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Edith Stein, nach ihrem Eintritt in den Karmelorden Teresa Benedicta a Cruce, war eine deutsche Philosophin und katholische Nonne. Sie gehörte zum Phänomenologenkreis um Edmund Husserl (1859-1938) und gilt als eine der wenigen prägenden Frauengestalten in der Phänomenologie des frühen 20. Jahrhunderts.
Die am 12.10.1891, dem jüdischen Versöhnungstag, in Breslau geborene Edith Stein war das jüngste von elf Kindern einer orthodox-jüdischen Familie. Der Vater starb kurz nach der Geburt, die streng gläubige Mutter führte den von ihm betriebenen Holzhandel allein weiter. Ihr geschäftlicher Erfolg ermöglichte auch der Jüngsten eine gute Ausbildung: Von 1911 bis 1913 studierte Edith Stein Psychologie, Germanistik, Geschichte und Philosophie in Breslau und setzte ihre Studien 1913/ 1914 in Göttingen bei dem „Vater der Phänomenologie", Edmund Husserl fort.
Die „Urkatastrophe" des 20. Jahrhunderts, der Erste Weltkrieg, unterbrach die Studien der angehenden Phänomenologin: Sie meldete sich nach ihrem Staatsexamen beim Roten Kreuz in Breslau, um dann in einem Seuchenlazarett in Mährisch-Weißkirchen bis 1915 Dienst zu tun. 1915 setzte sie ihre Studien fort und promovierte 1916 bei Husserl, der mittlerweile in Freiburg die Nachfolge Heinrich Rickerts (1863-1936) angetreten hatte. In ihrer Dissertation „Zum Problem der Einfühlung" wandte sie die phänomenologische Methode und die transzendentale Reduktion Husserls auf den Akt der Einfühlung an und konnte so aufzeigen, wie das Erleben eines fremden Subjektes vermittelt wird.
Auch in ihren späteren Überlegungen war ihr Fokus immer wieder darauf ausgerichtet, diese explizit anthropologische Fragestellung von erkenntnistheoretischer, pädagogischer, (christlich)-ontologischer, staatsrechtlicher und theologischer Position aus jeweils neu zu beleuchten. Sie schloss mit „summa cum laude" ab, ein Prädikat, das laut Husserl nur Habilitationskandidaten (eine Habilitation blieb ihr als Frau zeitlebens versagt) vorbehalten war und blieb auch nach ihrer Promotion in Freiburg, um von 1916 bis 1918 als Husserls Privatassistentin zu arbeiten. In dieser Zeit begegnete sie auch dem Phänomenologen Max Scheler (1874-1928), der ihren Blick dafür öffnete, in der Liebe über ihre romantische Bedeutung hinaus auch eine phänomenologische Methode zu sehen: Indem sie den Betrachter gleichsam dazu auffordere, von der Sache und der Person zurückzutreten, wende dieser in der Folge nicht nur seine volle Aufmerksamkeit dem Betrachteten zu, sondern lasse ihm im Zurücktreten des Eigenen den Raum, selbst zu sprechen und sich zu zeigen.
1917 stürzte sie der Tod des befreundeten Phänomenologen Adolf Reinach (1883-1917) in eine tiefe Krise, die wie sie selbst sagt, schon „lange vorbereitet" war. Die daraus folgende immer stärkere Annäherung an das Christentum wurde zu einer Wende in ihrem Leben, die sich mit der Lektüre einer Autobiographie der Karmeliterin Teresa von Avila (1515-1582) bei einem Aufenthalt in Bad Bergzabern bei ihrer Freundin, der Philosophin Hedwig Conrad-Martius (1888-1966) endgültig vollzog und in der katholischen Taufe am 1.1.1922 in Bad Bergzabern mündete. Aus dieser Zeit stammt auch ihr Werk „Einführung in die Philosophie" (1917/ 1918), in dem sie versuchte, über die philosophische Begründung der Natur- und Geisteswissenschaften die Gesamtheit von Welterschließung in den Blick zu bekommen.
Schon seit jeher den Idealen der Frauenbewegung gegenüber sehr aufgeschlossen, trat sie 1918 der von Friedrich Naumann (1860-1919) gegründeten Deutschen Demokratischen Partei (DDP) bei. Sie begann, eine weibliche Anthropologie zu entwickeln, die dem Weiblichen im Gegensatz zur männlichen begrifflich-zergliedernden eine auf Ganzheit strebende Erkenntnisweise zuordnet. Mit dem Antritt einer Stelle als Lehrerin am Lyzeum St. Magdalena in Speyer im Jahr 1923 begann sie allmählich, Arbeitsalltag und Religion zu einer Einheit zusammenzuführen. In diese Zeit fallen auch ihre Übersetzungen von John Henry Newman (1801-1890) und Thomas von Aquin (1225-1274). Seit 1926 hielt sie zudem verstärkt Vorträge zur Theologie und Pädagogik.
Stein entwickelte immer dezidierter eine ontologische Phänomenologie, die sie wiederum in einer Philosophie der Person zu übersteigen suchte. Durch die Rückbindung an die thomistische Akt-Potenzlehre wies sie das Ich als etwas auf, das Dauer hat und den ausgezeichneten Zugang zum Sein darstellt. Gleichzeitig verweise die Seinssicherheit auf die Verankerung des „Ich" in einem umfassenderem „Sein". Diese ganzheitlichen Überlegungen spiegeln sich auch in ihren staatstheoretischen Untersuchungen wieder, die den Staat als ein wertfreies soziales Gefüge kennzeichnen, das seinen Sinn aus dem Ethos seiner Bürger erhält, die als freie Personen in dieses integriert sind („Eine Untersuchung über den Staat", 1925).
1932/ 1933 erhielt sie eine Dozentur am Deutschen Institut für wissenschaftliche Pädagogik in Münster. Hier hielt sie Vorlesungen über Pädagogik, Psychologie und Philosophie, führte aber auch weiterhin ihre Vortragstätigkeit fort.
Als ihr von den Nationalsozialisten die Lehrbefugnis entzogen wurde, setzte sie ihren schon lang gereiften Entschluss um, endgültig die Nachfolge Teresas von Avila anzutreten. Am 15.10.1933 trat sie in den Karmel in Köln-Lindenthal ein und wählte den Ordensnamen Teresa Benedicta a Cruce (Theresia Benedicta vom Kreuz). In dieser Zeit arbeitete sie in Auseinandersetzung mit Aristoteles, Augustinus und Thomas von Aquin intensiv an ihrem eigentlichen Hauptwerk „Endliches und ewiges Sein" (1936), in dem sie auf philosophische Überlegungen aus ihrer Schrift „Potenz und Akt" aus dem Jahr 1931 zurückgreift, das unveröffentlicht geblieben war. In ihm expliziert sie das Grundverhältnis von Sein und Werden aus dem Verhältnis von endlichem und ewigem Sein und ordnet ihm so eine Brückenfunktion zwischen beiden Seinsweisen zu. In Auseinandersetzung mit Martin Heidegger (1889-1976) will sie dabei ein Seinsverständnis entwickeln, das mehr ist als nur ein „Sein zum Tode".
Um den Kölner Orden nicht zu gefährden, floh Stein nach den Pogromen am 9. und 10.11.1938 – nur acht Monate, nachdem sie das Gelübde ablegen konnte – ins Kloster Echt (Niederlande), wo sie sich mehr und mehr der neuplatonischen Mystik zuwandte: Anhand der Schriften von Johannes vom Kreuz (1542-1591) entwickelte sie in ihrer letzten Schrift „Kreuzeswissenschaft. Studie über Johannes vom Kreuz" (1941/ 1942, erschienen 1950) eine Beziehung Gottes zum Menschen, in der die mystische Theologie als ein Sprechen (des entzogenen) Gottes von sich selbst, als eine von Gott gelegte Spur zu verstehen ist, welcher der menschliche Geist nur folgen kann, indem er sich durch das Zurücklassen aller rationalen Gottesbilder selbst transzendiert. Das Kreuz wird für sie zum Zeichen dafür, wie der Teufelskreis von Gewalt und Gegengewalt durchbrochen werden kann, die Kreuzesnachfolge zu einer Möglichkeit, in ihrem eigenen Leben jüdische Wurzeln und christliches Credo zu verbinden.
In diesem Geist stand auch ihre Reaktion auf ihre Auslieferung. Als sie und ihre Schwester Rosa von der Gestapo am 2.8.1942 abgeholt wurden, sagte sie zu ihrer Schwester „Komm, wir gehen für unser Volk." Die Deportation konvertierter Juden war die Reaktion der Nationalsozialisten auf einen Protestbrief der niederländischen Bischöfe gewesen. Die Schwestern Stein wurden zunächst nach Westerbork und später nach Auschwitz gebracht, wo sie vermutlich zusammen mit den anderen Konvertiten am 9.8.1942 starben.
Am 1.5.1987 wurde Edith Stein als erste Katholikin jüdischer Abstammung selig und am 11.10.1998 heilig gesprochen. Ein Jahr später wurde sie zur Mitpatronin Europas ernannt.
Werke (Auswahl)
Das Einfühlungsproblem in seiner historischen Entwicklung und in phänomenologischer Betrachtung, 1917.
Zum Problem der Einfühlung, 1917.
Einführung in die Philosophie, 1917/ 1918.
Eine Untersuchung über den Staat, 1925.
Potenz und Akt. Studien zu einer Philosophie des Seins, 1931.
Endliches und Ewiges Sein, 1937.
Kreuzeswissenschaft. Studie über Johannes vom Kreuz, 1941/ 1942.
Gesamtausgaben:
Edith-Stein-Gesamtausgabe (ESGA), hg. von Hanna-Barbara Gerl-Falkovitz, 25 Bände, Freiburg (Breisgau) 2000-2008.
Literatur
Freienstein, Peter, Sinn verstehen. Die Philosophie Edith Steins, London 2007.
Gerl-Falkovitz, Hanna-Barbara, Unerbittliches Licht. Edith Stein – Philosophie, Mystik, Leben, Mainz 1991.
Gottlöber, Susan, Edith Stein, Teresa Benedicta a Croce (1891-1942), Philosophin, in: Rheinische Lebensbilder 19 (2013), S. 283-308.
Kloeden, Wolfdietrich von, "Stein, Edith", in: Biographisch-Bibliographisches Kirchenlexikon 15 (1999), Sp. 1318-1340.
Müller, Andreas Uwe, Grundzüge der Religionsphilosophie Edith Steins, Freiburg (Breisgau) 1993.
Schulz, Peter, Edith Steins Theorie der Person. Von der Bewußtseinsphilosophie zur Geistmetaphysik, Freiburg (Breisgau) 1994.
Online
Biographie von Edith Stein (Homepage der Edith-Stein-Gesellschaft Deutschland e.V.). [Online]
Schweers, Ursula, Edith Stein (Information auf der Website FemBio.org des FemBio Frauen-Biographisforschung e.V.). [Online]
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Gottlöber, Susan, Edith Stein, in: Internetportal Rheinische Geschichte, abgerufen unter: https://www.rheinische-geschichte.lvr.de/Persoenlichkeiten/edith-stein/DE-2086/lido/57c955388d2530.08514747 (abgerufen am 03.12.2024)