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Friedrich Tillmann wurde am 6.3.1903 als Sohn eines Schmiedemeisters in Mülheim am Rhein (heute Stadt Köln) geboren. Die Familie war katholisch. Nach der mittleren Reife wurde Tillmann Mitglied des „Neu-Deutschland-Verbands katholischer Schüler an höheren Lehranstalten“(ND). 1920 wandte er sich der durch die „Wandervogel“-Bewegung geprägten Bündischen Jugend zu, begann eine kaufmännische Lehre und trat 1923 – von der NS-Propaganda beeindruckt – in die NSDAP ein. Er wirkte in NS- Jugendverbänden und lernte Parteimitglieder kennen, die ihn später fördern sollten, darunter Viktor Brack (1904-1948), den späteren Oberamtsleiter der „Kanzlei des Führers“.
Als er den Befehl des Gauleiters Dr. Robert Ley ablehnte, Gruppen der Bündischen Jugend in die NSDAP zu überführen, wurde der inzwischen als Büroangestellter und Filmführer tätige Tillmann 1928 aus der Mitgliederliste der Partei gestrichen. 1932 nahm er an einer von jugendlichen Abgeordneten aller parteilichen Schattierungen beschickten deutsch-französischen Jugendtagung in Frankfurt am Main teil und unternahm eine Studienreise nach Großbritannien und Irland.
Nach Adolf Hitlers (1889-1945) Machtantritt 1933 wurde er zunächst Aushilfsangestellter bei der Stadt Köln im Bereich der Jugendpflege. Als Katholik durfte er sich durch die staatsbejahende Haltung der Bischofskonferenz und der Kölner Zentrumsfraktion in seiner NS-freundlichen Haltung bestätigt fühlen, am 20.7.1933 zudem noch durch die Verkündigung des Konkordats, das der Münchener Erzbischof und Kardinal Michael von Faulhaber (Episkopat als Erzbischof von München 1917-1952) in einem Telegramm an Hitler als „eine Großtat von unermeßlichem Segen“ feierte.
Im November 1933 wurde Tillmann – seit dem 1.5.1933 wieder Parteimitglied – aufgrund langjähriger Erfahrungen in der Jugendarbeit Städtischer Direktor der Wohlfahrtswaisenpflege. 1935 heiratete er Melitta Schmidt, Tochter eines Kölner Schmiedes, in Berlin Generalsekretärin in einem Konzern.
1936 setzte er durch, dass Kruzifixe in den Räumen des Köln-Sülzer Waisenhauses bleiben konnten und der Hausgeistliche dort Religionsunterricht, Schul- und Sonntagsgottesdienste halten konnte. 1938 nahm er an einer Hausprozession teil, mit der die Nonnen erfolgreich gegen die drohende Übernahme des Waisenhauses durch „braune Schwestern“ protestierten. Aus seinem Abscheu über die während der Reichspogromnacht verübten Ausschreitungen machte er keinen Hehl. Nach Kriegsbeginn versteckte er einen flämischen Dominikanerpater in dem Waisenhaus, in dem er seine Wohnung hatte.
Ende 1939 wurden in Düsseldorf Evakuierungsmaßnahmen von Kinder- und Säuglingsheimen der Rheinprovinz besprochen. Tillmann, der in Köln die Verschickung von Waisenkindern in die Eifel plante, wurde von einem Ministerialdirigenten in der Abteilung „Gesundheitswesen und Volkspflege“ des Reichsinnenministeriums beauftragt, eine Anweisung auszuarbeiten, aus der „bei plötzlicher Verlegung von Anstaltsinsassen [in Heil- und Pflegeanstalten] entnommen werden kann, an was alles zu denken ist“ – bei Säuglingsheimen etwa die Säuglingsnahrung.
Kurz darauf erfuhr Tillmann in Berlin, sein Auftrag habe etwas mit „Sterbeurkunden“ zu tun. Bei einer Reise zur Heil- und Pflegeanstalt Görden in Brandenburg sah er – noch ahnungslos –, wie solche Urkunden ausgestellt wurden. Wenig später erhielt er in Berlin in der Ende 1939 errichteten „Euthanasie“-Zentrale in der Tiergartenstraße 4 („T 4“) den geheimen Auftrag, die aus Heil- und Pflegeanstalten eintreffenden Meldebögen zu bearbeiten, die danach an die Gesundheitsabteilung des Reichsinnenministeriums geschickt wurden. Seine Zweifel an der ethischen Erlaubtheit der Krankentötungen wurden durch die „idealistische“ Interpretation der „Gnadentod“-Praktiken erstickt. Besonders beeindruckte ihn der für die Organisation der Massentötungen zuständige gelernte Diplom-Landwirt Dr. Hans Hefelmann (1906-1986), dass schon Sokrates und die Römer, die Naturvölker, Martin Luther (1483-1546) und der heilig gesprochene Engländer Thomas Morus (1478-1535), Louis Pasteur (1822-1895), der französische Chirurg und Nobelpreisträger Alexis Carrell (1873-1944) sowie deutsche Wissenschaftler Sterbehilfe für unheilbar kranke Menschen befürwortet hatten. Hefelmann war ein Christ, der sein Kind heimlich taufen ließ, die Tötung unheilbar Kranker „im Sinne christlicher Nächstenliebe und christlichen Mitleids“ verstand und noch später, 1964 vor Gericht, sagte, es sei „ein unreiner Gedanke, der Gott der Liebe könne wünschen, dass ein Mensch nur nach unsagbaren Schmerzen sterbe“.
In der T4-Zentrale bezog Tillmann 1939 ein Zimmer, pendelte zwischen Berlin und Köln im Zweiwochenturnus und inspizierte zwischendurch einzelne Vergasungsanstalten und deren „Trostbriefabteilungen“. Um zu vermeiden, dass durch eine Häufung von Todesmeldungen Verdacht erregt wurde, ließ er einen Todesfall gegebenenfalls zu einem anderen Zeitpunkt und sogar an einem anderen Ort registrieren. Im Ausnahmefall sah er auch bei Tötungen zu. Nach dem Ende der „T4“-Krankenmordaktion wurden ihm in Köln zum Dank für seine Evakuierung von Säuglingen und Kindern aus mehreren Kinderheimen während des Bombenkriegs 1943 das Kriegsverdienstkreuz II. Klasse verliehen. Nachdem Bomben das Städtische Kinderheim Köln-Sülz im Februar 1943 fast vollständig zerstört hatten, zog Tillmann mit seiner Familie nach Kloster Steinfeld, wo der größte Teil der evakuierten Kinder lebte und er auch zwei jüdische Mädchen versteckte.
Nach Kriegsende wurde er von den Alliierten interniert und im Juli 1946 entlassen. Ein Wiedereinstellungsantrag bei der Stadt Köln scheiterte 1949 wegen des laufenden Entnazifizierungs-Verfahrens. 1950 arbeitete er als Angestellter bei einer Jungarbeiter- „Heimstatt“ in Opladen (heute Stadt Leverkusen), dann als Heimleiter des Jugendwohnheimes der Stadt Wolfsburg und 1957 als Leiter der Heimstatt „St. Barbara“ in Castrop-Rauxel. Hier lebte der inzwischen Verwitwete mit seinen beiden Töchtern. Der Sohn studierte in Braunschweig. Tillmann ging sonntäglich zur Kirche und wurde Mitglied im Pfarrgemeinderat.
1960 wurde er verhaftet und angeklagt, die „Tötung von etwa 70.000 erwachsenen Insassen von Heil- und Pflegeanstalten gefördert zu haben“. Die Nachricht schlug in Castrop-Rauxel wie eine „Bombe“ ein, kam „wie ein Blitz aus heiterstem Himmel“. „Es ist ein und derselbe Friedrich Tillmann“, so die „Westfälische Rundschau“, „dieser anerkannt qualifizierte Fachmann auf dem Gebiet der Fürsorgearbeit, dieser Leiter der Gruppe ‚Heimerzieher‘ in der Aktionsgemeinschaft Jugendschutz, dieses Mitglied des Kirchenvorstandes von St. Barbara.“
Tillmann schilderte als ehemaliger Augenzeuge eines Krankenmordes, wie man 30 Kranke in einem Baderaum durch Gas getötet habe. Man habe ihnen gesagt, sie müssten jetzt ein Bad nehmen. Danach habe ein Arzt eine Gasflasche geöffnet. Die Kranken seien seiner Ansicht nach „völlig ahnungslos“ gewesen. Es habe sich zwar um „bedauernswerte Kranke“, teilweise „menschliche Wracks“ gehandelt, sie seien aber ansprechbar gewesen. In dem Raum seien sie etwa eine Stunde verblieben. Sodann sei der Raum wieder geöffnet worden. Er habe auch Gelegenheit gehabt, einen Blick in den Raum zu werfen. Die getöteten Kranken hätten sämtlich am Boden gelegen und „den Eindruck gemacht, als seien sie friedlich eingeschlafen“. Irgendwelche Anzeichen von Todeskämpfen seien nicht zu bemerken gewesen. Er halte es für möglich, dass mehrere Leichen danach zusammen verbrannt wurden, sodass eine Trennung der Asche nicht mehr möglich gewesen sei.
1963 wurde das Verfahren gegen ihn in Limburg mit weiteren Verfahren verknüpft: gegen den medizinischen Leiter der Aktion T4, Werner Heyde (1902-1964), und gegen Hans Hefelmann, ehemals Leiter der Hauptabteilung IIb der Kanzlei des Führers sowie gegen Gerhard Bohne (1902-1981), Tillmanns Vorgänger in der Büroabteilung der T4-Zentraldienststelle. 1960 war Tillmann in Dortmund noch beschuldigt worden, die Tötung von etwa 70.000 erwachsenen Insassen von Heil- und Pflegeanstalten „gefördert“ und „durch Rat und Tat wissentlich Hilfe geleistet“ zu haben. Nun aber wurde ihm wie den beiden anderen Angeklagten wegen der Täuschung der Opfer und deren Angehörigen sowie der den Opfern zugefügten körperlichen und seelische Qualen heimtückisch und grausam begangener Mord vorgeworfen.
Eine Woche vor Beginn der für den 18.2.1964 geplanten Hauptverhandlung stürzte er in Köln aus dem Toilettenfenster im achten Stockwerk des Bundesverwaltungsamtes, in dem seine Schwägerin arbeitete. Unfall aufgrund von Gesundheitsproblemen oder Suizid aufgrund der in Zeitungen erwähnten verschärften Anklage? Da sich der Hauptangeklagte Heyde in der Haft einen Tag später das Leben nahm, vermutete die Staatsanwaltschaft eine Absprache unter den Tatverdächtigen. Der Prozess scheiterte endgültig: Gerhard Bohne wurde 1969 und Hans Hefelmann 1972 vom Limburger Gericht für dauernd verhandlungsunfähig erklärt. Sie lebten noch lange Jahre „unbehelligt“ weiter – Bohne bis 1981, Hefelmann bis 1986.
Literatur
Klee, Ernst, „Euthanasie“ im NS-Staat, 11. Auflage, Frankfurt a. M. 2010.
Klee, Ernst, Was sie taten – Was sie wurden. Ärzte, Juristen und andere Beteiligte am Kranken- oder Judenmord, 12. Auflage, Frankfurt a. M. 2004.
Schmidt, Klaus, Ich habe aus Mitleid gehandelt. Der Kölner Waisenhausdirektor und NS-„Euthanasie“-Beauftragte Friedrich Tillmann (1903−1964), Berlin 2010.
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Schmidt, Klaus, Friedrich Tillmann, in: Internetportal Rheinische Geschichte, abgerufen unter: https://www.rheinische-geschichte.lvr.de/Persoenlichkeiten/friedrich-tillmann/DE-2086/lido/5f72e77bd12426.11911411 (abgerufen am 06.12.2024)