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Siegfried von Xanten gehört zu den bekanntesten Sagengestalten des Mittelalters und spielt eine zentrale Rolle im ersten Teil des Nibelungenliedes aus dem 13. Jahrhundert. In seiner Person verschmelzen mehrere historische Persönlichkeiten der Völkerwanderungszeit zur Figur eines mit übermenschlichen Kräften ausgestatteten, nahezu unverwundbaren Helden, der schließlich einem heimtückischen Verrat seiner engsten Vertrauten zum Opfer fällt.
Die verschiedenen, unabhängig voneinander entstandenen Varianten der Nibelungensage im deutschen und skandinavischen Sprachraum datieren in das ausgehende 12. und frühe 13. Jahrhundert und beruhen vermutlich auf älteren, damals weit verbreiteten, heute jedoch nicht mehr nachweisbaren schriftlichen und mündlichen Überlieferungen aus der Zeit der Völkerwanderung und des frühen Mittelalters. Die Verfasser der mittelalterlichen Sagen agierten jedoch nicht als Geschichtsschreiber und Chronisten. Ihre Werke dienten vielmehr der Unterhaltung und Belehrung und weisen einen starken Gegenwartsbezug zur gesellschaftlichen, politischen und höfischen Aktualität des Hochmittelalters auf. Auf diese Weise wurden in der Nibelungensage verschiedene, teilweise historisch belegbare, aber zeitlich weit auseinander liegende Ereignisse und Personen des 5. und 6. Jahrhunderts zu einer neuen Gesamtgeschichte verwoben und mit mythologischen Elementen angereichert.
Die bekannteste Darstellung der Erzählung über den Aufstieg und Fall des Königssohns Siegfried findet sich im so genannten „Nibelungenlied", das vermutlich am Ende des 12. Jahrhunderts in Passau niedergeschrieben wurde. Der anonyme Verfasser verortet die Herkunft Siegfrieds an den Niederrhein. In der vermutlich ältesten erhaltenen Überlieferung des Nibelungenliedes, der in der Mitte des 13. Jahrhunderts niedergeschriebenen und 2005 von Hermann Reichert publizierten St. Galler Handschrift, heißt es:
Dô wûohs in Niederlanden eins vil edelen küneges kint,
des vater, der hiez Sigemunt, sîn muoter Sigelind,
in einer rîchen bürge, wîten wol bekannt,
nidene bî dem Rîne. diu was ze Santen genant.
Der Germanist Karl Simrock veröffentlichte 1827 die erste Übertragung des mittelhochdeutschen Originaltextes ins Neuhochdeutsche. Die Passage über Siegfrieds Abstammung übersetzte er wie folgt:
Es wuchs in Niederlanden eines edeln Königs Kind,
sein Vater hieß Siegmund, seine Mutter Siegelind,
in einer reichen Veste, ferne wohlbekannt,
tief unten an dem Rheine; sie war Burg Santen genannt.
Diese genaue Lokalisierung findet sich in den nordischen Varianten der Sage nicht.
Der Sage folgend verlässt Siegfried, nachdem er seine Jugend in Xanten verbracht hat, den Hof seiner Eltern mit dem Vorhaben, um die burgundische Prinzessin Kriemhilde zu werben. Bevor er jedoch nach Worms an den Hof des Burgunderkönigs Gunther, dem Bruder Kriemhilds, gelangt und dessen Vasall wird, besteht Siegfried zahlreiche Abenteuer. So tötet er einen Drachen, in dessen Blut er badet und mit Ausnahme einer Stelle zwischen den Schulterblättern, auf die ein Lindenblatt fällt, unverwundbar wird. Außerdem gerät er in den Besitz des Schatzes des Königs Nibelung, nachdem er diesen und dessen Söhne samt ihrem Gefolge mit dem Schwert Balmung (in der nordischen Mythologie: Gram; in der Oper Richard Wagners: Notung) getötet und auch den Wächter des Hortes, den Zwerg Alberich im Zweikampf besiegt hat.
Obwohl ihm bereits der Ruf eines unbezwingbaren Helden vorauseilt, unterwirft sich Siegfried Gunther, dem wankelmütigen, leicht beeinflussbaren Herrscher Burgunds und erweist sich bald als dessen unverzichtbarer Heerführer und Berater. Nachdem er Gunther auch bei der Brautwerbung um die isländische Königin Brunhild entscheidend und listenreich unterstützt hat, erhält Siegfried Kriemhild zur Frau, mit der er danach mehrere Jahre am Königshof seiner Eltern in Xanten lebt.
Während eines Aufenthalts in Worms entbrennt ein folgenschwerer Machtkampf zwischen Kriemhild und Brunhild, den Hagen von Tronje, ein einflussreicher Vasall und Berater König Gunthers, für seine Zwecke auszunutzen versteht. Siegfried wird das Opfer einer Verschwörung, in die das gesamte burgundische Herrscherhaus verwickelt ist. Hagen von Tronje initiiert den Verrat, erwirbt sich das Vertrauen Kriemhilds und gewinnt dadurch Kenntnis über die verwundbare Stelle zwischen Siegfrieds Schulterblättern. Dieses Wissen nutzend, ermordet er Siegfried, während sich dieser nach einer Jagd an einer Quelle erfrischt, indem er ihn rücklings mit einem Speer durchbohrt. Im zweiten Teil des Nibelungenliedes wird die Rache Kriemhilds beschrieben. Siegfrieds heimtückische Ermordung dient hier als Motiv für die Vernichtung der Burgunder am Hof des Hunnenkönigs Etzel. Dieser zweite Abschnitt des Nibelungenliedes geht in seinem Kern auf die Auseinandersetzungen zwischen Burgundern, Hunnen und Römern in der Mitte des 5. Jahrhunderts zurück, die in der Zerschlagung des Burgunderreiches im Jahr 436 gipfelten. Demgegenüber findet der erste Teil und mit ihm die Geschichte Siegfrieds seinen historischen Ursprung in den über Jahrzehnte andauernden Konflikten zwischen Franken und Burgundern im ausgehenden 5. und im 6. Jahrhundert. Vermutlich handelt es sich bei den beiden Teilen des Nibelungenliedes um zwei ursprünglich eigenständige Erzählungen, deren Inhalte zu einer Gesamtgeschichte zusammengefügt wurden.
Eine Identifikation der mythologisch verfremdeten Sagengestalt Siegfrieds mit einer einzigen historischen Persönlichkeit ist auszuschließen. Vielmehr vereint sie, wie auch andere Figuren der Sage, biographische Elemente eines Kreises von mehreren Personen. Als besonders aufschlussreich erweist sich bei der Suche nach dem historischen Siegfried die von Gregor von Tours (538-594) verfasste Biographie des fränkischen Königs Chlodwig I. (466-511), der nicht nur als Einer der fränkischen Teilreiche, sondern auch als skrupelloser und heimtückischer Herrscher in die Geschichte eingegangen ist. Obwohl sich diese Charaktereigenschaften nur schwer mit dem Mythos des Helden Siegfried vereinbaren lassen, bietet Chlodwigs Lebensgeschichte zahlreiche interessante Parallelen zu Personen und Ereignissen im Nibelungenepos. So heiratete er im Jahr 501 Chrothechildis (474-544), die Nichte des Burgunderkönigs Gundobad (Regierungszeit 480-516). In vergleichbarer Konstellation treten Kriemhilde und Gunther als Hauptfiguren mit unmittelbarem verwandtschaftlichem Bezug zu Siegfried in der Nibelungensage auf. Auch der Mythos des Nibelungenschatzes könnte auf die zahlreichen erfolgreichen Feldzüge Chlodwigs zurückzuführen sein, auf die sich sein sprichwörtlich gewordener unermesslicher Reichtum gründete. In der Schlacht von Poitiers besiegte Chlodwig 507 den Westgotenkönig Alarich II. (Regierungszeit 484-507), dessen Name in Verbindung mit dem sagenhaften Zwergenkönig und Hüter des Nibelungenhortes Alberich gebracht werden kann.
Auch Chlodwigs Enkel Sigibert (535-575), der als König über Austrasien herrschte, wird in Verbindung mit der Siegfriedsage gebracht. Gleiches gilt für den Burgunderkönig Sigismund (Regierungszeit 516-524) und für den in Köln residierenden und Teile des Rheinlands beherrschenden fränkischen Herrscher Sigibert. Letzterer fiel, wie Siegfried in der Sage, während einer Jagd einem Meuchelmord zum Opfer.
Bereits im frühen 19. Jahrhundert wurde eine Identifikation Siegfrieds mit dem Cheruskerfürsten Arminius (17 vor Christus - 21 nach Christus) in Erwägung gezogen. Siegfrieds legendärer Kampf gegen den Drachen hätte nach dieser These in der Vernichtung dreier römischer Legionen durch das germanische Herr des Arminius im Jahr 9 nach Christus seinen Ursprung. Der mit dem Nimbus der Unbesiegbarkeit behaftete Heereszug unter der Führung des römischen Statthalters Publius Quinctilius Varus (47 vor Christus – 9 nach Christus) wäre demnach in der über Jahrhunderte mündlich weitergegebenen Überlieferung zur mythologischen Gestalt des nahezu unverwundbaren Lindwurmes stilisiert worden. Diese These erlebte durch die Entdeckung des historischen Schauplatzes der Varusschlacht in Kalkriese bei Osnabrück eine Neubelebung.
Da in der Figur Siegfrieds offensichtlich die Biographien verschiedener historischer Personen verschmelzen, bleiben auch die Angaben zu seiner rheinischen Herkunft im Nibelungenlied fraglich. Allenfalls ist zu vermuten, dass eine der historischen Figuren, aus der sich die mythologische Siegfriedgestalt entwickelte, in Verbindung mit einer am Niederrhein ansässigen fränkischen Fürstenfamilie gebracht werden könnte. Die präzise Lokalisierung seines Geburtsortes in Xanten, die sich in den vergleichbaren nordischen Varianten der Siegfriedsage nicht findet, bietet hierzu allerdings den einzigen Hinweis.
Zu Beginn des 19. Jahrhunderts erlangte die Nibelungensage neue Popularität und wurde, vor dem Hintergrund der napoleonischen Befreiungskriege und der Forderungen nach einer nationalen Einigung der deutschen Einzelstaaten, zum deutschen Nationalepos erhoben. Seit dieser Zeit ist sie auch zum Gegenstand der literarischen, historischen und archäologischen Forschung geworden. Im Zuge dieser Entwicklung glaubte Karl Simrock den Drachenfels im Siebengebirge als Schauplatz des Kampfes zwischen Siegfried und dem Lindwurm identifizieren zu können.
Simrocks Lokalisierung des Drachenkampfes machte aus Siegfried eine der wichtigsten Figuren der Rheinromantik. Bis in die Gegenwart hat der Mythos um Siegfried und die Nibelungen, trotz seiner ideologischen und propagandistischen Vereinnahmung durch die Nationalsozialisten, nichts von seiner Faszination eingebüßt.
Quellen
Batts, Michael S. (Hg.), Das Nibelungenlied, Paralleldruck der Handschriften A, B und C nebst Lesarten der übrigen Handschriften, Tübingen 1971.
Das Nibelungenlied, übers. von Karl Simrock, Berlin 1827 .
Das Nibelungenlied: nach der St. Galler Handschrift, hg. von Hermann Reichert, Berlin 2005.
Siegfrieds Tod. Nibelungenlied, übers. von Otfried Ehrismann, München 2007.
Literatur
Bauch, Mario, Wer waren die Nibelungen wirklich? Die historischen Hintergründe der germanischen Heldensagen, Berlin 2006.
Ehrismann, Otfrid, Nibelungenlied. Epoche, Werk, Wirkung, München 1987, 2. überarbeitete Auflage, München 2002.
Ehrismann, Otfrid, Das Nibelungenlied, München 2005.
Gallé, Volker, Siegfried - Schmied und Drachentöter, Worms 2005.
Härd, John Evert, Das Nibelungenepos - Wertung und Wirkung von der Romantik bis zur Gegenwart, Tübingen u. a. 1996.
Heinzle, Joachim/Klein, Klaus/Obhof, Ute (Hg.), Die Nibelungen - Sage, Epos, Mythos, Wiesbaden 2003.
Oberste, Jörg, Der Schatz der Nibelungen - Mythos und Geschichte, Bergisch Gladbach 2007.
Reichert, Hermann, Zum Namen des Drachentöters. Siegfried - Sigurd - Sigmund – Ragnar, in: Nomen et Fraternitas. Festschrift für Dieter Geuenich, hg. von Ludwig, Uwe/Schilp, Thomas, Berlin 2008, S. 131-167.
Online
Die Nibelungen Handschrift C Digital (Badische Landesbibliothek Karlsruhe). [Online]
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Thomann, Björn, Siegfried von Xanten, in: Internetportal Rheinische Geschichte, abgerufen unter: https://www.rheinische-geschichte.lvr.de/Persoenlichkeiten/siegfried-von-xanten/DE-2086/lido/57c94f5fdc5b67.90390949 (abgerufen am 07.09.2024)