Zu den Kapiteln
Paul von Lettow-Vorbeck ist einer der bekanntesten Generäle des Ersten Weltkriegs. Er wurde durch die Verteidigung der Kolonie Deutsch-Ostafrika gegen weit überlegene britische, indische, belgische, südafrikanische und portugiesische Truppen berühmt. Nach 1918 ehrte man ihn in Deutschland als „im Felde unbesiegten“ und „ritterlichen“ Heerführer, der sich auch bei seinen ehemaligen Gegnern eines hohen Ansehens erfreute. Er hätte es verstanden, seine schwarzen „Askari“-Soldaten zu militärischen Höchstleistungen anzuspornen, was wiederum als Ausweis einer angeblich gerechten und unter den Afrikanern beliebten deutschen Kolonialherrschaft gewertet wurde. Lettow-Vorbecks Popularität und die mit seinem Namen verbundene Deutung der deutschen Kolonialvergangenheit zeigte sich unter anderem daran, dass drei Dutzend Städte Straßen nach ihm benannten. Im Rheinland gab es zum Beispiel in Euskirchen, Köln, Mönchengladbach, Saarlouis, Völklingen und Wuppertal Lettow-Vorbeck-Straßen. Bis heute hat eine Straße in Völklingen überlebt, obwohl seine Person im letzten Vierteljahrhundert in Historiographie wie Öffentlichkeit eine Umwertung erfahren hat. In den meisten Kommunen nicht nur des Rheinlands setzte sich die Auffassung durch, dass Lettow-Vorbeck als rücksichtsloser, rassistischer Kolonialoffizier und Anti-Demokrat nicht mehr als Namenspatron tauge.
Lettow-Vorbeck wurde am 20.3.1870 in Saarlouis als Sohn des Paul Karl von Lettow-Vorbeck (1832-1919) und seiner Ehefrau Marie, geborene von Eisenhart-Rothe in eine typische Familie des pommerschen protestantischen Kleinadels hinein geboren. Ihre männlichen Angehörigen fanden seit Jahrhunderten entweder als Offiziere in der preußischen Armee oder als ostelbische Gutsbesitzer ihr Auskommen. Insofern war Lettow-Vorbecks Verbindung zum Rheinland zufälliger Natur. Er kam in Saarlouis zur Welt, weil sein Vater dort vorübergehend als Hauptmann und Kompanieführer im preußischen 8. Rheinischen Infanterieregiment Nr. 70 stationiert war. Bereits mit dem Ausbruch des Deutsch-Französischen Kriegs im Juli 1870 zog die Familie aus dem Rheinland fort. Es blieb für Lettow-Vorbeck eine frühkindliche Lebensstation.
Gemäß Familientradition für den Soldatenberuf bestimmt, durchlief Lettow-Vorbeck in den 1880er und 1890er Jahren die typischen Stationen einer erfolgreichen militärischen Karriere im Kaiserreich. Nach Schulausbildung in der Hauptkadettenanstalt in Berlin-Lichterfelde (Abitur 1888 als Jahrgangsbester) diente er als Leutnant in einem Garde-Infanterieregiment in der Hauptstadt. Er absolvierte sodann die dortige Kriegsakademie und kam zur Jahrhundertwende in den Generalstab. 1900/1901 nahm er als Oberleutnant an der Intervention deutscher Truppen gegen die Widerstandsbewegung der „Boxer“ in China teil. 1904-1906 kämpfte er als Hauptmann im Herero- und Nama-Krieg in Deutsch-Südwestafrika, dem heutigen Namibia. 1909 wurde er als Major Kommandeur des 2. Seebataillons in Wilhelmshaven, das unter anderem als Eingreifreserve für Kolonialkriege diente.
Lettow-Vorbecks beruflicher Aufstieg vollzog sich im Spanungsfeld zwischen monarchischer Protektion für die Angehörigen des ostelbischen Adels einerseits und individueller militärischer Leistung des sehr ehrgeizigen und gewissenhaften Offiziers andererseits. Im Herbst 1913 erhielt er relativ jung den Rang eines Oberstleutnants. Durch die Beförderung sowie die Erfahrungen im Seebataillon und in den Kolonialkriegen in China und Deutsch-Südwestafrika qualifizierte er sich für das Kommando über die „Kaiserliche Schutztruppe für Deutsch-Ostafrika“, das er im Januar 1914 antrat. Die 2.700 Soldaten, schwarze „Askari“-Söldner unter Führung von 260 deutschen Offizieren, Ärzten und Unteroffizieren, stellten die größte Kolonialtruppe des Kaiserreichs dar.
Deutsch-Ostafrika, welches die heutigen Staaten Tansania, Burundi und Ruanda umfasste, war militärisch nicht auf eine Konfrontation mit den Nachbarkolonien vorbereit. Die Mehrheit der deutschen Siedler, Kolonialbeamten und Offiziere einschließlich des Gouverneurs Heinrich Schnee (1871-1949), der nominell Lettow-Vorbecks Vorgesetzter war, bevorzugte bei Ausbruch des Ersten Weltkriegs im August 1914 eine neutrale Haltung. Lettow-Vorbeck dagegen drängte sofort auf ein offensives Vorgehen gegen das britische Kenia im Norden und den belgischen Kongo im Westen. Dadurch wollte der Offizier die Entente-Staaten zwingen, Truppen aus Europa auf den ostafrikanischen Nebenkriegsschauplatz abzuziehen. Er hoffte, auf diese Weise das Reich militärisch in Europa entlasten zu können. Der Abwehrerfolg der Schutztruppe in der Schlacht von Tanga Anfang November 1914 gegen ein angelandetes wesentlich stärkeres britisch-indisches Expeditionskorps brachte in der Kolonie die Zweifler an Lettow-Vorbecks Kriegskurs zum Verstummen. Es gelang Lettow-Vorbeck und seiner zeitweise auf 15.000 Soldaten angewachsenen Streitmacht, die von Deutschland weitgehend abgeschnittene Besitzung über mehr als drei Jahre zumindest in Teilen zu verteidigen. Eingekesselt im äußersten Südosten Deutsch-Ostafrikas durch britische und südafrikanische Truppen, entschloss er sich im November 1917, nicht zu kapitulieren, sondern mit einem Rest von 2.000 noch einsatzfähigen Soldaten und deren Tross aus afrikanischen Trägern, Frauen und Kindern in das südlich gelegene Portugiesisch-Ostafrika (das heutige Mosambik) auszuweichen. In den folgenden zehn Monaten zog die Schutztruppe auf einem 2.500 Kilometer langen Marsch durch die portugiesische Kolonie, stets von überlegenen Entente-Einheiten verfolgt, denen es aber nicht gelang, Lettow-Vorbecks Formation zur Schlacht zustellen. Im September 1918 kehrte seine Streitmacht in den südöstlichen Teil Deutsch-Ostafrikas zurück und drang von dort im Oktober 1918 in die im Westen gelegene britische Kolonie Nordrhodesien ein, das heutige Sambia. Dort informierten die Briten den inzwischen zum Generalmajor beförderten Kommandeur und seine verbliebenen 1.300 Soldaten am 13.11.1918 vom zwei Tage zuvor in Europa eingetretenen Waffenstillstand.
Lettow-Vorbecks Feldzug in Ostafrika stellte in taktischer Hinsicht eine Meisterleistung dar, weil er immer wieder den Truppen des Gegners entkam. Er zeugte vom Durchhaltewillen, dem Improvisationstalent und der robusten körperlichen Konstitution des Offiziers. Lettow-Vorbecks strategisches Kalkül, durch einen hinhaltenden Widerstand in Ostafrika das Reich in Europa militärisch zu entlasten, ging jedoch nicht auf. Die Entente bekämpfte ihn nur mit Truppen, die sich für den Einsatz in Europa ohnehin nicht eigneten. Der Krieg verwüstete dafür große Gebiete Deutsch- wie Portugiesisch-Ostafrikas. Er kostete hunderttausenden von afrikanischen Zivilisten das Leben. Sie mussten schlecht ernährt und medizinisch unterversorgt als Lastenträger für die Schutztruppe arbeiten und kamen dabei um. Außerdem standen sie durch die Arbeitspflicht nicht mehr in ihren Dörfern zur Verfügung, um Nahrung zu produzieren. Ferner lebte die Schutztruppe in der zweiten Kriegshälfte aus dem Lande. Sie requirierte in ihren Operationsgebieten ohne Rücksicht auf die Bedürfnisse der Bevölkerung Lebensmittel und vernichtete jene Vorräte, die sie nicht selbst brauchte, um die Nachschubprobleme der verfolgenden Entente-Truppen zu vergrößern. Letztlich nahm Lettow-Vorbecks Durchhalte- und Ablenkungsstrategie den Tod einer großen Zahl afrikanischer Zivilisten und zwangsrekrutierter Lastenträger durch Hunger, Erschöpfung und Krankheit in Kauf.
Anfang März 1919 kehrte Lettow-Vorbeck nach Deutschland zurück, wo er als unbesiegter Kriegsheld gefeiert wurde. Für die Gegner der Weimarer Republik galt Lettow-Vorbecks Streitmacht als lebender Beweis für den angeblichen Dolchstoß, den die Sozialdemokratie im Herbst 1918 gegen das deutsche Heer an den Fronten in Europa geführt und somit die Niederlage heraufbeschworen hätte. Die Schutztruppe hingegen, fern aller verräterischen und umstürzlerischen Kräfte, hätte dank der Treue der schwarzen Askari-Soldaten und der Autorität und Kompetenz Lettow-Vorbecks angeblich noch über Jahre im afrikanischen Busch weiterkämpfen können.
Lettow-Vorbeck als erzkonservativer Offizier und Monarchist lehnte die neuen politischen Verhältnisse in Deutschland ebenfalls ab und machte sich diese Interpretation zu Eigen. Als Kommandeur der Reichswehrtruppen in Mecklenburg nahm der Generalmajor im März 1920 am Kapp-Lüttwitz-Putsch gegen die Reichsregierung teil. Das Scheitern des Umsturzversuchs bedeutete das Ende seiner militärischen Karriere. 1920 erschienen seine vielfach verkauften Weltkriegsmemoiren, die es auch als Jugendversion unter dem Titel „Heia Safari“ gab. Lettow-Vorbeck ließ sich 1923 in Bremen nieder, das besonders stark die Erinnerung an die 1919 durch den Versailler Vertrag verlorenen Kolonien kultivierte. In der Hansestadt begann er eine zweite Karriere in der Wirtschaft. Von 1928 bis 1930 saß er zusätzlich als Abgeordneter für die konservativ-antirepublikanische Deutschnationale Volkspartei (DNVP) im Reichstag. Nebenbei bereiste er bis in die 1950er Jahre hinein Deutschland als Vortragsredner. Der Erfolgsautor berichtete vor hunderten, manchmal tausenden von Zuhörern über seine Erlebnisse in Ostafrika. Er betätigte sich dabei zugleich als Kolonialrevisionist, der die Rückgabe der Überseebesitzungen forderte.
Als Anti-Demokrat begrüßte Lettow-Vorbeck die Machtübernahme der Nationalsozialisten im Januar 1933. Er erhoffte sich von den neuen Machthabern eine Restauration der Monarchie und eine Wiederaufnahme der Kolonialpolitik. Wenn sich auch diese Erwartungen nicht erfüllten, gab es andere Aspekte, welche ihn an das Regime banden. Die zügellose Aufrüstungspolitik ermöglichte beispielsweise den vier Söhnen seiner 1919 mit Martha Wallroth (1884-1953) geschlossenen Ehe, entsprechend der Familientradition eine Offizierskarriere einzuschlagen. Das NS-Regime bediente sich seiner Person, indem es ihn bereits in der Hitlerjugend als militärisches Vorbild für künftige Soldatengenerationen herausstellte. Im Zuge seiner Vereinnahmung als Kriegs- und Kolonialheld durch die Nationalsozialisten verzeichnete das kriegsverherrlichende Buch „Heia Safari“ seit der zweiten Hälfte der 1930er Jahre und bis in den Zweiten Weltkrieg hinein wieder steigende Absatzzahlen. Es kam außerdem auf lokale Initiativen hin ab 1934 zu zahlreichen Straßenbenennungen im Rheinland wie in anderen Städten des Reiches nach Lettow-Vorbeck. Mit Ausbruch des Zweiten Weltkriegs wurde der inzwischen 69-Jährige zwar noch zum General der Infanterie befördert, aber nicht mehr reaktiviert. Stattdessen fielen drei seiner vier Söhne als Offiziere. Wegen der zunehmenden Bombenangriffe auf Bremen zogen Lettow-Vorbeck und seine Frau 1942 aufs Land nach Schleswig-Holstein. Von 1952 bis zu seinem Tod am 9.3.1964 lebte der Pensionär in Hamburg. In der Handels- und Hafenstadt waren wie in Bremen die Erinnerungen an die ehemaligen Kolonien noch relativ präsent.
In der frühen Bundesrepublik widerfuhren Lettow-Vorbeck weitere Ehrungen. Er galt als wichtiger noch lebender Repräsentant des Kaiserreichs, eine im Gegensatz zum NS-Regime scheinbar unverfängliche, durch Wohlstand, politische Stabilität und deutsche Weltgeltung gekennzeichnete Epoche. Der Umstand, dass Lettow-Vorbeck sich weiterhin unter seinen ehemaligen britischen wie südafrikanischen Weltkriegsgegnern eines hohen Ansehens erfreute, empfahl ihn zusätzlich in den 1950er und 1960er Jahren als Aushängeschild scheinbar positiver, nicht durch das „Dritte Reich“ verdunkelter deutscher militärischer Traditionen. Man setzte ihn überwiegend mit Tugenden wie Vaterlandsliebe, Pflichtbewusstsein, Ehrenhaftigkeit, professioneller Kompetenz, Weltläufigkeit und Menschlichkeit gleich. So verlieh ihm seine Geburtsstadt Saarlouis 1956 unter Verweis auf diese Eigenschaften die Ehrenbürgerschaft. Bei seiner Beisetzung mit militärischen Ehren im März 1964 im holsteinischen Pronsdorf bezeichnete der anwesende Bundesverteidigungsminister Kai-Uwe von Hassel (1913-1997) den Verstorbenen als militärisches Vorbild. Die Bundeswehr benannte in Leer, Bremen, Hamburg und Bad Segeberg Kasernen nach ihm. Drei von ihnen schloss sie seit den 1990er Jahren im Zuge der Verkleinerung der Streitkräfte, die in Leer erhielt 2010 einen neuen Namen (Evenburg-Kaserne).
Schriften
Meine Erinnerungen aus Ostafrika, Leipzig 1920.
Heia Safari. Deutschlands Kampf um Ostafrika, Leipzig 1920.
Afrika, wie ich es wiedersah, München 1955.
Mein Leben, Biberach 1957.
Literatur
Bley, Helmut, Gutachten über Paul von Lettow-Vorbeck, in: Hannoversche Geschichtsblätter 62 (2008), S. 169-188.
Bührer, Tanja, Die Kaiserliche Schutztruppe für Deutsch-Ostafrika. Koloniale Sicherheitspolitik und transkulturelle Kriegführung, München 2011.
Michels, Eckard, „Der Held von Deutsch-Ostafrika“. Paul von Lettow-Vorbeck – ein preußischer Kolonialoffizier, Paderborn 2008.
Michels, Eckard, Paul von Lettow-Vorbeck, in: Zimmerer, Jürgen (Hg.), Kein Platz an der Sonne. Erinnerungsorte der deutschen Kolonialgeschichte, Frankfurt 2013, S. 373-386.
Michels, Eckard, General der Infanterie Paul von Lettow-Vorbeck, in: Grawe, Lukas (Hg.), Die militärische Elite des Kaiserreichs. 24 Lebensläufe, Darmstadt 2020, S. 176-188.
Schulte-Varendorff, Uwe, Kolonialheld für Kaiser und Führer. General Lettow-Vorbeck. Mythos und Wirklichkeit, Berlin 2006.
Online
Gründer, Horst, Lettow-Vorbeck, Paul von, in: Neue Deutsche Biographie 14 (1985), S. 358-359. [Online]
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Michels, Eckard, Paul von Lettow-Vorbeck, in: Internetportal Rheinische Geschichte, abgerufen unter: https://www.rheinische-geschichte.lvr.de/Persoenlichkeiten/paul-von-lettow-vorbeck/DE-2086/lido/607e8390e11461.73874606 (abgerufen am 14.12.2024)