Elbenhorte am Rhein. Tolkien und das Rheinland
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1. Einleitung
Der Engländer John Ronald Reuel Tolkien (1892-1973) ist mit seinen Fantasy-Romanen einer der weltweit populärsten Autoren; die Verfilmungen des „Herrn der Ringe“ (2001-2003) und des „Hobbit“ (2012-2014) haben seine Bekanntheit erheblich gesteigert. Die monumentalen Filmlandschaften entstanden an Drehorten in Neuseeland, die dem Land seit 20 Jahren einen regelrechten Touristenboom bescheren. Der Autor Tolkien hatte allerdings mit dem fernen Land im Südpazifik nichts im Sinn, wahrscheinlich waren ihm die entsprechenden Gebirge und Wälder völlig fremd. Soweit die Handlungsräume seiner Mittelerde-Welt überhaupt von realen Landstrichen inspiriert waren, lagen diese Gebiete in England und anderen Teilen der Britischen Inseln. Auf dem Kontinent hinterließen die Schweizer Alpen nachweisliche Spuren in seinem Werk. Ob dies auch für den Rhein und das Rheinland gilt ist Thema der folgenden Ausführungen.
2. Mittelerde: Abenteuer in der Welt des J.R.R. Tolkien
Tolkiens Fantasy-Welt sieht man mittlerweile als eine literarisch anspruchsvolle Schöpfung an, deren Handlung Zauberer und Krieger bestimmen, die in einem vormodernen archaischen Universum um die Herrschaft ringen. Als erster Text führte der 1937 erschienene und eigentlich als Kinderbuch gedachte Roman The Hobbit, or: There and Back Again („Der Hobbit oder Hin und zurück“, in deutscher Übersetzung auch „Der kleine Hobbit“) in Tolkiens phantastische Welt ein. Darin gerät der Hobbit Bilbo Beutlin (die Hobbits sind Tolkiens Erfindung: „die unscheinbaren kleinen Leute aus dem Auenland“[1] aus seiner beschaulichen Heimat in ein rasantes Abenteuer mit einem Zauberer, mit Zwergen, Elben, bösartigen Orks, Riesenspinnen, Gestaltwandlern und einem goldgierigen Drachen. An dem Detail eines unsichtbar machenden Rings, in dessen Besitz der kleine Held kommt, spinnt Tolkien den Faden weiter und entwickelt daraus die umfangreiche Trilogie des „Herrn der Ringe“ (The Lord of the Rings 1954/1955). Dieser Titel ist dem Bösewicht Sauron geschuldet, einem ursprünglich höheren Wesen aus mythischer Vorzeit, der sich Mittelerde unterwerfen will. Dazu benötigt er einen Zauberring, der alle anderen magischen Ringe in seinen Bann schlägt und den der ahnungslose Bilbo Beutlin mit sich trägt. Auf Drängen des Zauberers Gandalf übergibt er das vermeintliche Schmuckstück seinem Nachfolger und Erben Frodo. Dieser muss schließlich das heimische Auenland verlassen und eine gefahrvolle Reise quer durch Mittelerde antreten: Mit dem Ziel Mordor, dem „Schwarzen Land“, wo Sauron herrscht. Denn nur in den Feuern des Vulkanbergs Orodruin kann der Eine Ring zerstört werden. „Der Herr der Ringe“ erzählt von der Gemeinschaft, die Frodo begleitet (Gandalf, drei Hobbits, zwei Menschen, ein Elb und ein Zwerg), von deren Zerfall, vom großen Ringkrieg gegen Sauron und von der Zerstörung des Rings. Der monumentale Roman bietet allerdings mehr als bloße Action – immer wieder verharrt der Erzählfluss, werden uralte Sagen, Legenden und Gerüchte erzählt.
Sie verweisen auf die Tiefe des mythenpoetischen Universums, mit dem Tolkien sich über viele Jahrzehnte und letztlich zeitlebens eine persönliche Mythologie und eine Welt mit eigenen Völkern und sogar mit fiktiven Sprachen erschaffen hat. Erst seinem Sohn Christopher gelang es, 1977 mit dem Silmarillion einen Einblick in die umfassende Mythenwelt seines Vaters zu gewähren, die schließlich als zwölfbändige History of Middle-Earth (1983-1996, „Geschichte Mittelerdes“) zusammengefasst wurde.
Eine Besonderheit seiner Schöpfung offenbarte Tolkien selbst, als er ausdrücklich betonte, dass Mittelerde keine erfundene Welt sei: „Schauplatz meiner Erzählung ist diese Erde, dieselbe, auf der nun wir leben, aber die historische Periode ist imaginär. Die Grundzüge dieses Aufenthaltsortes sind alle vorhanden (jedenfalls für die Einwohner von Nordwesteuropa), darum wirkt es naturgemäß vertraut, wenn auch ein wenig verklärt durch den Zauber der zeitlichen Ferne.“[2] Unter dem Nordwesten Europas verstand er die Britischen Inseln mit England als Herzstück, aber auch Skandinavien und die Nordseeländer. Dort siedelten germanische Stämme und Völker, insbesondere im frühen Mittelalter die Angelsachsen und Wikinger, aber auch die keltischen Iren und Waliser. Tolkien fühlte sich vor allem den germanischen Mythen und Sagen verbunden, mitsamt deren Sprachen, Kulturen und Überlieferungen. Daraus schöpfte der Schriftsteller ohne Scheu und dementsprechend stößt man in seiner Mittelerde auf altisländische Zwergennamen, angelsächsische Runen, Motive der germanischen Heldensagen und altnordische Zwerge, Alben und Trolle, Helden und Magie sowie verwunschene Ringe, Schätze und Drachenkämpfe.
J.R.R. Tolkien kannte diese Überlieferungen bestens, lehrte er doch seit 1925 als Professor in Oxford, wo er sich insbesondere der altenglischen Sprache und Literatur annahm. Darüber hinaus zeigte er an der isländischen Literatur des Mittelalters großes Interesse und damit an der altnordischen Sprache und der Überlieferung der Sagas und Eddas. Als Spezialist des altenglischen Beowulf-Epos genoss er in Fachkreisen großes Ansehen. Diese frühmittelalterliche Heldendichtung, die in einer Niederschrift aus der Zeit um das Jahr 1000 erhalten ist, erzählt von den Taten des südschwedischen Heroen Beowulf, der sowohl das Moorungetüm Grendel besiegte als auch gegen einen Drachen kämpfte. Das auf einem Goldschatz schlafende Untier diente dem Wissenschaftler als eine Vorlage für seinen Fantasy-Drachen Smaug aus dem „Hobbit“. Weitere Züge, vor allem die Redegewandtheit des Drachen, entnahm er der Fafnirgestalt aus der skandinavischen Überlieferung des Nibelungenstoffes. Deren wichtigste Quellen waren die Heldenlieder der Älteren Edda, die Edda des Snorri Sturluson und als deren Nacherzählung die Völsunga saga, die Tolkien ausdrücklich schätzte und aus der er für die Gestaltung von Mittelerde schöpfte. Dem Spezialisten für mittelalterliche Literatur war folglich die Nibelungensage mit all ihren Traditionssträngen bekannt, auch das mittelhochdeutsche Nibelungenlied. Diese reiche Überlieferung machte ihn mit dem Rhein als sagenhaften Strom vertraut.
3. Tolkiens Reise
Persönlich hat Tolkien den Fluss wohl nie zu Gesicht bekommen. Was die Forschung bislang über die Lebenswege des Engländers mit Sicherheit ermitteln konnte sieht ihn jedenfalls nicht in Deutschland. Dem standen die beiden Weltkriege und seine Abneigung gegen das NS-Regime seit 1933 entgegen. Obwohl er sich deutsche Vorfahren zuschrieb, verhinderten die herrschenden Verhältnisse eine Reise.
Überhaupt sah sich der überzeugte Engländer als Angelsachse seiner Heimat zutiefst verbunden. Ein Itinerar seiner Reisen sähe ihn zumeist an seinen Universitäten in Leeds und Oxford, außerdem besuchte er die englischen Seebäder sehr gern. In den 1950er Jahren hielt er sich häufig sowohl dienstlich als auch als Urlauber im benachbarten Irland auf. Bereits als junger Mann war er während einer Wandertour in den Schweizer Alpen im Sommer 1911 zumindest der Rheinquelle recht nahe gekommen: Die Reise führte ihn von Interlaken über Grindelwald nach Zermatt zum Matterhorn. An den großen Eindruck dieser Landschaft auf ihn erinnerte sich Tolkien noch im hohen Alter.[3] Die damaligen Impressionen und Erlebnisse verarbeitete er ausdrücklich in den Schilderungen und Szenen seines Mittelerde-Gebirges der Misty Mountains (deutsch Nebelgebirge). Fast ein halbes Jahrhundert später unternahm der mittlerweile bekannte Kinderbuch- und Fantasy-Autor eine Reise nach Hoek van Holland und Rotterdam zu seinem niederländischen Verleger (1958). Von den Mündungsflüssen des Rheindeltas lesen wir in seinen Zeugnissen nichts und ihre Ansichten dürften Tolkien auch kaum beeindruckt haben. Urlaubsreisen führten ihn im vorgerückten Alter nicht etwa nach Norwegen oder Island, deren historische und literarische Überlieferung dem Wissenschaftler und Schriftsteller besonders nahe standen, sondern ans Mittelmeer, dessen Kulturen und antike Mythologien für ihn literarisch nur geringe Bedeutung hatten: 1955 unternahm er eine längere Reise über Paris nach Mailand, Venedig und Assisi, elf Jahre später ging er mit seiner Frau Edith sogar auf eine Mittelmeerkreuzfahrt, während der er die Touristenhäfen in Italien, Griechenland, der Türkei und an der tunesischen Küste besuchte.
Bliebe noch Tolkiens besondere Beziehung zur belgischen Universität Liège (Lüttich), wo er dem Rheinland zumindest nahe kam. In die wallonische Stadt und ihre Hochschule reiste er ein paar Mal in den 1950er Jahren, dort verlieh man ihm sogar 1954 die Ehrendoktorwürde. Bereits 1951 hielt er sich für einige Tage an der Maas auf, um an einem wissenschaftlichen Kongress teilzunehmen. Tagesexkursionen führten ihn von Lüttich in die Ardennen und ins Maastal. Für unser Thema bedeutender ist jedoch die Teilnahme von Heinrich Hempel (1885-1973), der von 1947 bis zu seiner Emeritierung 1953 an der Universität Köln als Germanist und Skandinavist lehrte. Zuvor hatte er bereits im benachbarten Bonn als Privatdozent und Professor für Nordische und Germanische Altertumskunde gewirkt. Hempel galt als Spezialist für etliche Gebiete, die auch Tolkien interessierten: der altnordischen Sprache, der germanischen Heldensage wie insbesondere der Nibelungensage und deren Überlieferung in den Eddaliedern. Auch über Runen und die gotische Sprache hatte er publiziert, die bereits früh Tolkiens Gefallen gefunden hatte. Beide Herren hätten also in Lüttich hinlänglich Gesprächsstoff gefunden. Leider lässt sich nichts über nähere Kontakte sagen und darum auch nicht darüber, ob sie wissenschaftlich vielleicht doch zu weit auseinanderlagen oder ob Tolkien Vorbehalte gegen den deutschen Kollegen aus Köln hatte.
4. Rheingold - der Schatz der Nibelungen
Dem längsten Strom Mitteleuropas war J.R.R. Tolkien folglich nicht autobiographisch verbunden, er nahm ihn in seiner wissenschaftlichen wie schriftstellerischen Tätigkeit vor allem als den imaginären Rhein der Heldensage wahr, der als solcher in der Historie wurzelte und zum sagenhaften Lokal gestaltet wurde. Das galt insbesondere für die Nibelungensage, mit der er sich auch künstlerisch auseinandersetzte.
Die Vorstellung des sagenhaften Rheins wurzelt im Nibelungenlied, das zwei ursprünglich voneinander unabhängige Teile um 1200 in einem Epos zusammenführt. Der erste Teil (Brünhildsage genannt) umfasst den Sagenstoff um den Helden Siegfried sowie die Protagonistinnen Brünhild und Kriemhild. Hier spielt der Rhein eine sagengeographische Hauptrolle; denn Siegfried zieht als Xantener Königssohn vom Niederrhein an den mittelrheinischen Burgundenhof nach Worms, wo er um die Hand der Königsschwester Kriemhild anhält. Er bekommt sie erst, nachdem er König Gunther mit Betrug geholfen hat, die Königin Brünhild zu gewinnen. Der Rangstreit zwischen den Schwägerinnen führt letztlich zur Verschwörung gegen Siegfried, den Gunthers Gefolgsmann Hagen von Tronje ermordet. Als die trauernde Kriemhild Siegfrieds Nibelungenschatz nach Worms bringen lässt, wird er ihr von Hagen genommen und im Rhein versenkt. Die Figur der trauernden und auf Rache sinnenden Kriemhild verbindet den ersten mit dem zweiten Teil vom Untergang der Burgunden (Burgundensage genannt): Sie nimmt die Werbung des Hunnenherrschers Etzel aus Ungarn an. Dort erlangt sie große Macht, lädt nach vielen Jahren ihre Brüder Gunther, Gernot und Giselher sowie Hagen und das Gefolge der Burgunden ein und führt ihr Rache aus. Die wenigsten Protagonisten überleben das Gemetzel, dem letztlich auch die Königin zum Opfer fällt. Der Rhein spielt in diesem zweiten Teil des Nibelungenliedes keine herausragende Rolle mehr, an seine Stelle rückt die Donau, entlang derer die Burgunden an den Hunnenhof ziehen. Aber seine Bedeutung bleibt insofern erhalten, als er unlösbar verbunden ist mit dem in seinen Wassern versenkten Nibelungenhort, den Kriemhild erfolglos von Hagen zurückfordert.
Für die Rekonstruktion der beiden Sagen greift man auf die altnordischen Texte zurück. Diese Heldenlieder werden zwar erst in einer isländischen Handschrift um 1270 überliefert – etwa 50 Jahre früher kennt den Stoff bereits der Gelehrte Snorri Sturluson (1179-1241) –, sind jedoch zum Teil erheblich älter und wurden über Jahrhunderte mündlich tradiert. Das gilt ausdrücklich für das älteste Zeugnis, nämlich das Atlilied, das man dem 9. Jahrhundert zuschreibt. Die Grundzüge der Burgundensage lassen sich gut erkennen, die Unterschiede zum Nibelungenlied sind allerdings prägnant. Denn hier vermählt sich der goldgierige König Atli (Etzel) mit der Königstochter Gudrun (Kriemhild). Um an den Schatz seiner Schwäger Gunnar (Gunther) und Högni (Hagen, hier also ein Bruder) zu gelangen, lädt er diese zu sich ein. Trotz Gudruns Warnung folgen sie der Einladung und werden gefangen genommen. Obwohl Atli Högni das Herz herausschneiden lässt, verrät Gunnar das Versteck des Schatzes nicht, das auch im Atlilied im Rhein zu suchen ist. Kommen doch die Gjukungen (so die Bezeichnung der Burgunden in der nordischen Überlieferung, sie werden von Anfang an auch Niflungen genannt) aus dem Rheinland, woher sie „über´s rote Gebirge des Rheins“[4] anreisen. Und Gunnar spricht die trotzigen Worte: Der Rhein soll hüten das Kampferz der Krieger, das asenentstammte Erbe der Niflungen, im rauschenden Wasser glänzen die welschen Ringe eher, als das Gold an der Hunnensöhne Händen scheine[5], wobei die typischen altnordischen Wendungen jeweils das Gold umschreiben. Atli lässt ihn daraufhin in einen Hof voller Schlangen werfen, deren Gift ihn tötet. Dabei spielt Gunnar auf einer Harfe, die ihm Gudrun zukommen ließ. Sie rächt ihre Brüder, indem sie die eigenen Söhne tötet, aus ihren Schädeln Trinkbecher fertigen lässt und diese auf einem Festmahl Atli vorsetzt. Er trinkt daraus den mit dem Blut seiner Söhne vermischten Met. Ahnungslos isst er deren Herzen, die ihm Gudrun als Speise reichen lässt. Dann offenbart sie ihm ihre Rache. Als in der Nacht alle betrunken sind, erschlägt sie den Schlafenden und legt Feuer an die Halle, in dem alle Gefolgsleute Atlis umkommen. Im Norden galten das Verhalten der Gjukungen/Niflungen und die martialische Sippenrache Gudruns als zutiefst heroisch.
Die historischen Wurzeln der Sagenhandlung und ihrer Figuren finden sich im 5. Jahrhundert in der Völkerwanderungszeit. Sie führen zu den ostgermanischen Burgunden, die um Worms ein Reich gegründet hatten. Im Jahr 436 erlitten sie unter ihren Königen Gundahar, Gislahar, Godomar und Gibica eine verheerende Niederlage gegen mit Rom verbündete hunnische Truppen. Dieses Geschehen verknüpfte man mit dem Hunnenherrscher Attila (gestorben 453), der allerdings persönlich nicht am Kampf gegen die Burgunden beteiligt war. 100 Jahre später interpretierte der Historiker Jordanes Attilas Tod als Verwandtenrache einer germanischen Nebenfrau. Damit waren die Grundzüge der Heldensage gegeben.
5. Siegfried, ein Drache und der Rhein
Diese Rachesage wurde mit der Heldengestalt Siegfried verbunden, den seine Jugendabenteuer, seine übermenschliche Stärke sowie die Ermordung durch nächste Verwandte kennzeichnen. Ein historisches Vorbild ließ sich nicht mit Gewissheit ausmachen, am ehesten dürfte es unter mehreren Personen der fränkischen Merowingerzeit des 6. Jahrhunderts zu finden sein. Jedenfalls gelangten die fränkischen Sagen nach Süddeutschland, wo viel später das Nibelungenlied entstand, sowie nach Skandinavien und bis nach Island, wo Sigurds Geschicke – so sein nordgermanischer Name – am ausführlichsten erzählt wurden.
Wiederum ist es die um 1270 auf Island niedergeschriebene Handschrift des Codex Regius, die Jung-Sigurd-Lieder um die Heldentaten des jungen Kriegers überliefert, die im Nibelungenlied kaum oder gar nicht erwähnt werden. Vom Hauptgeschehen um den Verwandtenstreit und Sigurds Ermordung erzählen mehrere Sigurdlieder, die allerdings eine Textlücke aufweisen. Wenn das gesamte Geschehen auch mit Hilfe der Völsunga saga rekonstruiert werden kann, so haben doch die „Lieder der Lücke“ die Forschung immer umgetrieben. Das galt auch für Tolkien, der sich dem Füllen dieser Überlieferungslücke auf seine ganz eigene Art widmete. Jedenfalls lässt sich die Sigurdsage auf fränkische Quellen zurückführen und hat womöglich rheinische Wurzeln. In Skandinavien verband man den südlichen Sagenstoff mit eigenen Motiven und ließ sogar die vorchristlichen Götter auftreten.
Dort stammte Sigurd nicht aus Xanten, sondern war der nachgeborene Sohn des Helden Sigmund aus dem Geschlecht der Wölsungen aus dem Hunaland. Diese Bezeichnung gemahnt zwar an die Hunnen, im Norden verstand man darunter jedoch ein südliches Gebiet, das wohl in Westfalen liegen sollte. Seine Jugend verbringt Sigurd bei dem Schmied Reginn, der vielleicht zwergenhafter Natur war. Dort lernt er die Schmiedekunst und das Waffenhandwerk. Sein Ziehvater Reginn stachelt ihn zur Tötung seines zum Drachen mutierten Bruders Fafnir an, um sich dessen Schatz anzueignen. Vorher schmiedet er die zerbrochenen Klingenteile von Sigmunds Schwert zum Schwert Gram zusammen: „Es war so scharf, dass er es in den Rhein hielt und eine Wollflocke im Strom treiben ließ, so dass die Flocke wie Wasser durchschnitten wurde. Mit diesem Schwert schlug Sigurd Reginns Amboss entzwei.“[6] Damit schimmert auch in der nordischen Sigurdsage rheinisches Ambiente durch. Ob Sigurd anschließend den Drachen in Rheinnähe bezwungen hat, lässt sich nicht mit Gewissheit sagen. Diese Lokalisierung nehmen erst die Nacherzähler des 19. Jahrhunderts vor, die die Heldentat gar im Siebengebirge verorten.[7] In den isländischen Heldenliedern findet der Drachenkampf auf der Gnitaheide statt, die der isländische Abt Nikulás von Þverá in der Mitte des 12. Jahrhunderts im westlichen Deutschland zwischen Paderborn und Mainz lokalisierte. Ob sich der Sagenort mit der Gegend um Detmold verbinden lässt, bleibt neuzeitliche Spekulation. Wie Sigurd aus einem Hinterhalt dem herankriechenden schlangenähnlichen Fafnir sein Schwert ins Herz stößt, wie der sterbende Drache mit ihm spricht und ihn vor seinem verfluchten Gold warnt, das hat Tolkien bekanntlich für seinen „Hobbit“-Drachen Smaug als Vorlage gedient. Mehr soll hier nicht von Sigurds Jugendtaten erwähnt werden, als dass er das Blut Fafnirs trank, sich den Schatz aneignete, die von Odin verzauberte Walküre Brynhild befreite und sich mit ihr verlobte. Die im Nibelungenlied lediglich anklingende Vorgeschichte der Beziehung zwischen Siegfried und Brünhild wird hier deutlich.
Danach nimmt das Unheil seinen Lauf: Sigurd gelangt an den Hof der Gjukungen und damit an den Rhein, trinkt unwissentlich einen Zaubertrank, der ihn Brynhild vergessen und König Gunnars Schwester Gudrun heiraten lässt. Wie im Nibelungenlied begeht er einen Betrug, um Brynhild für Gunnar zu gewinnen. Beide Frauen streiten sich beim Haarbleichen am Rhein, welche den edleren Ehemann habe. Dabei erfährt Brynhild von der Täuschung. Sie hetzt deshalb Gunnar und Högni auf, den Schwager zu töten. Da sich aber beide mit ihm Eide geschworen haben, übernimmt ihr Bruder Gotthorm diese Aufgabe: „Getötet wurde Sigurd südlich am Rhein, ein Rabe schrie laut vom Baum: „An euch wird Atli die Schneiden röten, die Eide werden die Kämpfer vernichten.“[8] Mit letzter Kraft wirft Sigurd Gram nach seinem Mörder und tötet ihn. Brynhild entleibt sich aus Kummer selbst und wird mit Sigurd verbrannt. Gudrun verheiratet man zur Versöhnung mit Brynhilds Bruder Atli, wobei wiederum das Motiv eines Vergessenstranks zum Einsatz kommt. Hier schließt sich die oben geschilderte Heldensage an, in der Gudrun ihre Brüder an Atli rächt.
Von diesen Zeugnissen abgesehen klingt auch im altenglischen Beowulf der fränkische Sagenstoff an, was Tolkien selbstredend bekannt war: Als der Held Beowulf nämlich das Monster Grendel besiegt hat, feiert ihn ein Dichter und vergleicht seinen Sieg mit anderen Heldentaten. Er besingt die „Wälsingas“ (die altenglische Namensform der Wölsungen) Wälsing, dessen Sohn Sigemund und den Neffen Fitela, von denen Sigemund der berühmteste war. Er durchbohrte mit seinem Schwert einen Drachen, eignete sich dessen Schatz an und brachte ihn auf ein Boot. Dies stellt zweifelsohne im Kern das Jugendabenteuer Sigurds/Siegfrieds dar, nur dass ursprünglich dessen Vater Sigemund der Drachentöter war. Im Beowulf hat diese Erzählung noch nichts mit Skandinavien zu tun und dürfte hingegen auf ihre fränkische Heimat verweisen. Für Tolkien weitete sie den Blick auf die vielfältige Überlieferung der Nibelungensage.
6. Tolkien und der sagenhafte Rhein
Wie intensiv er sich mit den Heldenliedern der Älteren Edda auseinandersetzte belegt die jahrzehntelange Arbeit seines Sohnes Christopher Tolkien (1924-2020). Seit seiner Kindheit war er mit den Werken und Projekten des Vaters vertraut, beruflich beschritt er sogar dessen Nachfolge und lehrte in Oxford Altenglisch sowie altnordische Sprache und Literatur. Insofern war er der ideale Nachlassverwalter, der das väterliche Erbe ordnete und publizierte. Dafür musste er Unmengen an Material bis hin zu eilig verfassten Notizen sichten. Als Wissenschaftler hatte J.R.R. Tolkien wenig publiziert, sich jedoch auf seinen handschriftlichen Ausarbeitungen mit vielerlei beschäftigt. Dazu gehörte die Auseinandersetzung mit historischen Mythologien und Heldensagen, die er literarisch bearbeitete. Dies galt für den finnischen Kalevalastoff („Die Geschichte von Kullervo“, The Story of Kullervo, 2010), die Artusgeschichte („König Arthurs Untergang“, The Fall of Arthur, 2013) und schließlich für die Nibelungensage („Die Legende von Sigurd und Gudrun“, The Legend of Sigurd & Gudrún, 2009). Dieses Werk hat Christopher Tolkien aus den „Papierbergen“ des Nachlasses herausgearbeitet und zusammengefasst. Das Ergebnis stellen zwei neue Lieder dar, die sein Vater altnordisch als Völsungakviđa en nýja „Das neue Wölsungenlied“ und Guđrúnarkviđa en nýja „Das neue Gudrunlied“ bezeichnet hatte. Der Herausgeber betont, „dass er [J.R.R. Tolkien] in zwei zusammengehörigen Gedichten von insgesamt mehr als 500 Strophen die Wölsungen- und Niflungen-/Nibelungensage nacherzählt hat, und zwar in heutigem Englisch, angepasst dem altnordischen Metrum.“[9] Allerdings lägen damit keine bloßen Übersetzungen vor, denn die Eddalieder „enthalten allerlei Unklarheiten, Widersprüche und Rätsel, und diese Probleme anzugehen war die erklärte Absicht, die mein Vater mit der Abfassung der „neuen Lieder“ verband.“[10] Tolkien wollte den teils diffusen Sagenstoff „vereinigen“ und „systematisieren“, so manches ordnen und zu einer Klärung bringen.[11] Was die oben vorgestellte altnordische Variante der Sage betrifft, verändert Tolkien den eddischen Stil der Verknappung und Verdichtung, der manches unerzählt lässt. Seine neuen Lieder neigen zu einer gewissen epischen Breite, was einzelnen Strängen und Motiven mehr Raum gibt. Und dazu gehört auch das Motiv des Rheins.
So im „Neuen Wölsungenlied“, das J.R.R. Tolkien mit dem Untertitel Sigurđarkviđa en mesta „Das längste Sigurdlied“ versah. Damit griff er auf Bezeichnungen der altnordischen Heldenlieder zurück. Denn als „Längeres Sigurdlied“ (altnordisch Sigurðarkviða in meiri) bezeichnet man ein verloren gegangenes Heldenlied der Älteren Edda, dessen Inhalt mit Hilfe der Völsunga saga erschlossen werden kann. Das erhalten gebliebene „Kurze Sigurdlied“ (altnordisch Sigurðarkviða in skamma) ist trotz seines Namens mit 71 Strophen das längste Sigurdlied des Codex Regius. Sein Inhalt bietet die skandinavische Version der Brünhildsage, wobei statt Sigurd Brynhild im Mittelpunkt steht. Tolkien bezieht sich also auf die fragmentarische Überlieferung und rekonstruiert ein Sigurdlied. Allerdings arbeitete er dafür mehr literarisch als wissenschaftlich. Denn er imitierte den alten Stabreim, dichtete aber in englischer Sprache. Thema seiner Dichtung ist das Leben Sigurds bis zu dessen Tod und Verbrennung mit Brynhild, die Vorgeschichte der Wölsungen und letztendlich des Drachenschatzes.
Dabei geht er auch auf die Lokalität des Rheins ein: „Eine Wollflocke warf er in die Wellen des Rheins […]“[12]/„The Rhine river ran by swiftly […]“[13]. Das Reich der Gjukungen Gunnar und Högni liegt am Rhein („there rule a realm by Rhine-water.“[14]). Als Sigurd zu deren Burg reitet, fragt sich Gudrun: „Grün führen die Wege zum Wasser des Rheins. Wer reitet hier einsam, gerüstet zum Kampf?“[15]/„The roads run green to the Rhine-water!“[16], was der Szenerie eine gewisse Anschaulichkeit gibt. Auf der Werbungsfahrt zu Brynhild prahlt Sigurd in Gestalt Gunnars mit dessen Reichtümern: „Rotgoldene Ringe, rheinische Schätze, großes Brautgeld gebe ich dir!“[17] Dieser Rhineland treasure meint allerdings noch nicht Sigurds Drachengold im Rhein, sondern die ohnehin vorhandenen Reichtümer der Gjukungen/Niflungen. Der Strom steht weiterhin im Zentrum der Handlung, als Gudrun und Brynhild ihren fatalen Streit in seinem Wasser austragen: „Die Königinnen gingen mit Kämmen aus Gold zur Wäsche im Fluss, im Wasser des Rheins.“[18]
Im „Neuen Gudrunlied“, das wie die Vorlagen den Untergang der Gjukungen schildert, wird der Rhein noch stärker beschrieben. Der goldgierige Atli begehrt hier das Gold, das Sigurd an den Rhein brachte: „Den Schlangenschatz (serpent`s treasure) schickten sie nicht, den Niflungen hüteten im Niflungenland“.[19] Um Atlis Einladung zu überbringen, reitet dessen Herold westwärts durch finsteren Wald – „Zum großen Gjúkung Gunnar kam er, zum hohen und goldenen Hof am Rhein.“ („to halls of Rhineland high and golden“).[20] Und schließlich Gunnars Worte am Hunnenhof kurz vor seinem Tod: „Der Rhein soll es hüten („Rhine shall rule it“), Ringe und Kelche, schummerig schimmernd im strömenden Fluss. Wir warfen´s ins Wasser, da wiegt es sich dunkel, so unnütz den Menschen, wie´s ehemals war.“[21]
7. Der Elbenhort und der Eine Ring
Christopher Tolkien geht in den Erläuterungen der beiden Gedichte seines Vaters auf dessen Vorlesungsnotizen ein. Da J.R.R. Tolkien nichts zur Nibelungensage publizierte, sind die Nachlassfunde, darauf basierende Textrekonstruktionen und die handschriftlichen Skizzen der einzige Zugang zu seinem Umgang mit dem Nibelungenstoff. Sie verdeutlichen, dass sich der Hochschullehrer sehr intensiv mit dem Thema und der zeitgenössischen Forschung um 1930 auseinandergesetzt hat. Deren Probleme sind bis heute vielfältig und komplex – allein was die Überlieferung der einzelnen Quellen betrifft, ihre Ursprünge sowie ihre Beziehungen und Einflüsse untereinander. Dabei schenkte Tolkien unter anderem dem Nibelungenschatz und seiner Herkunft große Aufmerksamkeit. Er kannte natürlich die Episode aus dem Beowulf-Epos, wonach der Wälsing Sigemund der berühmte Drachentöter und Schatzerwerber ist. Ursprünglich völlig getrennt davon sah Tolkien den Reichtum der Burgunden (vgl. dazu oben Rhineland treasure in Tolkiens „Neuem Wölsungenlied“). Demnach kann der Hort sogar historische Wurzeln haben, verbunden mit dem Wormser Reich am Rhein. Der Oxforder Professor vertritt folgend eine mythologische These, die übrigens bis auf Jacob Grimm zurückreicht, mittlerweile aber als obsolet gilt. Christopher Tolkien stellt sie mit einem Zitat seines Vaters vor: „In dem Maße, wie Gundahari in der Vergangenheit versank […], hefteten sich dem berühmten König aus Worms verständlicherweise alte Sagen von Elbenhorten am Rhein an: „Dieser Schatz hatte wahrscheinlich bereits Dämonen oder Zwerge als Hüter, muss aber ursprünglich nicht mit Sigemunds Gold identisch gewesen sein, obwohl das durchaus denkbar ist.“[22] Tolkien mythologisiert ebenso die Nibelungen, die er als „Geschöpfe der Dunkelheit“[23] ansieht, auch sie ursprünglich elbischer Natur. Er verweist auf die zwergischen Schatzhüter Alberich (im Nibelungenlied, der Personenname setzt sich aus „Albe“ und „mächtig“ zusammen) und Andwari (in der altnordischen Überlieferung, vgl. unten), wobei er die Grenzen zwischen Zwergen und Alben/Elben verwischt sieht (ganz im Gegensatz zu deren gegenseitiger Abneigung in seiner Mittelerde).
Eine Sonderrolle spielt für Tolkien Hagen, dessen dunkle Züge im Nibelungenlied deutlich werden: Er gehört nicht zur burgundischen Königssippe, weiß als einziger mehr von Siegfried und Brünhild, die beide eine unhöfische, geradezu mythische Aura umgibt, und wird letztlich zum Herrn des Hortes, den er im Rhein versenkt. Die altnordische Überlieferung Islands macht ihn als Högni zum Bruder der Gjukungen, obwohl sein Name nicht mit denen der Brüder stabt, die mit „g-“ beginnen. Ganz anders hingegen die „Saga Thidreks von Bern“, die um 1250 im norwegischen Bergen entstand und wahrscheinlich auf niederdeutsche Sagen zurückgreift, von denen sonst nichts erhalten blieb. Ihr Högni ist ein Halbbruder der Niflungenkönige Gunnar, Gernos und Giselher von Werniza (Worms). Seine Mutter, die Gemahlin König Aldrians, wurde von einem namenlosen Alben geschwängert und gebar Högni. Seine albische Natur drückt die Saga aus, indem sie ihn als trollartiges Wesen beschreibt, bleich, groß und grauenerregend. Die Handlung der norwegischen Saga zeigt Ähnlichkeiten mit dem Nibelungenlied und verweist somit auf die deutsche Herkunft der Gestalt. Tolkien fand deshalb durchaus Argumente, von Elbenhorten am oder im Rhein auszugehen. Das Nibelungenlied verlagert diese mythische Herkunft ins ferne Norwegen, wo die Brüder Schilbung und Nibelung den Zwerg Alberich zum Hüter des Schatzes in einer Höhle machen. Die altnordischen Heldenlieder und die Völsunga saga mythologisieren stärker: Ihnen zufolge ist der Zwerg Andwari der ursprüngliche Besitzer des Hortes, der diesen den Asengöttern Odin, Hönir und Loki aushändigen muss. Diese werden gezwungen, ihn als Buße weiterzugeben, wodurch er schließlich in den Besitz Fafnirs kommt, eines anthropomorphen Wesens, das sich in einen Drachen verwandelt. Man darf davon ausgehen, dass Tolkien die Hinzuziehung der nordischen Götter als skandinavische Ausgestaltung gesehen hat, was der vorherrschenden Meinung entspricht.
Das spricht für ihn nicht dagegen, das Rheingold ursprünglich dem fränkischen Rheinland zuzuschreiben und überirdische Wesen wie Zwerge, Elben (Alben – auf die verschiedenen Bezeichnungen sei hier nicht eingegangen) und die ominösen Nibelungen zu seinen ältesten Hütern zu machen. Leider gibt es dafür nicht die geringsten Belege und so bleibt es eine reizvolle Theorie, die Tolkien zu Motiven seiner Fantasy-Romane inspiriert haben könnte. Dafür spricht die zeitliche Einordnung in die 1930er Jahre, von der Christopher Tolkien ausgeht. Fast zeitgleich hätte demnach J.R.R. Tolkien an einer Beowulf-Übersetzung, an seinen beiden Nibelungenliedern und am Kinderbuch des „Hobbits“ gearbeitet, das ohnehin als Ausfluss der Mittelerde-Welt zu verstehen ist, deren diverse Erzähl- und Motivstränge zum „Herrn der Ringe“ führen.
Insofern lohnt ein Blick auf das sowohl in der Nibelungensage als auch im Mittelerde-Roman bedeutende Ringmotiv. Während im Nibelungenlied ein Ring als Teil des Schatzes lediglich situativ von Bedeutung ist, wird er in der altnordischen Überlieferung zum entscheidenden Requisit, das sogar einen Namen erhält: „Andwaris Gabe“ (altnordisch Andvaranautr) nach seinem ursprünglichen Besitzer, dem Zwerg Andwari. Als dieser seinen im Gestein verborgenen Schatz Loki übergeben muss, bittet und fleht er darum, einen einzigen Ring behalten zu dürfen. Als Loki auf der Übergabe des Schmuckstücks besteht, spricht der Zwerg einen Fluch über den Ring aus. Ob dieser eine tiefere Bedeutung hat oder ob sich Andwari nur an seiner Schönheit erfreuen will, erfährt man in den Eddaliedern nicht. Jedenfalls begründet er als verfluchter Ring das Verhängnis seiner zukünftigen Besitzer: Obwohl Odin großen Gefallen daran findet, muss der Ring mitsamt dem Schatz einem Mann namens Hreidmarr ausgehändigt werden. Ihn trifft der Fluch, indem sein goldgieriger Sohn Fafnir ihn tötet und Schatz nebst Ring in seinen Besitz bringt. In Drachengestalt ist er das nächste Opfer, das bekanntlich von Sigurd erschlagen wird. In der Gestalt Gunnars schenkt dieser „Andwaris Gabe“ Brynhild als Morgengabe (nach einer anderen Version ist er sein Verlobungsgeschenk für Brynhild, das er ihr wieder abnimmt und Gudrun gibt). Jedenfalls wird der Ring zum Beweisstück des Betrugs und führt schließlich zur Ermordung Sigurds. Danach eignen sich Gunnar und Högni Schatz und Ring an, die sie schließlich im Rhein versenken. Aber der Fluch wirkt nach und bringt ihnen den Tod an Atlis Hof. Der Ring bleibt mit dem Rheingold im Strom verborgen.
Wie der Erzählfaden um das unentdeckte Rheingold weitergesponnen werden kann, zeigt am eindrücklichsten Richard Wagner (1813-1883) in seinem tetralogischen „Bühnenfestspiel“ des „Ring des Nibelungen“, dessen erster Teil „Rheingold“ ist. Der Nibelung ist Alberich, der den Rheintöchtern das Rheingold entwendet und daraus den Ring der Macht schmiedet. Tolkien hat sich gegen den vermuteten Einfluss Wagners auf sein Werk ausgesprochen, meinte sogar, beide Ringe hätten nicht mehr gemein als ihre runde Form. Trotzdem rezipieren beide Autoren aus der altnordischen Überlieferung und gestalten sie weiter. Den verfluchten Ring machen sie zum Symbol der Macht, das Tolkien sehr konkret zum „Herrscherring“[24] gestaltete.
Dieser Ring existiert nicht allein, sondern beherrschte jene neun Ringe, die Elbenschmiede erschufen und von denen jeweils drei für Elben, Zwerge und Menschen bestimmt waren. Um sie und damit Mittelerde in seine Gewalt zu bringen, schmiedet Sauron den Einen Ring im Schicksalsberg. Dieser ist Ausdruck seines bösen Willens und es zieht ihn stets zu ihm zurück. Die Entstehung sämtlicher Ringe ist analog zur altnordischen Überlieferung auf elbisch/zwergische und dämonische, jedenfalls nichtmenschliche Wesen zurückzuführen. Auf Tolkiens Ring lastet kein Fluch, sondern ein absolut böser Wille, der jedem Träger zum Verhängnis wird, wenn er sich seiner nicht entledigt. Ein übles Geschick erleidet der Menschenkönig Isildur von Gondor, der nach seinem Sieg in der Schlacht dem bezwungenen Sauron den Ring vom Finger schneidet. Als Isildur überfallen wird, versucht er sich durch Überstreifen des unsichtbar machenden Rings in Sicherheit zu bringen. Aber der Ring hat seinen eigenen Willen, entwindet sich seinem Finger und der König findet den Tod. Das verräterische Kleinod versinkt im Anduin und damit in jenem großen Strom, der in Mittelerde am ehesten dem Rhein gleicht. Dort wird er nach langer Zeit von zwei hobbitähnlichen Wesen gefunden. Um ihn entbrennt ein erbitterter Streit zwischen den Verwandten, den Sméagol für sich entscheidet, indem er einen Mord begeht. Doch dieser Verwandtenmord bringt ihm kein Glück: Er wird immer abhängiger vom Ring und mutiert zu Gollum, der das Sonnenlicht scheut und sich in die Stollengänge des Nebelgebirges zurückzieht. Dort findet zufällig Bilbo Beutlin den Ring („Hobbit“), der zu einer ungewöhnlichen Lebensverlängerung führt. Frodo nimmt ihm schließlich die Last des Ringes ab und kann ihn nach vielen Abenteuern zum Schicksalsberg bringen, in dessen Feuern der Eine Ring vernichtet wird.
Der Anduin spielt zweifelsohne nicht die überragende Rolle, die der Rhein in der Nibelungensage einnimmt. Dem widerspricht schon der Erzählstil: knappe Ortsnennungen dort, während Tolkien eine detaillierte fiktive Geographie entwirft. Trotzdem gemahnt der lange Fluss an den Rhein und birgt zumindest zeitweise den Ring als Hort des Bösen. Die Strukturen des Anduintals erinnern an den Rhein: Das Menschenreich von Gondor an einem Ufer, der verödete Machtbereich Saurons und seiner bösartigen Heerscharen der Orks auf der anderen. Das entstammt in seiner stilisierten Polarität natürlich der literarischen Gestaltung. Die historische Realität zwischen dem Imperium Romanum und den Germanenstämmen sah anders aus. Verlassene Städte und menschenleere Landschaften assoziieren in Anklängen die rheinischen Verhältnisse in der Übergangszeit zwischen provinzialrömischer Kultur und fränkischer Landnahme. Aber wenn Tolkien die historischen Verhältnisse der Spätantike und des frühen Mittelalters berücksichtigen wollte, fand er genügend Beispiele dafür in den „dunklen Jahrhunderten“ seiner Heimat England. Der Rhein blieb ihm jener Schauplatz der Nibelungensage, dessen Rolle ihm Inspiration für seine Fantasy-Romane geboten haben mag.
Tolkien-Ausgaben
Tolkien, J.R.R., The Hobbit: Or There and Back Again. London 1937, dt. Der kleine Hobbit. Übersetzt von Walter Scherf. Recklinghausen 1957. Der Hobbit oder Hin und Zurück. Übersetzt von Wolfgang Krege, Stuttgart 1998.
Tolkien, J.R.R., The Legend of Sigurd & Gudrún. Hg. von Christopher Tolkien, London 2009, dt. Die Legende von Sigurd und Gudrún. Übersetzt von Hans-Ulrich Möhring, Stuttgart 2010.
Tolkien, J.R.R., The Letters of J.R.R. Tolkien. Hg. von Humphrey Carpenter und Christopher Tolkien, London 1999, dt. J.R.R. Tolkien. Briefe. Übersetzt von Wolfgang Krege, 3. Auflage, Stuttgart 2002.
Tolkien, J.R.R., The Lord of the Rings. London 1954-1955, dt. Der Herr der Ringe. Übersetzt von Margaret Carroux. Stuttgart 1969-1970. Neuübersetzung von Wolfgang Krege, Stuttgart 2000.
Literatur
Beowulf. Ein altenglisches Heldenepos. Übersetzt und hg. von Martin Lehnert, Stuttgart 2004.
Die Edda des Snorri Sturluson. Ausgewählt, übersetzt und kommentiert von Arnulf Krause, Stuttgart 1997.
Die Götter- und Heldenlieder der Älteren Edda. Übersetzt, kommentiert und hg. von Arnulf Krause, Stuttgart 2011.
Die Saga von den Völsungen, in: Simek, Rudolf/Zeit-Altpeter, Jonas/Broustin, Valerie (Hg.), Sagas aus der Vorzeit. I. Heldensagas, Stuttgart 2020, S. 89-170.
Carpenter, Humphrey, J.R.R. Tolkien. Eine Biographie, Berlin/Wien 1983.
Foster, Robert, Das große Mittelerde-Lexikon, 2. Auflage, Bergisch Gladbach 2003.
Krause, Arnulf, Ein Lindwurm im Siebengebirge? Von Drachen, Germanen und Heldensagen, in: Glasner, Peter [u.a.] (Hg.), Nibelungen – Mythos, Kitsch, Kult, Siegburg 2008, S. 31-43.
Krause, Arnulf, Reclams Lexikon der germanischen Mythologie und Heldensage, Stuttgart 2010.
Krause, Arnulf, Die wirkliche Mittelerde. Tolkiens Mythologie und ihre Wurzeln im Mittelalter, Stuttgart 2012.
Krege, Wolfgang, Handbuch der Weisen von Mittelerde, Stuttgart 1999.
Scull, Christina/Hammond, Wayne, G., The J.R.R. Tolkien Companion and Guide. Chronology, Boston/New York 2006.
Shippey, Tom, Der Weg nach Mittelerde. Wie J.R.R. Tolkien „Der Herr der Ringe“ schuf, Stuttgart 2008.
Simek, Rudolf, Mittelerde. Tolkien und die germanische Mythologie, München 2005.
- 1: Krege, Handbuch, S. 188.
- 2: Krause, Mittelerde, S. 25.
- 3: Tolkien, Briefe, Brief 306.
- 4: Götter- und Heldenlieder, Strophe 17, S. 353.
- 5: Götter- und Heldenlieder, Strophe 27, S. 355.
- 6: Götter- und Heldenlieder: Reginnlied, S. 270.
- 7: Krause, Lindwurm, S. 31-43.
- 8: Götter- und Heldenlieder: Fragment eines Sigurdliedes, Strophe 5, S. 298.
- 9: Tolkien, Legende, S. 12.
- 10: Tolkien, Legende, S. 14.
- 11: Tolkien, Legende, S. 15.
- 12: Tolkien, Legende, S. 169.
- 13: Tolkien, Legende, S. 168.
- 14: Tolkien, Legende, S. 190.
- 15: Tolkien, Legende, S. 215.
- 16: Tolkien, Legende, S. 214.
- 17: Tolkien, Legende, S. 257.
- 18: Tolkien, Legende, S. 267.
- 19: Tolkien, Legende, S. 405.
- 20: m „Neuen Gudrunlied“, das wie die Vorlagen den Untergang der Gjukungen schildert, wird der Rhein noch stärker beschrieben. Der goldgierige Atli begehrt hier das Gold, das Sigurd an den Rhein brachte: „Den Schlangenschatz (_serpent\`s treasure_) schickten sie nicht, den Niflungen hüteten im Niflungenland“.
- 21: m „Neuen Gudrunlied“, das wie die Vorlagen den Untergang der Gjukungen schildert, wird der Rhein noch stärker beschrieben. Der goldgierige Atli begehrt hier das Gold, das Sigurd an den Rhein brachte: „Den Schlangenschatz (_serpent\`s treasure_) schickten sie nicht, den Niflungen hüteten im Niflungenland“.
- 22: Tolkien, Legende, S. 543.
- 23: Tolkien, Legende, S. 543.
- 24: Krege, Handbuch, S. 184-186.
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Krause, Arnulf, Elbenhorte am Rhein. Tolkien und das Rheinland, in: Internetportal Rheinische Geschichte, abgerufen unter: https://www.rheinische-geschichte.lvr.de/Epochen-und-Themen/Themen/elbenhorte-am-rhein.-tolkien-und-das-rheinland/DE-2086/lido/6087f12bd93e20.71474888 (abgerufen am 05.12.2024)