Friedrich Tillmann

Fachmann für Jugendfürsorge, NS-Schreibtischtäter (1903-1964)

Klaus Schmidt (Köln)

Friedrich Tillmann, 1956.

Fried­rich Till­mann wur­de am 6.3.1903 als Sohn ei­nes Schmie­de­meis­ters in Mül­heim am Rhein (heu­te Stadt Köln) ge­bo­ren. Die Fa­mi­lie war ka­tho­lisch. Nach der mitt­le­ren Rei­fe wur­de Till­mann Mit­glied des „Neu-Deutsch­land-Ver­bands ka­tho­li­scher Schü­ler an hö­he­ren Lehr­an­stal­ten“(ND). 1920 wand­te er sich der durch die „Wan­der­vo­gel“-Be­we­gung ge­präg­ten Bün­di­schen Ju­gend zu, be­gann ei­ne kauf­män­ni­sche Leh­re und trat 1923 – von der NS-Pro­pa­gan­da be­ein­druckt – in die NS­DAP ein. Er wirk­te in NS- Ju­gend­ver­bän­den und lern­te Par­tei­mit­glie­der ken­nen, die ihn spä­ter för­dern soll­ten, dar­un­ter Vik­tor Brack (1904-1948), den spä­te­ren Ober­amts­lei­ter der „Kanz­lei des Füh­rer­s“.

Als er den Be­fehl des Gau­lei­ter­s Dr. Ro­bert Ley a­b­lehn­te, Grup­pen der Bün­di­schen Ju­gend in die NS­DAP zu über­füh­ren, wur­de der in­zwi­schen als Bü­ro­an­ge­stell­ter und Film­füh­rer tä­ti­ge Till­mann 1928 aus der Mit­glie­der­lis­te der Par­tei ge­stri­chen. 1932 nahm er an ei­ner von ju­gend­li­chen Ab­ge­ord­ne­ten al­ler par­tei­li­chen Schat­tie­run­gen be­schick­ten deutsch-fran­zö­si­schen Ju­gend­ta­gung in Frank­furt am Main teil und un­ter­nahm ei­ne Stu­di­en­rei­se nach Groß­bri­tan­ni­en und Ir­land.

Nach Adolf Hit­lers (1889-1945) Macht­an­tritt 1933 wur­de er zu­nächst Aus­hilfs­an­ge­stell­ter bei der Stadt Köln im Be­reich der Ju­gend­pfle­ge. Als Ka­tho­lik durf­te er sich durch die staats­be­ja­hen­de Hal­tung der Bi­schofs­kon­fe­renz und der Köl­ner Zen­trums­frak­ti­on in sei­ner NS-freund­li­chen Hal­tung be­stä­tigt füh­len, am 20.7.1933 zu­dem noch durch die Ver­kün­di­gung des Kon­kor­dats, das der Mün­che­ner Erz­bi­schof und Kar­di­nal Mi­cha­el von Faul­ha­ber (Epis­ko­pat als Erz­bi­schof von Mün­chen 1917-1952) in ei­nem Te­le­gramm an Hit­ler als „ei­ne Gro­ß­tat von un­er­me­ß­li­chem Se­gen“ fei­er­te.

Im No­vem­ber 1933 wur­de Till­mann – seit dem 1.5.1933 wie­der Par­tei­mit­glied – auf­grund lang­jäh­ri­ger Er­fah­run­gen in der Ju­gend­ar­beit Städ­ti­scher Di­rek­tor der Wohl­fahrts­wai­sen­pfle­ge. 1935 hei­ra­te­te er Me­lit­ta Schmidt, Toch­ter ei­nes Köl­ner Schmie­des, in Ber­lin Ge­ne­ral­se­kre­tä­rin in ei­nem Kon­zern.

1936 setz­te er durch, dass Kru­zi­fi­xe in den Räu­men des Köln-Sül­zer Wai­sen­hau­ses blei­ben konn­ten und der Haus­geist­li­che dort Re­li­gi­ons­un­ter­richt, Schul- und Sonn­tags­got­tes­diens­te hal­ten konn­te. 1938 nahm er an ei­ner Haus­pro­zes­si­on teil, mit der die Non­nen er­folg­reich ge­gen die dro­hen­de Über­nah­me des Wai­sen­hau­ses durch „brau­ne Schwes­tern“ pro­tes­tier­ten. Aus sei­nem Ab­scheu über die wäh­rend der Reichs­po­grom­nacht ver­üb­ten Aus­schrei­tun­gen mach­te er kei­nen Hehl. Nach Kriegs­be­ginn ver­steck­te er ei­nen flä­mi­schen Do­mi­ni­ka­ner­pa­ter in dem Wai­sen­haus, in dem er sei­ne Woh­nung hat­te. 

En­de 1939 wur­den in Düs­sel­dorf E­va­ku­ie­rungs­maß­nah­men von Kin­der- und Säug­lings­hei­men der Rhein­pro­vinz be­spro­chen. Till­mann, der in Köln die Ver­schi­ckung von Wai­sen­kin­dern in die Ei­fel plan­te, wur­de von ei­nem Mi­nis­te­ri­al­di­ri­gen­ten in der Ab­tei­lung „Ge­sund­heits­we­sen und Volks­pfle­ge“ des Reich­sin­nen­mi­nis­te­ri­ums be­auf­tragt, ei­ne An­wei­sung aus­zu­ar­bei­ten, aus der „bei plötz­li­cher Ver­le­gung von An­stalts­in­sas­sen [in Heil- und Pfle­ge­an­stal­ten] ent­nom­men wer­den kann, an was al­les zu den­ken is­t“ – bei Säug­lings­hei­men et­wa die Säug­lings­nah­rung.

Kurz dar­auf er­fuhr Till­mann in Ber­lin, sein Auf­trag ha­be et­was mit „Ster­be­ur­kun­den“ zu tun. Bei ei­ner Rei­se zur Heil- und Pfle­ge­an­stalt Gör­den in Bran­den­burg sah er – noch ah­nungs­los –, wie sol­che Ur­kun­den aus­ge­stellt wur­den. We­nig spä­ter er­hielt er in Ber­lin in der En­de 1939 er­rich­te­ten „Eu­tha­na­sie“-Zen­tra­le in der Tier­gar­ten­stra­ße 4 („T 4“) den ge­hei­men Auf­trag, die aus Heil- und Pfle­ge­an­stal­ten ein­tref­fen­den Mel­de­bö­gen zu be­ar­bei­ten, die da­nach an die Ge­sund­heits­ab­tei­lung des Reich­sin­nen­mi­nis­te­ri­ums ge­schickt wur­den. Sei­ne Zwei­fel an der ethi­schen Er­laubt­heit der Kran­ken­tö­tun­gen wur­den durch die „idea­lis­ti­sche“ In­ter­pre­ta­ti­on der „Gna­den­to­d“-Prak­ti­ken er­stickt. Be­son­ders be­ein­druck­te ihn der für die Or­ga­ni­sa­ti­on der Mas­sen­tö­tun­gen zu­stän­di­ge ge­lern­te Di­plom-Land­wirt Dr. Hans He­fel­mann (1906-1986), dass schon So­kra­tes und die Rö­mer, die Na­tur­völ­ker, Mar­tin Lu­ther (1483-1546) und der hei­lig ge­spro­che­ne Eng­län­der Tho­mas Mo­rus (1478-1535),  Louis Pas­teur (1822-1895), der fran­zö­si­sche Chir­urg und No­bel­preis­trä­ger Alexis Car­rell (1873-1944) so­wie deut­sche Wis­sen­schaft­ler Ster­be­hil­fe für un­heil­bar kran­ke Men­schen be­für­wor­tet hat­ten. He­fel­mann war ein Christ, der sein Kind heim­lich tau­fen ließ, die Tö­tung un­heil­bar Kran­ker „im Sin­ne christ­li­cher Nächs­ten­lie­be und christ­li­chen Mit­leid­s“ ver­stand und noch spä­ter, 1964 vor Ge­richt, sag­te, es sei „ein un­rei­ner Ge­dan­ke, der Gott der Lie­be kön­ne wün­schen, dass ein Mensch nur nach un­sag­ba­ren Schmer­zen ster­be“.

In der T4-Zen­tra­le be­zog Till­mann 1939 ein Zim­mer, pen­del­te zwi­schen Ber­lin und Köln im Zwei­wo­chen­tur­nus und in­spi­zier­te zwi­schen­durch ein­zel­ne Ver­ga­sungs­an­stal­ten und de­ren „Trost­brie­f­ab­tei­lun­gen“. Um zu ver­mei­den, dass durch ei­ne Häu­fung von To­des­mel­dun­gen Ver­dacht er­regt wur­de, ließ er ei­nen To­des­fall ge­ge­be­nen­falls zu ei­nem an­de­ren Zeit­punkt und so­gar an ei­nem an­de­ren Ort re­gis­trie­ren. Im Aus­nah­me­fall sah er auch bei Tö­tun­gen zu. Nach dem En­de der „T4“-Kran­ken­mord­ak­ti­on wur­den ihm in Köln zum Dank für sei­ne Eva­ku­ie­rung von Säug­lin­gen und Kin­dern aus meh­re­ren Kin­der­hei­men wäh­rend des Bom­ben­kriegs 1943 das Kriegs­ver­dienst­kreuz II. Klas­se ver­lie­hen. Nach­dem Bom­ben das Städ­ti­sche Kin­der­heim Köln-Sülz im Fe­bru­ar 1943 fast voll­stän­dig zer­stört hat­ten, zog Till­mann mit sei­ner Fa­mi­lie nach Klos­ter Stein­feld, wo der grö­ß­te Teil der eva­ku­ier­ten Kin­der leb­te und er auch zwei jü­di­sche Mäd­chen ver­steck­te.

Nach Kriegs­en­de wur­de er von den Al­li­ier­ten in­ter­niert und im Ju­li 1946 ent­las­sen. Ein Wie­der­ein­stel­lungs­an­trag bei der Stadt Köln schei­ter­te 1949 we­gen des lau­fen­den Ent­na­zi­fi­zie­rungs-Ver­fah­rens. 1950 ar­bei­te­te er als An­ge­stell­ter bei ei­ner Jung­ar­bei­ter- „Heim­stat­t“ in Op­la­den (heu­te Stadt Le­ver­ku­sen), dann als Heim­lei­ter des Ju­gend­wohn­hei­mes der Stadt Wolfs­burg und 1957 als Lei­ter der Heim­statt „St. Bar­ba­ra“ in Cas­trop-Rau­xel. Hier leb­te der in­zwi­schen Ver­wit­we­te mit sei­nen bei­den Töch­tern. Der Sohn stu­dier­te in Braun­schweig. Till­mann ging sonn­täg­lich zur Kir­che und wur­de Mit­glied im Pfarr­ge­mein­de­rat.

1960 wur­de er ver­haf­tet und an­ge­klagt, die „Tö­tung von et­wa 70.000 er­wach­se­nen In­sas­sen von Heil- und Pfle­ge­an­stal­ten ge­för­dert zu ha­ben“. Die Nach­richt schlug in Cas­trop-Rau­xel wie ei­ne „Bom­be“ ein, kam „wie ein Blitz aus hei­ters­tem Him­mel“. „Es ist ein und der­sel­be Fried­rich Till­man­n“, so die „West­fä­li­sche Rund­schau“, „die­ser an­er­kannt qua­li­fi­zier­te Fach­mann auf dem Ge­biet der Für­sor­ge­ar­beit, die­ser Lei­ter der Grup­pe ‚Heim­er­zie­her‘ in der Ak­ti­ons­ge­mein­schaft Ju­gend­schutz, die­ses Mit­glied des Kir­chen­vor­stan­des von St. Bar­ba­ra.“ 

Till­mann schil­der­te als ehe­ma­li­ger Au­gen­zeu­ge ei­nes Kran­ken­mor­des, wie man 30 Kran­ke in ei­nem Ba­de­raum durch Gas ge­tö­tet ha­be. Man ha­be ih­nen ge­sagt, sie müss­ten jetzt ein Bad neh­men. Da­nach ha­be ein Arzt ei­ne Gas­fla­sche ge­öff­net. Die Kran­ken sei­en sei­ner An­sicht nach „völ­lig ah­nungs­los“ ge­we­sen. Es ha­be sich zwar um „be­dau­erns­wer­te Kran­ke“, teil­wei­se „mensch­li­che Wracks“ ge­han­delt, sie sei­en aber an­sprech­bar ge­we­sen. In dem Raum sei­en sie et­wa ei­ne Stun­de ver­blie­ben. So­dann sei der Raum wie­der ge­öff­net wor­den. Er ha­be auch Ge­le­gen­heit ge­habt, ei­nen Blick in den Raum zu wer­fen. Die ge­tö­te­ten Kran­ken hät­ten sämt­lich am Bo­den ge­le­gen und „den Ein­druck ge­macht, als sei­en sie fried­lich ein­ge­schla­fen“. Ir­gend­wel­che An­zei­chen von To­des­kämp­fen sei­en nicht zu be­mer­ken ge­we­sen. Er hal­te es für mög­lich, dass meh­re­re Lei­chen da­nach zu­sam­men ver­brannt wur­den, so­dass ei­ne Tren­nung der Asche nicht mehr mög­lich ge­we­sen sei.

1963 wur­de das Ver­fah­ren ge­gen ihn in Lim­burg mit wei­te­ren Ver­fah­ren ver­knüpft: ge­gen den me­di­zi­ni­schen Lei­ter der Ak­ti­on T4, Wer­ner Heyde (1902-1964), und ge­gen Hans He­fel­mann, ehe­mals Lei­ter der Haupt­ab­tei­lung IIb der Kanz­lei des Füh­rers so­wie ge­gen Ger­hard Boh­ne (1902-1981), Till­manns Vor­gän­ger in der Bü­ro­ab­tei­lung der T4-Zen­t­ral­dienst­stel­le. 1960 war Till­mann in Dort­mund noch be­schul­digt wor­den, die Tö­tung von et­wa 70.000 er­wach­se­nen In­sas­sen von Heil- und Pfle­ge­an­stal­ten „ge­för­der­t“ und „durch Rat und Tat wis­sent­lich Hil­fe ge­leis­te­t“ zu ha­ben. Nun aber wur­de ihm wie den bei­den an­de­ren An­ge­klag­ten we­gen der Täu­schung der Op­fer und de­ren An­ge­hö­ri­gen so­wie der den Op­fern zu­ge­füg­ten kör­per­li­chen und see­li­sche Qua­len heim­tü­ckisch und grau­sam be­gan­ge­ner Mord vor­ge­wor­fen.

Ei­ne Wo­che vor Be­ginn der für den 18.2.1964 ge­plan­ten Haupt­ver­hand­lung stürz­te er in Köln aus dem Toi­let­ten­fens­ter im ach­ten Stock­werk des Bun­des­ver­wal­tungs­am­tes, in dem sei­ne Schwä­ge­rin ar­bei­te­te. Un­fall auf­grund von Ge­sund­heits­pro­ble­men oder Sui­zid auf­grund der in Zei­tun­gen er­wähn­ten ver­schärf­ten An­kla­ge? Da sich der Haupt­an­ge­klag­te Heyde in der Haft ei­nen Tag spä­ter das Le­ben nahm, ver­mu­te­te die Staats­an­walt­schaft ei­ne Ab­spra­che un­ter den Tat­ver­däch­ti­gen. Der Pro­zess schei­ter­te end­gül­tig: Ger­hard Boh­ne wur­de 1969 und Hans He­fel­mann 1972 vom Lim­bur­ger Ge­richt für dau­ernd ver­hand­lungs­un­fä­hig er­klärt. Sie leb­ten noch lan­ge Jah­re „un­be­hel­lig­t“ wei­ter – Boh­ne bis 1981, He­fel­mann bis 1986.

Literatur

Klee, Ernst, „Eu­tha­na­sie“ im NS-Staat, 11. Auf­la­ge, Frank­furt a. M. 2010.
Klee, Ernst, Was sie ta­ten – Was sie wur­den. Ärz­te, Ju­ris­ten und an­de­re Be­tei­lig­te am Kran­ken- oder Ju­den­mord, 12. Auf­la­ge, Frank­furt a. M. 2004.
Schmidt, Klaus, Ich ha­be aus Mit­leid ge­han­delt. Der Köl­ner Wai­sen­haus­di­rek­tor und NS-„Eu­tha­na­sie“-Be­auf­trag­te Fried­rich Till­mann (1903−1964), Ber­lin 2010. 

 
Zitationshinweis

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Schmidt, Klaus, Friedrich Tillmann, in: Internetportal Rheinische Geschichte, abgerufen unter: https://www.rheinische-geschichte.lvr.de/Persoenlichkeiten/friedrich-tillmann/DE-2086/lido/5f72e77bd12426.11911411 (abgerufen am 06.12.2024)