­wir­kun­gen die Fort­ent­wick­lung der mo­der­nen In­dus­trie und der mo­der­nen Volks­wirt­schaft auf­hal­ten kön­nen.[18]  Da das Sys­tem nun ein­mal un­um­stö­ß­lich zu sein schien, kön­ne es nur um Ver­än­de­rung in­ner­halb des­sel­ben ge­hen. Es kom­me al­so auf ei­ne par­ti­el­le So­zi­al- und Ge­sell­schafts­po­li­tik[19]  an, die die Ar­bei­ter an den Seg­nun­gen des Sys­tems mög­lichst weit­ge­hend teil­ha­ben las­se und sei­ne ne­ga­ti­ven Fol­gen zu mil­dern ver­su­che.[20] 

Ket­te­lers kon­kre­te For­de­run­gen hat­ten die Wie­der­her­stel­lung und Ach­tung der Men­schen­wür­de im Au­ge. Da­bei be­zog er die Men­schen­rech­te, die im po­li­tisch-li­be­ra­len Um­feld im Sin­ne der per­sön­li­chen Frei­heits- und Ab­wehr­rech­te in­ten­siv dis­ku­tiert wur­den, deut­lich zu­rück auf die Men­schen­wür­de und kam zu der Fra­ge: „Was hel­fen die so­ge­nann­ten Men­schen­rech­te in den Kon­sti­tu­tio­nen, wo­von der Ar­bei­ter we­nig Nut­zen hat, so­lan­ge die Geld­macht die so­zia­len Men­schen­rech­te mit Fü­ßen tre­ten kann?“[21]  Wäh­rend es in den Ver­fas­sungs­de­bat­ten sei­ner Zeit nur um die li­be­ra­len Frei­heits- und Ab­wehr­rech­te ging, hat­te Ket­te­ler vor­ran­gig die so­zia­len Men­schen­rech­te im Blick, die in der Si­tua­ti­on sei­ner Zeit den Ar­bei­tern de fac­to vor­ent­hal­ten wa­ren. Da­mit wa­ren sei­ne For­de­run­gen ori­en­tiert an ei­ner bis zur Ge­gen­wart gül­ti­gen und zen­tra­len Ka­te­go­rie so­zi­al­ethi­scher Ent­schei­dun­gen. War bis zu Be­ginn des 19. Jahr­hun­derts christ­li­che Nächs­ten­lie­be und Sor­ge um die Ar­men aus­schlie­ß­lich bei der Ca­ri­tas und der Für­sor­ge ver­or­tet, so er­öff­ne­te sich hier ei­ne neue in­sti­tu­tio­nel­le Di­men­si­on christ­li­cher Mit­sor­ge um die Ge­stal­tung der Ge­sell­schaft und ih­rer Struk­tu­ren.

4.4 Bischof Ketteler, die Sozialenzyklika „Rerum novarum“ und die zentralen Akteure zur Lösung der sozialen Frage

Mit der ers­ten So­zia­len­zy­kli­ka Rer­um no­var­um hob Papst Leo XIII. (Pon­ti­fi­kat 1878-1903) im Jahr 1891 die­se Er­kennt­nis­se und auch die kon­kre­ten Vor­stel­lun­gen und Kon­zep­te der ka­tho­lisch-so­zia­len Be­we­gung auf die Ebe­ne der kirch­li­chen Ver­kün­di­gung. Er nahm ent­schei­den­de struk­tu­rel­le Wei­chen­stel­lun­gen vor, die die Rich­tung vor­ga­ben, in der auch der spä­te­re Rhei­ni­sche Ka­pi­ta­lis­mus liegt. Da­bei wur­den drei Ak­teu­re ge­nannt, de­nen in ge­mein­sa­mer Ver­ant­wor­tung die so­zia­le Fra­ge zur Lö­sung auf­ge­tra­gen wa­ren:

(1) Der Staat. Ket­te­ler und auch Rer­um no­var­um er­kann­ten die Mög­lich­keit und die Pflicht des Staa­tes, ei­nen ge­wis­sen Rechts­schutz für den Be­reich der Ar­beit und da­mit für die ar­bei­ten­den Men­schen zu ge­währ­leis­ten; „ […] so muß doch der Staat beim Rechts­schut­ze zu­guns­ten der Pri­va­ten ei­ne ganz be­son­de­re Für­sor­ge für die nie­de­re, be­sitz­lo­se Mas­se sich an­ge­le­gen sein las­sen.“ (RN 29). Der um sich grei­fen­den In­di­vi­dua­li­sie­rung wur­de ei­ne Schutz­pflicht des Staa­tes ent­ge­gen­ge­hal­ten. Der Mensch sei eben christ­li­chem Men­schen­bild zu­fol­ge nicht nur ein In­di­vi­du­al-, son­dern auch ein So­zi­al­we­sen. Da­mit war der Weg hin zu ei­ner staat­li­chen So­zi­al­po­li­tik ge­wie­sen, die so­wohl die So­zi­al­ver­si­che­rung um­fass­te als auch das Be­mü­hen um ei­ne Ar­bei­ter­schutz­ge­setz­ge­bung. Gleich­zei­tig war das So­zi­al­staats­prin­zip als Ver­fas­sungs­prin­zip pos­tu­liert – ei­ne For­de­rung, die heu­te im bun­des­deut­schen Grund­ge­setz ver­wirk­licht ist. Ge­ra­de be­züg­lich der So­zi­al­ver­si­che­rung ist der über Jahr­zehn­te prä­gen­de Ein­fluss des Ket­te­ler­schen Ge­dan­ken­gu­tes gut zu er­ken­nen. Es war Fer­di­nand He­ri­bert von Ga­len (1831-1906), der 1877 den ers­ten so­zi­al­po­li­ti­schen An­trag im Deut­schen Reichs­tag ein­brach­te und mit sei­nen For­de­run­gen zur Ar­bei­ter­schutz­ge­setz­ge­bung den An­fang der sys­te­ma­ti­schen So­zi­al­po­li­tik des Zen­trums bil­de­te.

(2) Die Ar­bei­ter-Selbst­hil­fe in Form von Ge­werk­schaf­ten. Ge­ra­de die­se Selbst­hil­fe ziel­te auf das heu­te als wich­ti­ges so­zia­les Men­schen­recht be­zeich­ne­te Recht auf Ko­ali­ti­ons­frei­heit ab. Kon­kret ging es um die „Ver­ei­ni­gung der Ar­bei­ter“,[22]  die je­nen, sonst völ­lig ver­ein­zelt der ge­ball­ten Macht des Ka­pi­tals ge­gen­über­ste­hen­den Ar­bei­tern[23]  die Mög­lich­keit ge­ben soll­te, ih­re In­ter­es­sen mit ver­ein­ter Kraft gel­tend zu ma­chen und ih­re Rech­te ein­zu­for­dern. Hier lie­gen die Wur­zeln des im Rhei­ni­schen Ka­pi­ta­lis­mus zen­tra­len Ge­dan­kens der So­zi­al­part­ner­schaft, das hei­ßt der Ko­ope­ra­ti­on zwi­schen Ar­beit­neh­mer- und Ar­beit­ge­ber­ver­bän­den mit dem Ziel, In­ter­es­sen­kon­flik­te durch Kon­sens zu lö­sen, der Mit­be­stim­mung und der Ta­rif­au­to­no­mie. Spe­zi­ell dem So­zi­al­ka­tho­li­zis­mus ging es bei die­ser For­de­rung nach Ver­ei­ni­gun­gen nach Ge­werk­schaf­ten im­mer dar­um zu be­ach­ten, dass letzt­lich nicht „der Kampf zwi­schen dem Ar­beit­ge­ber und dem Ar­bei­ter [...] das Ziel sein (muss), son­dern ein recht­mä­ßi­ger Frie­de zwi­schen bei­den“.[24]  Die kirch­li­che So­zi­al­ver­kün­di­gung spricht spä­ter da­von, dass die Ge­werk­schaf­ten teil­neh­men „am Kampf für die so­zia­le Ge­rech­tig­keit“, dass die­ser Kampf je­doch ein „nor­ma­ler Ein­satz für ein ge­rech­tes Gut“, aber „kein Kampf ge­gen an­de­re“ sein dür­fe. (Vgl. LE 20,3.)

(3) Als drit­ter Ak­teur im 19. Jahr­hun­dert ist in his­to­ri­scher Per­spek­ti­ve schlie­ß­lich die Kir­che mit ih­rer ca­ri­ta­ti­ven Tä­tig­keit zu nen­nen, denn „Chris­tus ist nicht nur da­durch der Hei­land der Welt, dass er un­se­re See­len er­löst hat, er hat auch das Heil für al­le an­de­ren Ver­hält­nis­se der Men­schen, bür­ger­li­che, po­li­ti­sche und so­zia­le, ge­bracht.“[25]  Die Kir­che ver­stand sich nicht (mehr) als die al­lei­ni­ge Grö­ße zur Lö­sung der so­zia­len Fra­ge, blieb aber na­tür­lich den­noch von Be­deu­tung, so­wohl im Blick auf das Re­li­gi­ös-Sitt­li­che, auf ih­re Mo­ti­va­ti­ons­kraft als auch auf ih­re kon­kre­te (Ar­bei­ter-) Pas­to­ral. 

So­wohl der Staat als auch die Ar­bei­ter­selbst­hil­fe in Form von Ge­werk­schaf­ten sind bis in die Ge­gen­wart hin­ein zen­tra­le Ak­teu­re im Be­reich der So­zi­al- und Ge­sell­schafts­po­li­tik ge­blie­ben, ih­re Re­le­vanz wird im Kon­zept der So­zia­len Markt­wirt­schaft deut­lich be­tont. Was den drit­ten Ak­teur, die Kir­che be­trifft, so muss man si­cher ei­ner­seits fest­stel­len, dass der Kir­che in der ge­gen­wär­ti­gen plu­ra­lis­ti­schen Ge­sell­schaft nicht mehr die glei­che Au­to­ri­tät in ge­sell­schaft­li­chen Be­lan­gen zu­kommt wie noch im 19. Jahr­hun­dert. An­de­rer­seits kann doch fest­ge­hal­ten wer­den, dass sie nach wie vor ein ge­frag­ter Ge­sprächs­part­ner in Fra­gen der Wirt­schaft ist und mit ih­rer So­zi­al­leh­re und Ca­ri­tas glei­cher­ma­ßen ei­ne gro­ße Be­deu­tung  im Um­feld von Ar­beits­welt und Ar­beits­lo­sig­keit hat. Schlie­ß­lich zeigt der Blick auf die his­to­risch ge­wach­se­ne Be­deut­sam­keit der ver­schie­de­nen Ak­teu­re ins­ge­samt ei­nen we­sent­li­chen As­pekt der So­zia­len Markt­wirt­schaft: Der Be­griff des So­zia­len ist in die­sem Ter­mi­nus in sei­ner ur­sprüng­li­chen Be­deu­tung von Ge­sell­schaft ge­braucht, nicht im Sin­ne der zwei­ten, spä­te­ren Wort­be­deu­tung: der Mild­tä­tig­keit. Von da­her wird of­fen­kun­dig, dass die So­zia­le Markt­wirt­schaft ei­ne Ver­an­stal­tung der Ge­sell­schaft als Gan­zer ist.

5. Systematische Grundlagen des Rheinischen Kapitalismus

Der Rhei­ni­sche Ka­pi­ta­lis­mus ist, wie der Blick in die Ge­schich­te des 19. Jahr­hun­derts ge­zeigt hat, auch zu ver­ste­hen als ei­ne Ant­wort auf die sich ent­wi­ckeln­de Mo­der­ne mit den Me­ga­trends der In­di­vi­dua­li­sie­rung und Plu­ra­li­sie­rung: es geht um Hu­ma­ni­sie­rung der Wirt­schafts­ord­nung und um Ge­rech­tig­keit der ge­sell­schaft­li­chen Ord­nung. Da­mit ist auch sein sys­te­ma­ti­sches Spe­zi­fi­kum be­reits an­ge­spro­chen. 

5.1 Wirtschaft und menschenwürdige Entfaltung

„Un­ter Wirt­schaft ver­ste­hen wir das Ins­ge­samt der Ein­rich­tun­gen und Ver­fah­ren zur plan­mä­ßi­gen, dau­ern­den und ge­si­cher­ten De­ckung des mensch­li­chen Be­darfs an je­nen Sach­gü­tern und Diens­ten, die den ein­zel­nen und den So­zi­al­ge­bil­den die gott­ge­woll­te [be­zie­hungs­wei­se men­schen­wür­di­ge] Ent­fal­tung er­mög­li­chen.“[26]  So de­fi­niert Jo­seph Höff­ner, der bei dem zen­tra­len Prot­ago­nis­ten der Frei­bur­ger Schu­le, Wal­ter Eu­cken, im Jahr 1940 sei­ne wirt­schafs­wis­sen­schaft­li­che Dis­ser­ta­ti­on schrieb, in un­ter­schied­li­chen Zu­sam­men­hän­gen. Er brach­te da­mit ein Spe­zi­fi­kum des Rhei­ni­schen Ka­pi­ta­lis­mus zum Aus­druck: Wirt­schaf­ten ist kein Selbst­zweck, viel­mehr geht es um die Men­schen und die In­ter­es­sen des gan­zen Lan­des in der Ge­gen­wart und in der Zu­kunft. In der ak­tu­el­len Kri­se scheint – zu­neh­mend und mit gra­vie­ren­den Fol­gen – der zwei­te Teil der Höff­ner­schen De­fi­ni­ti­on, die Aus­rich­tung auf das um­fas­sen­de Ziel und den Sinn des mensch­li­chen Le­bens, in Ver­ges­sen­heit ge­ra­ten zu sein. Aus­ge­hend nur noch vom Ei­gen­nutz und im Ver­trau­en auf die „in­vi­si­ble han­d“ von Adam Smith hat­te man sein Au­gen­merk vor­ran­gig be­zie­hungs­wei­se so­gar aus­schlie­ß­lich auf Ge­winn und share­hol­der va­lue ge­rich­tet. Je­der Fort­schritt in die­sem Be­reich hat­te die Fra­ge nach dem Men­schen, nach sei­ner Men­schen­wür­de, nach Frei­heit und Ge­rech­tig­keit für ei­ne ge­wis­se Zeit un­ter­drü­cken kön­nen.

5.2 Wirtschaft auf der Basis von Sachkenntnis und Moral

Ei­ne der ent­schei­den­den Grund­la­gen des Rhei­ni­schen Ka­pi­ta­lis­mus, wenn nicht die zen­tra­le Grund­la­ge über­haupt ist mit­hin die Er­kennt­nis, dass Wirt­schaft und Mo­ral not­wen­dig mit­ein­an­der ver­knüpft sind. Wirt­schaf­ten hat im­mer et­was mit mensch­li­chem Ent­schei­den und Han­deln zu tun und ist dar­um nie­mals los­ge­löst von Wert­vor­stel­lun­gen, Struk­tu­ren und Hal­tun­gen. Selbst­ver­ständ­lich wird da­mit die Be­deu­tung der öko­no­mi­schen Sach­kennt­nis nicht ge­schmä­lert, es wer­den auch nicht Markt und Mo­ral ein­an­der ge­gen­über ge­stellt. Viel­mehr liegt erst in ih­rer Ver­bin­dung die Stär­ke ei­ner ethisch ver­ant­wor­te­ten und men­schen­ge­rech­ten Wirt­schafts­ord­nung. ‚Was ist sach­lich-rea­lis­tisch mög­lich?‘ und ‚Was ist ethisch ge­recht?‘ lau­ten da­bei die bei­den ent­schei­den­den Grund­fra­gen. Der Nes­tor der ka­tho­li­schen So­zi­al­leh­re, Os­wald von Nell-Bre­u­ning, sprach von ei­ner Prä­mis­se fak­ti­scher Art und ei­ner Prä­mis­se nor­ma­ti­ver Art, die zu­sam­men­kom­men müs­sen. Aber sie müs­sen eben auch zu­sam­men­kom­men und es darf nicht ei­ne auf Kos­ten der an­de­ren die Vor­herr­schaft ge­win­nen. Oder, um es mit Karl Kar­di­nal Leh­mann zu sa­gen, man soll die Öko­no­mie nicht ein­fach den Öko­no­men über­las­sen.[27] 

Papst Leo XIII., Porträtfoto.

 

5.3 Fundamentaler Bezugspunkt: Der Mensch als Person, nicht als Produktionsfaktor

Den fun­da­men­ta­len Be­zugs­punkt des Rhei­ni­schen Ka­pi­ta­lis­mus als Wirt­schafts­sys­tems bil­det das Ver­ständ­nis vom Men­schen als Per­son in sei­ner un­ver­äu­ßer­li­chen Wür­de und Frei­heit. Ih­re Wur­zeln hat die­se Grund­über­zeu­gung in der Idee  der Gott­eben­bild­lich­keit und Ge­schöpf­lich­keit des Men­schen. Sä­ku­lar-phi­lo­so­phisch fin­det das Ver­ständ­nis des Men­schen als Per­son sei­ne Be­grün­dung in der Selbst­zweck­lich­keits­for­mel des ka­te­go­ri­schen Im­pe­ra­tivs von Im­ma­nu­el Kant: „Hand­le so, dass du die Mensch­heit so­wohl in dei­ner Per­son, als in der Per­son ei­nes je­den an­de­ren je­der­zeit zu­gleich als Zweck, nie­mals bloß als Mit­tel brau­chest.“[28]  Seit Kant ist dies­be­züg­lich auch die Un­ter­schei­dung zwi­schen zwei For­men von Wert re­le­vant: „Im Reich der Zwe­cke hat al­les ent­we­der ei­nen Preis, oder ei­ne Wür­de. Was ei­nen Preis hat, an des­sen Stel­le kann auch et­was an­de­res, als Äqui­va­lent, ge­setzt wer­den; was da­ge­gen über al­len Preis er­ha­ben ist, mit­hin kein Äqui­va­lent ver­stat­tet, hat ei­ne Wür­de.“[29]  Wenn der Mensch nun kei­nen Preis und kein Äqui­va­lent hat, so kommt ihm auch ent­spre­chend die Wür­de zu, die un­be­ding­te An­er­ken­nung und Ach­tung ver­langt.

Vor die­sem Hin­ter­grund ver­bie­tet sich je­de aus­schlie­ß­li­che Funk­tio­na­li­sie­rung des Men­schen, im Kon­text der Wirt­schaft be­deu­tet das, dass es nicht dar­um ge­hen kann, den Men­schen nur als Pro­duk­ti­ons­fak­tor zu se­hen. Viel­mehr ist der per­so­na­le Fak­tor – so Höff­ner –, das hei­ßt die Be­rück­sich­ti­gung des Men­schen als Men­schen in sei­ner per­so­na­len Wür­de und Frei­heit – die not­wen­di­ge, wenn auch noch nicht hin­rei­chen­de Be­stim­mung des Men­schen im Wirt­schafts­be­trieb. Die kirch­li­che So­zi­al­ethik for­mu­liert die­sen Maß­stab jeg­li­chen Han­delns fol­gen­der­ma­ßen: „Wur­zel­grund näm­lich, Trä­ger und Ziel al­ler ge­sell­schaft­li­chen In­sti­tu­tio­nen ist und muss auch sein die mensch­li­che Per­son“ (GS 25).

Für die Wirt­schaft be­deu­tet das: Sie ist kein Selbst­zweck, son­dern sie hat im Hin­blick auf den Men­schen ei­ne „die­nen­de Stel­lun­g“. „Trotz ih­rer selbst­ver­ständ­li­chen Un­ent­behr­lich­keit“ lebt der Mensch „nicht vom Brot al­lein“.[30]  Wirt­schaf­ten hat ei­nen in­stru­men­tel­len Wert im Dienst am Men­schen und zielt auf ei­ne men­schen­wür­di­ge Ord­nung der Ge­sell­schaft.

6. Freiheit als Grundwert der Sozialen Marktwirtschaft

Wenn vor dem Hin­ter­grund des ge­ra­de skiz­zier­ten Ver­ständ­nis­ses je­de Ver­kür­zung des Men­schen auf sei­ne Be­deu­tung als Pro­duk­ti­ons­fak­tor aus­ge­schlos­sen ist, dann kann auch Frei­heit nicht al­lein öko­no­mi­sche Frei­heit mei­nen.

6.1 Ökonomische Freiheit als Teil der umfassenden menschlichen Freiheit

Die Frei­heit der Men­schen, die im Rhei­ni­schen Ka­pi­ta­lis­mus eins der Zie­le ist, hat zwar durch­aus et­was zu tun mit de­ren öko­no­mi­scher, un­ter­neh­me­ri­scher Frei­heit – Jo­seph Höff­ner for­mu­lier­te sehr tref­fend, dass „(d)ie Ge­schich­te lehrt, dass Frei­heit und Wür­de des Men­schen weit­hin vom Ord­nungs­sys­tem der Wirt­schaft ab­hän­gen“.[31]  Aber die Frei­heit des Men­schen ist nicht mit die­ser iden­tisch. Viel­mehr ist die un­ter­neh­me­ri­sche und öko­no­mi­sche Frei­heit ei­ne zen­tra­le Aus­drucks- und Er­fah­rungs­form mensch­li­cher Frei­heit und zu­gleich auch de­ren Grund­la­ge. Um die­se öko­no­mi­sche Frei­heit ver­ant­wort­lich zu rea­li­sie­ren, ist ei­ne markt­wirt­schaft­li­che Ord­nung die ent­schei­den­de Mög­lich­keits­be­din­gung. Lud­wig Er­hard be­zeich­net die „Markt­wirt­schaft […] [als] die­je­ni­ge Wirt­schafts­ord­nung, die ein Ma­xi­mum an Pro­duk­ti­vi­tät, Wohl­stands­meh­rung und per­sön­li­cher Frei­heit ver­bin­det.“[32]  Die Ein­be­zie­hung öko­no­mi­scher Frei­heit in ein Kon­zept um­fas­sen­de­rer Frei­heit macht Al­fred Mül­ler-Arm­ack auch deut­lich, wenn er vor dem Hin­ter­grund der na­tio­nal­so­zia­lis­ti­schen Er­fah­rung in sei­nem Buch Wirt­schafts­len­kung und Markt­wirt­schaft von 1946 schreibt:

„Es gilt heu­te Klar­heit dar­über zu ge­win­nen, wie we­nig es mög­lich ist, die Idea­le mensch­li­cher Frei­heit und per­sön­li­cher Wür­de zu ver­wirk­li­chen, so­fern die wirt­schaft­li­che Ord­nung, die wir wähl­ten, dem wi­der­spricht. Es ist kein Zu­fall ge­we­sen, wenn in der Ver­gan­gen­heit al­le po­li­ti­schen Sys­te­me, die die Men­schen­wür­de ver­ach­te­ten und die geis­ti­ge Frei­heit mit Fü­ßen tra­ten, auch wirt­schaft­lich den Hang zu stärks­ten Ein­grif­fen ver­rie­ten. Wer die Ge­schich­te der Wirt­schafts­len­kung in den letz­ten Jahr­zehn­ten ver­folgt, sieht, wie un­auf­halt­sam sich nicht nur das Netz wirt­schaft­li­chen Zwan­ges zu­sam­men­zog, son­dern auch po­li­ti­sche Grund­rech­te auf­ge­ho­ben und der in­di­vi­du­el­len Frei­heit der Gar­aus ge­macht wur­de.“ Aus die­ser Per­spek­ti­ve ist es üb­ri­gens auch in­ter­es­sant, die ge­gen­wär­ti­ge Ent­wick­lung in Chi­na zu be­ob­ach­ten: Ist das Be­mü­hen um wirt­schaft­li­che Frei­heit ein ernst ge­mein­tes Be­mü­hen um Frei­heit  und bringt es dann ent­spre­chen­de po­li­ti­sche und in­di­vi­du­el­le Frei­heit mit sich? Oder han­delt es sich um ei­nen rein öko­no­misch aus­ge­rich­te­ten, staat­li­chen Ka­pi­ta­lis­mus, der mit um­fas­sen­der Frei­heit im skiz­zier­ten Sin­ne nichts ge­mein­sam hat?

Der hier ge­mein­te Frei­heits­be­griff ist mit­hin ein ethisch ge­halt­vol­ler. Frei­heit wird nicht als Will­kürfrei­heit an­ge­se­hen, auch nicht nur als ne­ga­ti­ve „Frei­heit von“. Viel­mehr ar­ti­ku­liert sie sich sehr viel mehr als ei­ne po­si­ti­ve „Frei­heit zu“. Als kon­sti­tu­tiv er­weist sich die Ein­bin­dung des Grund­wer­tes Frei­heit in die Di­men­si­on der Ver­ant­wor­tung und des Ge­mein­wohls der Ge­sell­schaft. Deut­lich ist, dass der Grund­wert der Frei­heit im Kon­zept des Rhei­ni­schen Ka­pi­ta­lis­mus nie­mals oh­ne Be­zug zur Fra­ge nach der so­zia­len Ge­rech­tig­keit ver­stan­den wer­den kann. Die so­zi­al­po­li­ti­sche Di­men­si­on, letzt­lich der So­zi­al­staat, ist nicht ein Su­perad­ditum, das je nach Si­tua­ti­on auch weg­ge­las­sen wer­den könn­te.

Im Kon­zept der So­zia­len Markt­wirt­schaft meint da­mit der Be­griff „Markt­wirt­schaf­t“ folg­lich auch nicht – wie heu­te oft­mals in der so ge­nann­te „Neo­li­be­ra­lis­mus­kri­ti­k“ be­haup­tet wird[33] – ei­nen hem­mungs­lo­sen Wett­be­werb, der in ei­nen un­er­bitt­li­chen, na­he­zu so­zi­al­dar­wi­nis­ti­schen Aus­le­se­pro­zess führt. Das Sys­tem ei­ner so­zi­al ver­ant­wor­te­ten Markt­wirt­schaft, so for­mu­liert es wie­der­um kirch­li­cher­seits Papst Jo­han­nes Paul II, in sei­ner So­zia­len­zy­kli­ka Cen­te­si­mus an­nus (1991), ist ge­ra­de nicht zu ver­wech­seln mit ei­nem Wirt­schafts­sys­tem, das „die ab­so­lu­te Vor­herr­schaft des Ka­pi­tals, des Be­sit­zes der Pro­duk­ti­ons­mit­tel und des Bo­dens über die freie Sub­jek­ti­vi­tät der Ar­beit des Men­schen fest­hal­ten wil­l“ (CA 35,2) und ge­gen das dann im Na­men der Ge­rech­tig­keit an­zu­ge­hen sei. Auf der glei­chen Li­nie liegt die volks­wirt­schaft­li­che Ar­gu­men­ta­ti­on: Wohl aber sei un­ter Markt­wirt­schaft das Sys­tem zu ver­ste­hen, „in dem in der Tat die Markt­kräf­te den Wirt­schafts­ab­lauf be­stim­men, aber ein­ge­bet­tet in die Spiel­re­geln des Rechts­staa­tes, mit Ge­set­zen, die Ver­trags­frei­heit und Ei­gen­tums­rech­te ga­ran­tie­ren.“[34] 

6.3 Der Markt als Ort der Entfaltung von ökonomischer Freiheit

Das Kon­zept des Rhei­ni­schen Ka­pi­ta­lis­mus geht von der Er­kennt­nis aus, dass das pri­mä­re Ziel je­des Wirt­schaf­tens, näm­lich die op­ti­ma­le Gü­ter­ver­sor­gung al­ler Men­schen, nur zu rea­li­sie­ren ist durch die Frei­heit der Wirt­schafts­sub­jek­te, durch ih­re öko­no­mi­sche Krea­ti­vi­tät, zu de­ren Ent­fal­tung die In­stanz des Mark­tes dient. Das Kon­zept ba­siert auf dem Grund­satz, dass al­le Men­schen auf­grund ih­rer un­ter­schied­li­chen Fä­hig­kei­ten und Fer­tig­kei­ten ver­pflich­tet sind, aber auch die Fä­hig­keit ha­ben, ei­nen Bei­trag zu die­ser op­ti­ma­len Gü­ter­ver­sor­gung zu leis­ten. Mit die­ser Be­to­nung von Frei­heit und In­di­vi­dua­li­tät, aber auch von Rech­ten und Pflich­ten je­des Ein­zel­nen, schlie­ßt sich wie­der­um der Kreis zum oben skiz­zier­ten christ­lich-abend­län­di­sche Men­schen­bild mit sei­nem Ver­ständ­nis vom Men­schen als Per­son.

Oswald von Nell-Breuning, Porträtfoto. (Nell-Breuning-Berufskolleg Frechen)

 

Von ei­ner sol­chen an­thro­po­lo­gi­schen Grund­la­ge her kann man –  ganz an­ders, als po­pu­lä­re Res­sen­ti­ments es heu­te in der Ge­sell­schaft glau­ben ma­chen möch­ten – mit Recht die Schluss­fol­ge­rung zie­hen, dass ein markt­wirt­schaft­li­ches Mo­dell für die (christ­li­che) So­zi­al­ethik grund­sätz­lich zu­stim­mungs­fä­hig ist. Denn der Markt ist je­ner Ort so­zia­ler In­ter­ak­ti­on, auf dem un­ter den Be­din­gun­gen ei­nes recht­lich ge­ord­ne­ten Wett­be­werbs der Ein­zel­ne sei­ne wirt­schaft­li­che Leis­tung dem ver­glei­chen­den Ur­teil sei­ner Mit­men­schen aus­setzt.[35]  Da­mit ist der Markt auch der Ort, der not­wen­dig ist, um zen­tra­le Grund­rech­te des Men­schen rea­li­sie­ren zu kön­nen - et­wa das die freie Wahl des Be­rufs, des Ar­beits­plat­zes und des selbst­ver­ant­wort­li­chen Um­gangs mit Ei­gen­tum. Folg­lich ist die In­sti­tu­ti­on des Mark­tes nicht nur prin­zi­pi­ell zu­stim­mungs­fä­hig, son­dern viel­mehr ei­ne not­wen­di­ge In­sti­tu­ti­on und Kon­se­quenz zur Rea­li­sie­rung von Frei­heit als ei­ner Grund­di­men­si­on mensch­li­chen Le­bens. Ei­ne markt­wirt­schaft­li­che Ord­nung er­weist sich zur Rea­li­sie­rung kon­kre­ter Frei­heit mit­hin als Kor­re­lat zur po­li­ti­schen Ord­nung der De­mo­kra­tie.

6.4 Der Wettbewerb als Instrument

Bei al­ler prin­zi­pi­el­len Zu­stim­mung zu ei­nem markt­wirt­schaft­li­chen Mo­dell ist je­doch aus der Per­spek­ti­ve des Rhei­ni­schen Ka­pi­ta­lis­mus im Blick zu be­hal­ten, dass Frei­heit im­mer ge­paart sein muss mit der Wahr­neh­mung ei­ner ent­spre­chen­den Ver­ant­wor­tung, in­di­vi­du­el­le Frei­heit ist al­so zu­sam­men­zu­den­ken mit dem Stre­ben nach (so­zia­ler) Ge­rech­tig­keit. Papst Pi­us XI. (Pon­ti­fi­kat 1922-1939) bringt die­se Zu­sam­men­ge­hö­rig­keit und Dif­fe­ren­zie­rung be­reits in der So­zia­len­zy­kli­ka „Qua­dra­gesi­mo an­no“ von 1931 zum Aus­druck, wenn er deut­lich macht, dass et­wa die Wett­be­werbs­frei­heit „in­ner­halb der ge­hö­ri­gen Gren­zen be­rech­tigt und von zwei­fel­lo­sem Nut­zen“ ist, aber „un­mög­lich re­gu­la­ti­ves Prin­zip der Wirt­schaft sein“ kann und, so müss­te man er­gän­zen, schon gar nicht zum ge­sell­schafts­ge­stal­ten­den Prin­zip wer­den darf, in dem Wett­be­werb gleich­ge­setzt wird „mit dem Über­le­ben des Stär­ke­ren, d.i. all­zu oft des Ge­walt­tä­ti­ge­ren und Ge­wis­sen­lo­se­ren“ (QA 107). Vor dem Hin­ter­grund der so­zia­len Wirk­lich­keit des 19. und frü­hen 20. Jahr­hun­derts und in Front­stel­lung ge­gen ei­nen men­schen­ver­ach­ten­den So­zi­al­dar­wi­nis­mus er­hal­ten die Aus­sa­gen ge­gen das Prin­zip der Wett­be­werbs­frei­heit ei­ne ge­wis­se Plau­si­bi­li­tät. So hei­ßt es in dem Text wei­ter, dass die Wett­be­werbs­frei­heit der Len­kung durch hö­he­re und ed­le­re Kräf­te be­dür­fe, die als „so­zia­le Ge­rech­tig­keit und so­zia­le Lie­be“ be­nannt wer­den (QA 88). In die Ter­mi­no­lo­gie des Rhei­ni­schen Ka­pi­ta­lis­mus über­setzt be­deu­ten die­se For­mu­lie­run­gen: Wirt­schaft­li­cher Wett­be­werb ist dem­zu­fol­ge ein not­wen­di­ges Mit­tel, nie­mals aber ein Selbst­zweck be­zie­hungs­wei­se Ziel der So­zia­len Markt­wirt­schaft.

Ludwig Erhard mit seinem Buch, Foto: Doris Adrian. (Bundesarchiv, B 145 Bild-F004204-0003)

 

7. Der Grundwert der (sozialen) Gerechtigkeit

Das Spe­zi­fi­kum des Rhei­ni­schen Ka­pi­ta­lis­mus ist die kon­sti­tu­ti­ve Ver­knüp­fung der bei­den ent­schei­den­den Grund­wer­te Frei­heit und so­zia­ler Aus­gleich resp. so­zia­le Ge­rech­tig­keit. Da­mit kor­re­spon­die­ren die Struk­tur­ele­men­te Markt und Ge­mein­wohl­au­to­ri­tät, so, wie es die (Frei­bur­ger) Ver­tre­ter des Ordo­li­be­ra­lis­mus und die (rhei­nisch den­ken­den) Vä­ter der So­zia­len Markt­wirt­schaft for­mu­liert ha­ben.

7.1 Sozialpolitik, Gesellschaftspolitik und Partizipation

So­zia­le Ge­rech­tig­keit, die zwei­te Säu­le der So­zia­len Markt­wirt­schaft, meint nicht vor­ran­gig die durch den Staat ge­leis­te­te und ge­währ­leis­te­te mög­lichst weit­ge­hen­de öko­no­mi­sche Gleich­heit und Ab­si­che­rung al­ler Bür­ger. Sie meint auch nicht pri­mär das Er­geb­nis staat­li­cher Um­ver­tei­lungs­po­li­tik, die im Nach­hin­ein durch den Markt ent­stan­de­ne Un­gleich­hei­ten be­sei­ti­gen soll. Wal­ter Eu­cken sieht es als we­sent­lich an, „dass die ei­gent­li­che So­zi­al­po­li­tik et­was ganz an­de­res ist, als was man frü­her häu­fig dar­un­ter ver­stand. Hier Löh­ne er­hö­hen, dort Un­fäl­le in den Be­trie­ben ver­hin­dern oder Wohl­fahrts­ein­rich­tun­gen schaf­fen usw., ist zwar wich­tig, aber es ge­nügt nicht. Die­se punk­tu­el­le Be­hand­lung der Pro­ble­me muss zu­rück­tre­ten. Aber nicht, weil das An­lie­gen der So­zi­al­po­li­tik im bis­he­ri­gen Sin­ne ne­ben­säch­lich ge­wor­den wä­re, im Ge­gen­teil. Weil es so vor­dring­lich ist, muss es für das ge­sam­te Den­ken über die Wirt­schafts­ord­nung mit­be­stim­mend sein.“[36]  Mit an­de­ren Wor­ten: So­zi­al­po­li­tik zielt nicht vor­ran­gig auf Ver­tei­lungs­ge­rech­tig­keit, son­dern viel­mehr ist das Ziel so­zia­le Ge­rech­tig­keit als Be­tei­li­gungs­ge­rech­tig­keit. Bei der Be­tei­li­gungs­ge­rech­tig­keit han­delt es sich um die zen­tra­le Auf­ga­be ei­ner je­den po­li­ti­schen Ge­mein­schaft, die es mit der Men­schen­wür­de und den dar­aus re­sul­tie­ren­den Frei­heits­rech­ten und Mit­wir­kungs­rech­ten ernst meint. Sie hat sich auch um die Vor­aus­set­zun­gen zu küm­mern, oh­ne die sich ein men­schen­wür­di­ges Le­ben kaum rea­li­sie­ren lässt. Dar­in liegt auch letzt­lich die ent­schei­den­de Be­grün­dung des So­zi­al­staa­tes be­zie­hungs­wei­se der so­zi­al­po­li­ti­schen Kom­po­nen­te des Kon­zepts So­zia­ler Markt­wirt­schaft. Kon­kret be­deu­tet das, dass die Po­li­tik sich um die Schaf­fung von Rah­men­be­din­gun­gen zu küm­mern hat, in­ner­halb de­rer die ein­zel­nen Bür­ger und klei­ne­ren Ein­hei­ten agie­ren und Wirt­schafts­pro­zes­se ge­stal­ten kön­nen. Dies wä­re das Kon­zept des er­mög­li­chen­den oder sub­si­diä­ren So­zi­al­staats, das zu­min­dest ge­gen­wär­tig wie­der stär­ker ins Be­wusst­sein zu rü­cken ist. War So­zi­al­po­li­tik im Kon­text der frü­hen In­dus­tria­li­sie­rung oder der Nach­kriegs­zeit eher ge­rich­tet auf die ma­te­ri­el­le Si­che­rung des (Über-)Le­bens, so hat in­zwi­schen ei­ne deut­li­che Ak­zent­ver­schie­bung statt­ge­fun­den. Nils Gold­schmidt weist dar­auf hin, dass selbst­ver­ständ­lich ei­ne „ma­te­ri­el­le Min­dest­aus­stat­tung nach wie vor ei­ne Vor­aus­set­zung zur Ein­be­zie­hung in die Ge­sell­schaf­t“ [37]  ist, dass aber der Schwer­punkt heu­te an an­de­rer Stel­le liegt: So­zi­al­po­li­tik wird zur um­fas­sen­den Ge­sell­schafts­po­li­tik. Die­se Auf­fas­sung liegt da­bei durch­aus auf der Li­nie der Vä­ter der So­zia­len Markt­wirt­schaft. So hei­ßt es be­reits bei Win­fried Schrei­ber (1904-1975), dem „Va­ter“ des Ge­ne­ra­tio­nen­ver­tra­ges: „Wenn wir heu­te noch So­zi­al­po­li­tik brau­chen - und wir brau­chen sie in der Tat -, dann müs­sen wir zu­min­dest ei­ne sau­be­re Zwei­tei­lung vor­neh­men. Es gilt zu sor­gen für ei­ne Fül­le von schuld­los Dar­ben­den, von schuld­los in Not Ge­ra­te­nen, von Men­schen, die sich tat­säch­lich nicht sel­ber hel­fen kön­nen. [...] Das wol­len wir tun. Aber ich wür­de das nicht mehr So­zi­al­po­li­tik nen­nen. Man wird ei­nen deut­li­chen und sau­be­ren Strich ma­chen müs­sen zwi­schen Ver­sor­gung und Für­sor­ge auf der ei­nen Sei­te und kon­struk­ti­ver So­zi­al­po­li­tik auf der an­de­ren."[38] 

Die von Schrei­ber ge­mein­te kon­struk­ti­ve So­zi­al­po­li­tik ist, um es mit Nils Gold­schmidt zu sa­gen, „we­ni­ger ei­ne quan­ti­ta­ti­ve als viel­mehr ei­ne qua­li­ta­ti­ve So­zi­al­po­li­tik.“ [39]  Qua­li­ta­ti­ve So­zi­al­po­li­tik zielt auf Par­ti­zi­pa­ti­on und In­klu­si­on, de­ren not­wen­di­ge, aber nicht hin­rei­chen­de Vor­aus­set­zung die Teil­ha­be am Markt ist. Die öko­no­misch-ma­te­ri­el­le Si­cher­heit reicht al­lein nicht aus, um in­di­vi­du­el­le Teil­ha­be zu ga­ran­tie­ren. Hin­zu­kom­men müs­sen die Di­men­sio­nen der Fa­mi­li­en­po­li­tik, der Bil­dungs­po­li­tik und der Ar­beits­markt­po­li­tik, um öko­no­mi­sche und um­fas­sen­de­re ge­sell­schaft­li­che Teil­ha­be zu er­mög­li­chen.

7.2 Eine Kultur der Solidarität und der Subsidiarität

Ethisch sind der So­zi­al­staat und die So­zi­al­po­li­tik zu ver­ste­hen als Aus­druck ei­ner „Kul­tur der So­li­da­ri­tät“. Da­bei geht es nicht um ei­ne In­stru­men­ta­li­sie­rung der so­zia­len Di­men­si­on der mensch­li­chen Per­son, der zu­fol­ge So­li­da­ri­tät nur da­zu dien­te, die Men­schen mög­lichst leis­tungs­stark am Markt teil­neh­men zu las­sen. Rich­tig und um­fas­send ver­stan­den, ist die So­li­da­ri­tät viel­mehr kon­sti­tu­tiv für das Ge­lin­gen mensch­li­chen Le­bens über­haupt. Ge­mäß ih­rer Be­stim­mung ist al­len Men­schen An­teil an den Gü­tern der Er­de zu ge­ben. Um die­ses Ziel zu er­rei­chen, ge­nügt aber die In­sti­tu­ti­on des Mark­tes mit ih­rer Ga­ran­tie wirt­schaft­li­cher Frei­heit, Selbst­be­stim­mung und Hand­lungs­fä­hig­keit nicht. Ein Blick auf die „Markt­schwa­chen“ und „Markt­pas­si­ven“, al­so auf die, die noch nicht, nicht mehr oder über­haupt nicht an Markt und Ge­sell­schaft teil­neh­men kön­nen, macht ei­ne we­sent­li­che Im­pli­ka­ti­on die­se Prin­zips deut­lich: Nicht ein­fach­hin völ­li­ge Ni­vel­lie­rung ist in der ge­gen­wär­ti­gen Si­tua­ti­on der So­zi­al­staats­de­bat­te an­ge­sagt. Es geht viel­mehr dar­um, die Leis­tungs­be­reit­schaft, Leis­tungs­fä­hig­keit und tat­säch­li­che Leis­tung der (Markt-)Ak­ti­ven in An­spruch zu neh­men, da­mit So­li­da­ri­tät rea­li­siert wer­den kann. Zu­nächst müs­sen die Leis­tungs­fä­hi­gen et­was leis­ten und auch leis­ten dür­fen, da­mit dann die­je­ni­gen, die auf die So­li­da­ri­tät und Un­ter­stüt­zung an­ge­wie­sen sind, die Hil­fe (im Sin­ne ei­ner ‚Hil­fe zur Selbst­hil­fe‘) auch in An­spruch neh­men kön­nen. Hier­in ar­ti­ku­liert sich das Sub­si­dia­ri­täts­prin­zip.

8. Rahmenordnung und individuelle Freiheit

Der Grund­ge­dan­ke, der al­le Ver­tre­ter des er­wähn­ten (Frei­bur­ger) Ordo­li­be­ra­lis­mus auf der ei­nen Sei­te und das Wirt­schafts­ord­nungs­mo­dell der So­zia­len Markt­wirt­schaft auf der an­de­ren Sei­te mit­ein­an­der ver­bin­det, be­steht dar­in, durch ei­ne (staat­lich ge­setz­te und ga­ran­tier­te) Rah­me­n­ord­nung Frei­heit im markt­wirt­schaft­li­chen Agie­ren zu er­mög­li­chen. Die­se Frei­heit kon­kre­ti­siert sich als ver­ant­wor­te­tes Han­deln im Blick auf das Ge­mein­wohl und die Ge­rech­tig­keit.

8.1 Primat der Ordnungspolitik

Da­mit der freie Markt, der, so for­mu­liert Jo­han­nes Paul II, in sei­ner letz­ten So­zia­len­zy­kli­ka, „das wirk­sams­te In­stru­ment für den Ein­satz der Res­sour­cen und für die bes­te Be­frie­di­gung der Be­dürf­nis­se zu sein (scheint)“ (CA 34; Her­vor­he­bung durch die Ver­fas­se­rin), über­haupt funk­tio­nie­ren kann, be­darf es not­wen­dig der Struk­tu­ren und In­sti­tu­tio­nen. Sie sol­len es ten­den­zi­ell je­dem Mit­glied der Ge­sell­schaft er­mög­li­chen, ent­spre­chend den ei­ge­nen Wert- und Ziel­vor­stel­lun­gen zu agie­ren. Struk­tu­ren ha­ben da­mit ei­ne ethisch höchst re­le­van­te Funk­ti­on: Sie sind frei­heits­er­mög­li­chend und frei­heits­sta­bi­li­sie­rend und wir­ken da­mit auch ent­las­tend - für den ein­zel­nen und für die Ge­sell­schaft. Die un­ver­zicht­ba­re Rah­me­n­ord­nung für ei­ne Markt­wirt­schaft ist nun so an­zu­le­gen, dass die Vor­tei­le des Mark­tes, die in­di­vi­du­el­le und ge­sell­schaft­li­che Aus­rich­tung auf die Frei­heit, er­mög­licht wer­den. Zu­gleich aber müs­sen die Nach­tei­le ab­ge­fe­dert wer­den – hier geht es vor al­lem um den Blick auf die so ge­nann­te „Markt­pas­si­ven“ be­zie­hungs­wei­se „Markt­schwa­chen“, die nicht al­lein oder gar nicht über den Markt ihr Über­le­ben si­chern kön­nen. In con­cre­to geht es bei die­ser Rah­me­n­ord­nung we­sent­lich um die Be­reit­stel­lung öf­fent­li­cher Gü­ter: die Ab­si­che­rung exis­ten­ti­el­ler Ri­si­ken (Krank­heit, Un­fall, Ar­beits­lo­sig­keit, Al­ter, Pfle­ge­si­tua­ti­on) in der So­zi­al­ver­si­che­rung so­wie um wei­te­re so­zi­al­po­li­ti­sche Maß­nah­men. Auch er­wähnt sei auf Ver­wal­tungs­ebe­ne die Not­wen­dig­keit ei­nes Kar­tell­am­tes zur Ver­mei­dung von Mo­no­pol­bil­dung und da­mit zur Ver­mei­dung von Macht­aus­übung.

8.2 Institutionenethik und individuelles Ethos

Zen­tral an die­sem An­satz, der sich so­wohl im Ordo­li­be­ra­lis­mus als auch in der mo­der­nen In­sti­tu­tio­nen­ethik (Karl Ho­mann) fin­det, ist die Be­to­nung der – vor al­lem in ei­ner hoch kom­ple­xen Ge­sell­schafts­ord­nung wie der un­se­ren – un­ver­zicht­ba­ren Be­deu­tung der Struk­tu­ren und Rah­me­n­ord­nung, in­ner­halb de­rer, ganz dem Sub­si­dia­ri­täts­prin­zip ent­spre­chend, die Ein­zel­nen agie­ren kön­nen. Zu­gleich aber gilt es sich be­wusst zu hal­ten – und das hat die Fi­nanz­markt­kri­se uns nur all­zu deut­lich vor Au­gen ge­führt –, dass Struk­tu­ren, so wich­tig sie auch sind – nicht al­les sind. Mit Struk­tu­ren und ge­lun­ge­nen Ge­set­zen al­lein lässt sich das Markt­ge­sche­hen nicht so len­ken und or­ga­ni­sie­ren, das es auf die­sem me­cha­nis­ti­schen Weg „au­to­ma­ti­sch“ so­zia­le Ge­rech­tig­keit und so­zia­len Aus­gleich pro­du­ziert und na­he­zu zwangs­läu­fig er­reicht. Viel­mehr lässt ei­ne Rah­me­n­ord­nung im­mer Hand­lungs­spiel­räu­me, die von den ein­zel­nen aus­zu­fül­len sind. So kom­men auch hier mo­ra­li­sche Grund­über­zeu­gun­gen der ein­zel­nen Ak­teu­re zum Tra­gen, un­ab­hän­gig da­von, ob da­durch ein wirt­schaft­li­cher Vor­teil ent­steht oder nicht. Zu­dem braucht es im­mer auch die kri­ti­sche Be­glei­tung und Über­prü­fung sol­cher Re­gel­wer­ke. Po­si­tiv ge­wen­det hei­ßt das in Be­zug auf den Be­reich des Wirt­schaf­tens: Da­mit das Wirt­schaf­ten sei­nen Sinn, näm­lich ein men­schen­wür­di­ges Da­sein mög­lich zu ma­chen, auch wirk­lich er­fül­len kann, be­darf es der recht­li­chen Rah­me­n­ord­nung und des per­sön­li­chen Ethos, ei­nes Mit­ein­an­ders von Struk­tur- und In­di­vi­du­al­ethik.

9. Aktuelle Herausforderungen und zukünftige Perspektiven

Das Wirt­schafts­ord­nungs­mo­dell der So­zia­len Markt­wirt­schaft ist, wenn es auch be­reits vie­le vor­he­ri­ge Über­le­gun­gen und Wei­chen­stel­lun­gen gab, kon­kret ent­stan­den in der Nach­kriegs­zeit. Es „war der zen­tra­le Schlüs­sel für den Wie­der­auf­bau des kriegs­zer­stör­ten West­deutsch­land und gleich­zei­tig Schlüs­sel für den po­li­ti­schen Er­folg des christ­lich-de­mo­kra­ti­schen und christ­lich-so­zia­len La­gers nach 1949.“[40]  Heu­te muss sich die So­zia­le Markt­wirt­schaft neu­en Her­aus­for­de­run­gen stel­len, die vor al­lem zu tun ha­ben mit dem ent­schei­den­den ge­gen­wär­ti­gen Me­ga­trend: der Glo­ba­li­sie­rung. Sie wer­den in den ein­lei­tend be­reits ge­nann­ten Fi­nanz- und Wirt­schafts-, Wäh­rungs- und Schul­den­kri­se kon­kret und drän­gend. Grund­le­gend do­ku­men­tie­ren sich die­se Her­aus­for­de­run­gen dar­in, dass neue so­zia­le und auch öko­lo­gi­sche Fra­gen auf ei­ne zu­min­dest eu­ro­pa­wei­te, aber mehr noch: auf ei­ne welt­wei­te markt­wirt­schaft­li­che Ord­nung drän­gen. Schon in den 80-er Jah­ren des ver­gan­ge­nen Jahr­hun­derts gab es das Be­mü­hen um ei­ne ge­rech­te Welt­wirt­schafts­ord­nung, heu­te zie­len die Be­stre­bun­gen vor al­lem auf ei­ne glo­ba­le Rah­me­n­ord­nung ab. Hier klingt ein zen­tra­les Ele­ment der So­zia­len Markt­wirt­schaft an. Die De­bat­te, ob das Mo­dell der So­zia­len Markt­wirt­schaft be­zie­hungs­wei­se des Rhei­ni­schen Ka­pi­ta­lis­mus eu­ro­pa- oder gar welt­weit taug­lich ist, wird in­ten­siv und kon­tro­vers ge­führt.

Walter Eucken, Porträtfoto. (Walter-Eucken-Institut der Universität Freiburg)

 

Im­mer­hin ist die So­zia­le Markt­wirt­schaft be­reits im „Lis­sa­bon Ver­tra­g“ der Eu­ro­päi­schen Uni­on in Art. 3 Abs. 3 auf­ge­führt. Dort hei­ßt es: „Sie [sc. die Eu­ro­päi­sche Uni­on] wirkt auf die nach­hal­ti­ge Ent­wick­lung Eu­ro­pas auf der Grund­la­ge ei­nes aus­ge­wo­ge­nen Wirt­schafts­wachs­tums und von Preis­sta­bi­li­tät, ei­ne in ho­hem Ma­ße wett­be­werbs­fä­hi­ge so­zia­le Markt­wirt­schaft, die auf Voll­be­schäf­ti­gung und so­zia­len Fort­schritt ab­zielt, so­wie ein ho­hes Maß an Um­welt­schutz und Ver­bes­se­rung der Um­welt­qua­li­tät hin.“ [41]  Da­mit ist die So­zia­le Markt­wirt­schaft als Ziel mit Blick auf ei­nen eu­ro­päi­schen Bin­nen­markt for­mu­liert. Sie muss sich nun in­sti­tu­tio­nell be­wäh­ren in Aus­ein­an­der­set­zung mit an­de­ren wirt­schafts­po­li­ti­schen Mo­del­len. In der For­mu­lie­rung des Lis­sa­bon-Ver­trags wer­den  wie­der­um die bei­den ver­schie­dent­lich ge­nann­ten und mit­ein­an­der ver­wo­be­nen Kom­po­nen­ten deut­lich: Es geht so­wohl um den frei­en Wett­be­werb ei­ner­seits als auch um die so­zia­le Si­cher­heit be­zie­hungs­wei­se den so­zia­len Fort­schritt und Nach­hal­tig­keit an­de­rer­seits. Für das hier ge­mein­te Nach­hal­tig­keits­kon­zept ist die Ver­net­zung der Zie­le ‚öko­no­mi­sche Ef­fi­zi­enz‘, ‚so­zia­ler Aus­gleich‘ und ‚öko­lo­gi­sche Ver­träg­lich­keit‘ kon­sti­tu­tiv.

Das Leit­bild der Nach­hal­tig­keit ver­weist auf die be­reits ge­nann­te Ver­bin­dung zwi­schen Frei­heit und Ver­ant­wor­tung. Ver­ant­wor­tung für al­le Men­schen welt­weit und für die nach­fol­gen­den Ge­ne­ra­tio­nen ist bei den Vä­tern der So­zia­len Markt­wirt­schaft noch nicht ex­pres­sis ver­bis an­ge­spro­chen, ist aber hier an­zu­schlie­ßen als ei­ne Di­men­si­on, die, be­zo­gen auf die Ge­gen­wart und Zu­kunft, das ur­sprüng­lich Ge­mein­te ent­fal­ten kann. Das Nach­hal­tig­keits­pa­ra­dig­ma hat sich ent­wi­ckelt zu ei­nem in­te­gra­ti­ven Kon­zept, das da­von aus­geht, dass die ge­sam­te Ent­wick­lung auf Zu­kunft hin den Be­dürf­nis­sen der heu­ti­gen Ge­ne­ra­ti­on ent­spre­chen soll, oh­ne da­bei aber die Mög­lich­kei­ten kom­men­der Ge­ne­ra­tio­nen zu ge­fähr­den. Der ent­schei­den­de so­zi­al­ethi­sche Aus­gangs­punkt ist vor al­lem die glo­ba­le und die in­ter­ge­ne­ra­tio­nel­le Ge­rech­tig­keit, die rea­li­siert wer­den muss durch ei­ne so­li­da­ri­sche Grund­aus­rich­tung, die nicht nur die jetzt le­ben­den Men­schen im Blick hat, son­dern ei­ne zeit­li­che Aus­deh­nung er­fährt auf die kom­men­den Ge­ne­ra­tio­nen so­wie  geo­gra­phi­sche auf al­le welt­weit le­ben­den Men­schen, vor al­lem die Ar­men. So ge­se­hen, ist das Kon­zept der Nach­hal­tig­keit als Er­wei­te­rung des So­li­da­ri­täts­prin­zips um ei­ne di­a­chro­ne Di­men­si­on zu ver­ste­hen.

Die Fra­ge der Nach­hal­tig­keit im­pli­ziert je­doch auch für die Ge­gen­wart ei­ne zen­tra­le Fra­ge: Wol­len wir un­se­re Ver­ant­wor­tung für die kom­men­den Ge­ne­ra­tio­nen wahr­neh­men und ih­nen ei­ne Welt hin­ter­las­sen, die ih­nen Chan­cen auf Le­ben und Ent­wick­lung, auf Men­schen­wür­de und Wohl­fahrt gibt? Wil­helm Röp­ke war es, der die heu­te an­ge­sichts der Wirt­schafts­kri­se wie­der höchst ak­tu­el­le und prä­sen­te Er­kennt­nis, dass Markt nicht al­les und nicht al­les Markt ist, in die prä­gnan­te For­mel „Jen­seits von An­ge­bot und Nach­fra­ge“ ge­klei­det hat: Ge­ra­de jen­seits des Mark­tes ent­schei­de sich das Ge­lin­gen der markt­wirt­schaft­li­chen Ord­nung.

Sprach die CDU in ih­rem Dis­kus­si­ons­pa­pier von 2001 noch von ei­ner neu­en so­zia­len Markt­wirt­schaft, so hat es sich in den letz­ten Jah­ren eher ein­ge­bür­gert, von der öko­lo­gisch-so­zia­len Markt­wirt­schaft zu spre­chen. Da­mit möch­te man auf­merk­sam ma­chen auf die un­um­gäng­li­che Not­wen­dig­keit, die öko­lo­gi­sche Di­men­si­on und das Leit­bild der Nach­hal­tig­keit kon­sti­tu­tiv in das Kon­zept So­zia­ler Markt­wirt­schaft ein­zu­be­zie­hen. Der Blick auf die sys­te­ma­ti­schen Grund­la­gen die­ses Wirt­schafts­ord­nungs­mo­dells hat in­des deut­lich ge­zeigt, dass das Prin­zip der Nach­hal­tig­keit nicht et­was ganz Neu­es, bis da­to gar nicht Ge­kann­tes in un­ser Wirt­schafts­ord­nungs­mo­dell ein­trägt. Es kommt nicht ad­di­tiv zur so­zia­len Di­men­si­on der Markt­wirt­schaft nun noch ei­ne wei­te­re Di­men­si­on hin­zu. Dar­um braucht es auch kei­ne ‚neue So­zia­le Markt­wirt­schaft‘. Ge­hen wir aus von den zen­tra­len Ele­men­ten Frei­heit und Ver­ant­wor­tung, Ge­rech­tig­keit und Ge­mein­wohl, so ist die Fra­ge der Nach­hal­tig­keit ei­ne Aus­fal­tung des so­zia­len Ele­ments glo­bal und auf Zu­kunft be­zo­gen. Das so­zia­le Ele­ment war da­bei schon für die Vä­ter der So­zia­len Mark­wirt­schaft hin­sicht­lich des Ge­lin­gens von Markt und Wett­be­werb kon­sti­tu­tiv: Das So­zia­le be­zie­hungs­wei­se die So­zi­al­po­li­tik, so be­tont Nils Gold­schmidt mit Blick auf Wal­ter Eu­cken, „ist we­der ge­gen noch für den Markt, sie ist als So­zi­al­po­li­tik mit dem Markt zu ver­ste­hen, als ei­ne Po­li­tik der so­zia­len Ord­nung.“[42]  Es geht al­so nicht um ei­ne Po­li­tik, die das für ei­nen mehr oder we­ni­ger gro­ßen Teil der Ge­sell­schaft even­tu­ell schäd­li­che Er­geb­nis des Markt­ge­sche­hens nach­träg­lich ab­zu­mil­dern oder zu kor­ri­gie­ren sucht. Auch die Sor­ge um die kom­men­den Ge­ne­ra­tio­nen und die welt­wei­te Ent­wick­lung wä­re in sol­cher Les­art ein As­pekt, der ex post be­dacht und von dem aus dann ge­ge­be­nen­falls im Nach­hin­ein Er­geb­nis­se markt­wirt­schaft­li­chen Han­delns kor­ri­giert wer­den müss­ten. Viel­mehr muss auch As­pekt der Nach­hal­tig­keit im Kon­text des So­zia­len be­reits bei den Über­le­gun­gen zur Aus­ge­stal­tung der Wirt­schafts­ord­nung mit­lau­fen.

Da al­ler­dings die öko­lo­gi­sche Fra­ge und das Prin­zip der Nach­hal­tig­keit erst in den letz­ten Jahr­zehn­ten in ih­rer wach­sen­den und für das Über­le­ben der Welt­ge­sell­schaft kon­sti­tu­ti­ven Be­deu­tung er­kannt wur­de, ist es durch­aus sinn­voll, die­sen As­pekt ge­son­dert in der Kenn­zeich­nung des Wirt­schafts­ord­nungs­sys­tems zu be­nen­nen, um sei­ne ho­he Re­le­vanz her­vor­zu­he­ben.

9.1 Europa und die ökologische Erneuerung der Sozialen Marktwirtschaft

  Fra­gen der Nach­hal­tig­keit las­sen sich vor dem Hin­ter­grund der sich glo­ba­li­sie­ren­den Welt nicht mehr in na­tio­nal­staat­li­chen Al­lein­gän­gen lö­sen. Für die deut­sche Per­spek­ti­ve ist in ei­nem letz­ten die Fra­ge nach der Rol­le min­des­tens Eu­ro­pas bei der öko­lo­gi­schen Er­neue­rung der So­zia­len Markt­wirt­schaft mit zu be­den­ken. Zwei Punk­te sind hier wich­tig:

(1) Die Na­tur ist ein glo­ba­les Ge­mein­gut, die Er­hal­tung der na­tür­li­chen Res­sour­cen mit­hin ei­ne Auf­ga­be, die nur welt­weit an­ge­gan­gen wer­den kann, denn „(k)ein ein­zel­nes Land wird in der La­ge sein, die not­wen­di­gen Schutz­maß­nah­men al­lein zu er­grei­fen.“[43]  Das Prin­zip der Nach­hal­tig­keit an­ge­mes­sen zu rea­li­sie­ren, kann mit­hin nicht Auf­ga­be und Ver­pflich­tung Eu­ro­pas be­zie­hungs­wei­se der EU al­lein sein. Es müs­sen glo­ba­le Lö­sun­gen ent­wi­ckelt wer­den.  Al­ler­dings kommt in die­sem Zu­sam­men­hang dann der „Grund­satz der ge­mein­sa­men, aber un­ter­schied­li­chen Ver­ant­wort­lich­kei­ten“[44]  zum Tra­gen. Die­ses Prin­zip, so das Do­ku­ment der CO­ME­CE von 2008, „wur­de von al­len Ver­trags­staa­ten der Kli­ma­rah­men­kon­ven­ti­on der Ver­ein­ten Na­tio­nen an­ge­nom­men. Es er­kennt die glo­ba­le Ver­ant­wor­tung zum Schutz des Kli­ma­sys­tems un­se­rer Er­de an und strebt ei­ne welt­wei­te Ko­ope­ra­ti­on an. Dies führt im Hin­blick auf In­halt und Be­din­gun­gen zu un­ter­schied­li­chen Ver­pflich­tun­gen. Die In­dus­trie­staa­ten ein­schlie­ß­lich der Mit­glied­staa­ten der Eu­ro­päi­schen Uni­on tra­gen hier ei­ne be­son­de­re Ver­ant­wor­tung.“ [45]  ­Eu­ro­pa kann al­so die öko­lo­gi­sche Pro­ble­ma­tik nicht al­lein lö­sen und die Di­men­si­on der Nach­hal­tig­keit nicht al­lein rea­li­sie­ren. Aber auf der Ba­sis der ei­ge­nen spe­zi­fi­schen tech­no­lo­gi­schen und fi­nan­zi­el­len Mit­tel so­wie auch auf der Ba­sis der brei­ten Er­fah­rung mit sol­chem ko­ope­ra­ti­vem Han­deln ist Eu­ro­pa ver­pflich­tet, ei­nen ent­spre­chen­den und spe­zi­fi­schen Bei­trag zu leis­ten. Die Eu­ro­päi­sche Uni­on sei – so die CO­ME­CE - auf­ge­for­dert, da­bei be­son­ders je­ne im Blick zu ha­ben, zu de­ren Las­ten ei­ne Nicht-Be­rück­sich­ti­gung der Nach­hal­tig­keits­di­men­si­on am ehes­ten geht, näm­lich die Ar­men welt­weit und die künf­ti­gen Ge­ne­ra­tio­nen.

(2) Ein zen­tra­ler Punkt im Kon­zept der So­zia­len Markt­wirt­schaft und bei ih­ren wis­sen­schaft­li­chen Vä­tern ist die Rol­le des Staa­tes, der als ein star­ker und wirk­mäch­ti­ger, aber nicht als ein to­ta­ler Staat ge­dacht wird. Er soll mit­tels ei­ner staat­li­chen Ord­nung – so, wie Jah­re spä­ter der Wirt­schafts­ethi­ker Karl Ho­mann spricht be­reits Lud­wig Er­hard von den Spiel­re­geln – den wirt­schaft­li­chen Pro­zess so steu­ern, dass die Zie­le der Ge­rech­tig­keit und des Ge­mein­wohls an­ge­strebt wer­den. Wenn es nun um ei­ne er­neu­er­te So­zia­le Markt­wirt­schaft im Kon­text Eu­ro­pas geht, dann ist ge­nau hier­mit ein pro­ble­ma­ti­scher Punkt mar­kiert: Eu­ro­pa hat kei­ne sol­che, ei­nem Ein­zel­staat ver­gleich­ba­re staat­li­che Au­to­ri­tät, die die­se Rah­me­n­ord­nung for­mu­lie­ren und durch­set­zen könn­te – auch wenn die Ru­fe nach der Stär­kung zen­tra­ler Kom­pe­ten­zen ak­tu­ell mit Blick auf die Re­gu­lie­rung der Fi­nanz­märk­te nicht ver­stum­men. Das glei­che Pro­blem fin­det sich auf der Welt­ebe­ne in noch grö­ße­rem Um­fang. Si­cher­lich gibt es auf der Ebe­ne der EU In­sti­tu­tio­nen, die ge­eig­net und ver­pflich­tet sind, für die Im­ple­men­tie­rung und Durch­set­zung be­stimm­ter Ele­men­te ei­ner Wirt­schafts­ord­nung zu sor­gen, aber das un­ter­schei­det sich deut­lich von dem staat­li­chen Han­deln in ei­ner Volks­wirt­schaft. Ei­ne eu­ro­pa­wei­te oder so­gar glo­ba­le So­zia­le Markt­wirt­schaft wür­de ei­ne spe­zi­fi­sche struk­tu­rel­le Aus­ge­stal­tung be­nö­ti­gen, in­des gibt es hier mo­men­tan noch deut­li­che De­fi­zi­te theo­re­ti­scher und auch po­li­ti­scher Art. 

Ei­nen für die­sen Kon­text höchst be­deu­ten­den Ak­teur be­tont Papst Be­ne­dikt XVI. (Pon­ti­fi­kat seit 2005), der in sei­ner ers­ten So­zia­len­zy­kli­ka Ca­ri­tas in ve­ri­ta­te (2009) ein neu­es Ele­ment in die Tra­di­ti­on der kirch­li­chen So­zi­al­leh­re ein­ge­führt hat: Er hebt her­vor, dass die Wirt­schafts­tä­tig­keit nicht nur, wie ge­mein­hin im­mer for­mu­liert, zwei, son­dern drei Sub­jek­te hat: ne­ben Markt und Staat noch die Zi­vil­ge­sell­schaft (vgl. CiV 38). Der Staat kön­ne die Sor­ge für die So­li­da­ri­tät nicht al­lein tra­gen. Da­für be­dür­fe es, so der Papst, der Zi­vil­ge­sell­schaft. Ge­meint sind da­mit dann et­wa die Nicht­re­gie­rungs­or­ga­ni­sa­tio­nen, Ver­ei­ne, Ver­bän­de, Stif­tun­gen, Non-pro­fit-Un­ter­neh­men, In­sti­tu­tio­nen wie der deut­sche Ca­ri­tas­ver­band oder Ca­ri­tas in­ter­na­tio­na­lis. Die Zi­vil­ge­sell­schaft sei un­ter den Be­din­gun­gen der Ge­gen­wart zur Rea­li­sie­rung von Ge­rech­tig­keit un­ab­ding­bar. Im Blick auf die Fra­ge der Nach­hal­tig­keit und der Öko­lo­gie ist her­vor­zu­he­ben, dass es die be­son­de­re Fä­hig­keit die­ser zi­vil­ge­sell­schaft­li­chen Ak­teu­re ist, ganz im Sin­ne des Grund­sat­zes der Sub­si­dia­ri­tät und So­li­da­ri­tät durch ef­fek­ti­ve Kon­tak­te und Struk­tu­ren schnell und früh­zei­tig auf Pro­ble­me auf­merk­sam zu ma­chen, aber auch an neu­ar­ti­gen Lö­sungs­we­gen und -mög­lich­kei­ten für schwie­ri­ge Fra­ge­stel­lun­gen mit­zu­ar­bei­ten und die­se wie­der­um so­wohl den po­li­ti­schen Kräf­ten, als auch in die Ge­sell­schaft und den öf­fent­li­chen Dis­kurs hin­ein zu kom­mu­ni­zie­ren. Von da­her kommt der Zi­vil­ge­sell­schaft für die­se The­ma­tik, dar­über hin­aus aber auch für die kon­se­quen­te Wei­ter­ent­wick­lung der ur­sprüng­li­chen In­ten­ti­on ei­ne ganz be­son­de­re Rol­le zu. Hin­sicht­lich der Grund­wer­te Frei­heit und Ge­rech­tig­keit, hin­sicht­lich der Ori­en­tie­rung an Ge­mein­wohl und So­li­da­ri­tät so­wie für die Er­neue­rung der So­zia­len Markt­wirt­schaft bil­det sie ei­nen Un­ter­bau, den die Vä­ter der So­zia­len Markt­wirt­schaft und des rhei­ni­schen Ka­pi­ta­lis­mus in die­ser Form wohl noch nicht im Blick hat­ten.

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Konrad Adenauer, 1952, Foto: Katherine Young, New York. (Bundesarchiv, B 145 Bild-F078072-0004 / Katherine Young, New York / CC-BY-SA)

 
Anmerkungen
Zitationshinweis

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Nothelle-Wildfeuer, Ursula, Rheinischer Kapitalismus, in: Internetportal Rheinische Geschichte, abgerufen unter: https://www.rheinische-geschichte.lvr.de/Epochen-und-Themen/Themen/rheinischer-kapitalismus/DE-2086/lido/57d12d45a8e0b4.57920275 (abgerufen am 07.10.2024)