Hans-Dietrich Genscher

Jurist, Politiker (1927-2016)

Jürgen Frölich (Gummersbach/Bonn)

Hans-Dietrich Genscher bei einer Wahlkundgebung der FDP der DDR auf dem Domplatz Erfurt, 28.2.1990, Foto: Heinz Hirndorf. (Bild 183-1990-0228-030 | Hirndorf, Heinz | CC-BY-SA 3.0)

All­ge­mein gilt Hans-Diet­rich Gen­scher als die be­kann­tes­te Per­sön­lich­keit aus Sach­sen-An­halt im 20. Jahr­hun­dert, aber 50 Jah­re lang und da­mit die längs­te Zeit sei­nes Le­bens hat­te der lang­jäh­ri­ge deut­sche Au­ßen­mi­nis­ter und Vi­ze­kanz­ler Hans-Diet­rich Gen­scher sei­nen Le­bens­mit­tel­punkt im Rhein­land, wo er auch sei­ne letz­te Ru­he­stät­te fand. 

Ge­bo­ren am 21.3.1927 in Rei­de­burg (heu­te Stadt Hal­le (Saa­le)) war Gen­scher das ein­zi­ge Kind des Jus­ti­ti­ars Kurt Gen­scher (1898-1937) und sei­ner Ehe­frau Hil­da, ge­bo­re­ne Krei­me (1901-1988). Die Fa­mi­lie war evan­ge­lisch. Zwar zog sie 1933 nach Hal­le, wo der Sohn auch ein­ge­schult wur­de, doch ver­brach­te Hans-Diet­rich Gen­scher sei­ne Ju­gend­zeit, ins­be­son­de­re nach dem frü­hen Tod des Va­ters, vor­nehm­lich auf dem Rei­de­bur­ger Bau­ern­hof, dem sei­ne Mut­ter ent­stamm­te und wo es heu­te ei­ne Er­in­ne­rungs­stät­te an ihn gibt. Noch wäh­rend sei­ner Schul­zeit am Hal­len­ser Re­form-Re­al­gym­na­si­um wur­de er 1943 als Luft­waf­fen­hel­fer und dann zum Reichs­ar­beits­dienst ein­ge­zo­gen. An­fang 1945 mel­de­te er sich frei­wil­lig zur Wehr­macht und nahm als Sol­dat an der Schlacht um Ber­lin teil. Nach Kriegs­en­de konn­te er zwar schnell in sei­ne Hei­mat­stadt zu­rück­keh­ren und dort 1946 auch das Ab­itur nach­ho­len, er­krank­te dann aber schwer an Lun­gen­tu­ber­ku­lo­se, was sei­ne Schaf­fens­kraft wäh­rend des ge­sam­ten nächs­ten Jahr­zehnts im­mer wie­der be­ein­träch­ti­gen soll­te. 

Von 1946 bis 1949 stu­dier­te Gen­scher Volks­wirt­schaft und Ju­ra an den Uni­ver­si­tä­ten Hal­le und Leip­zig, wo er das Stu­di­um mit der ers­ten ju­ris­ti­schen Staats­prü­fung be­en­de­te. Es schloss sich das Re­fe­ren­da­ri­at beim Amts­ge­richt im Ober­lan­des­ge­richts­be­zirk Hal­le an. Schon zu Be­ginn des Ju­ra­stu­di­ums in Leip­zig be­gann sein po­li­ti­sches En­ga­ge­ment mit dem Ein­tritt in die Li­be­ral­de­mo­kra­ti­sche Par­tei Deutsch­lands, die zu­nächst ge­gen die Eta­blie­rung der SED-Dik­ta­tur Wi­der­stand leis­te­te, aber An­fang der 1950er Jah­re fak­tisch gleich­ge­schal­tet wur­de. Et­wa zu die­sem Zeit­punkt sie­del­te der Ge­richts­re­fe­ren­dar Gen­scher in den Wes­ten über, wo er sich zu­nächst in Bre­men nie­der­ließ, 1954 das zwei­te ju­ris­ti­sche Staats­ex­amen ab­leg­te und un­mit­tel­bar dar­auf in die Rechts­an­walt-So­zie­tät Kuhl­mann-Schu­len­burg ein­trat. 

Im April 1956 be­kam Gen­schers Le­bens­weg ei­ne völ­lig neue Wen­dung, als dem an­ge­hen­den Rechts­an­walt und stell­ver­tre­ten­den Vor­sit­zen­den der FDP-Nach­wuchs­or­ga­ni­sa­ti­on in Bre­men ein Pos­ten bei der FDP-Bun­des­tags­frak­ti­on an­ge­bo­ten wur­de und Gen­scher nach Bonn ging. Die FDP war kurz zu­vor un­ter Ver­lust ih­res „Mi­nis­ter­flü­gel­s“ aus der Ko­ali­ti­on mit der CDU aus­ge­schie­den und in die Op­po­si­ti­on ge­gan­gen. Der streit­ba­re und ei­gen­wil­li­ge Par­tei­vor­sit­zen­de Tho­mas Deh­ler (1897-1967) wur­de zum Men­tor und Vor­bild für den Frak­ti­ons­as­sis­ten­ten Gen­scher, der trotz sei­nes ge­sund­heit­li­chen Han­di­caps durch Fleiß und Ziel­stre­big­keit auf sich auf­merk­sam mach­te.

So wur­de er be­reits 1959 Ge­schäfts­füh­rer der Bun­des­tags­frak­ti­on und über­nahm 1962 als Nach­fol­ger Karl-Her­mann Flachs (1929-1973) zu­sätz­lich die Ge­schäfts­füh­rung der FDP-Bun­des­par­tei. Für die Bun­des­tags­wahl 1965 trat er durch Ver­mitt­lung des nord­rhein-west­fä­li­schen FDP-Lan­des­vor­sit­zen­den Wil­li Wey­er (1917-1987) im Wahl­kreis Wup­per­tal I an und zog über die FDP-Lan­des­lis­te ins Par­la­ment ein. Die­sem von der SPD be­herrsch­ten Wahl­kreis blieb Gen­scher bis zur Wahl von 1994 treu, ob­wohl er kei­ne Chan­ce auf ein Di­rekt­man­dat hat­te; im­mer­hin er­reich­te er 1990 auf dem Hö­he­punkt sei­ner Po­pu­la­ri­tät über 19 Pro­zent der Erst­stim­men.

Erst­mals all­ge­mei­nes Auf­se­hen er­reg­te der neue Bun­des­tags­ab­ge­ord­ne­te im Sep­tem­ber 1966 mit ei­ner Re­de in Stutt­gart, bei der Gen­scher ei­ne Neu­kon­zep­ti­on der Deutsch­land- und Ost­po­li­tik ent­warf und die deut­sche Wie­der­ver­ei­ni­gung in ei­ne Über­win­dung der eu­ro­päi­schen Spal­tung in­te­grier­te, oh­ne dass da­bei die West­bin­dung Deutsch­lands auf­ge­ge­ben wer­den soll­te. Dass die­se Re­de in ge­wis­ser Wei­se ei­ne Blau­pau­se für den Kurs des spä­te­ren Au­ßen­mi­nis­ters bil­de­te, sah kaum je­mand vor­aus, zu­mal Gen­scher zu­nächst vor­nehm­lich als In­nen­po­li­ti­ker galt.

Die Um­bruch­pha­se, in die die FDP nach dem neu­er­li­chen Bruch der Re­gie­rungs­ko­ali­ti­on mit der CDU ab En­de 1966 ein­trat, be­güns­tig­te sei­nen in­ner­par­tei­li­chen Auf­stieg. Seit An­fang 1968 bil­de­te er als Stell­ver­tre­ter des Par­tei­vor­sit­zen­den Wal­ter Scheel (1919-2016) mit die­sem und dem Frak­ti­ons­vor­sit­zen­den Wolf­gang Mischnick (1921-2002) ein Tri­um­vi­rat, das den Kurs der FDP in den nächs­ten Jah­ren be­stimm­te. Als Scheel nach der für die FDP ei­gent­lich ver­lust­rei­chen Bun­des­tags­wahl 1969 die sich bie­ten­de Chan­ce mu­tig er­griff und mit der SPD un­ter dem Kanz­ler Wil­ly Brandt (1913-1992) erst­mals ei­ne so­zi­al-li­be­ra­le Re­gie­rung bil­de­te, wur­de Gen­scher In­nen­mi­nis­ter.

Das auf­grund sei­ner Grö­ße und He­te­ro­ge­ni­tät als schwie­rig an­ge­se­he­ne Res­sort hat­te der neue Mi­nis­ter schnell im Griff und such­te sei­ne Kom­pe­ten­zen noch da­durch aus­zu­bau­en, in­dem er sich un­ter an­de­rem des neu­en The­mas Um­welt­schutz an­nahm. Durch et­li­che Ge­set­zes­vor­la­gen so­wie durch or­ga­ni­sa­to­ri­sche Um­struk­tu­rie­run­gen wie die Ein­rich­tung ei­nes Um­welt­bun­des­am­tes er­warb Gen­scher sich den Ruhm, fak­tisch der ers­te deut­sche Um­welt­mi­nis­ter ge­we­sen zu sein. 

Als über­aus pro­ble­ma­tisch er­wies sich die un­er­war­te­te Her­aus­for­de­rung durch den Ter­ro­ris­mus, den ei­ner­seits die links­ra­di­ka­le Baa­der-Mein­hof-Grup­pe und ih­re Fol­ge­or­ga­ni­sa­tio­nen aus­üb­ten und den an­de­rer­seits ex­tre­mis­ti­sche Pa­läs­ti­nen­ser in Aus­wei­tung des Nah­ost-Kon­flikts nach Deutsch­land zu tra­gen ver­such­ten. 1972 konn­te zwar die Baa­der-Mein­hof-Grup­pe grö­ß­ten­teils zer­schla­gen wer­den, kurz dar­auf un­ter­nah­men aber pa­läs­ti­nen­si­sche Ter­ro­ris­ten ei­nen An­schlag auf die is­rae­li­sche Mann­schaft bei den Olym­pi­schen Spie­len in Mün­chen, dem et­li­che Sport­ler zum Op­fer fie­len, ob­wohl der In­nen­mi­nis­ter Gen­scher zu­vor di­rekt mit den Gei­sel­neh­mern ver­han­delt und sich selbst als Gei­sel zur Ver­fü­gung ge­stellt hat­te. Das Pro­blem such­te er da­nach vor al­lem durch ei­ne Neu­struk­tu­rie­rung des Bun­des­kri­mi­nal­am­tes und die Auf­stel­lung ei­ner spe­zi­el­len Ein­greif­trup­pe des Grenz­schut­zes, der so­ge­nann­ten GSG 9, in den Griff zu be­kom­men, was sich im wei­te­ren Ver­lauf der 1970er Jah­re als er­folg­reich er­wies. 

 

Zu­vor war Gen­scher als für die in­ne­re Si­cher­heit zu­stän­di­ger Mi­nis­ter noch in die Ent­tar­nung ei­nes Spi­ons der DDR im Kanz­ler­amt in­vol­viert, die im Früh­jahr 1974 zum Rück­tritt von Kanz­ler Brandt führ­te. Es ge­lang ihm aber, aus die­ser schwie­ri­gen Si­tua­ti­on am En­de so­gar ge­stärkt her­vor­zu­ge­hen, da fast zeit­gleich der Au­ßen­mi­nis­ter und Vi­ze­kanz­ler Scheel zum Bun­des­prä­si­den­ten ge­wählt wur­de. Von ihm über­nahm nun Gen­scher nicht nur den FDP-Vor­sitz, son­dern in der Neu­auf­la­ge der so­zi­al-li­be­ra­len Ko­ali­ti­on un­ter dem Kanz­ler Hel­mut Schmidt (1918-2015) des­sen Po­si­tio­nen im Ka­bi­nett, ob­wohl ihm Af­fi­ni­tä­ten zur Au­ßen­po­li­tik bis da­hin nicht nach­ge­sagt wur­den.

Aber auch in die Ma­te­rie des Aus­wär­ti­gen Am­tes, das er dann 18 Jah­re und da­mit so lang wie kein deut­scher Po­li­ti­ker seit Ot­to von Bis­marck (1815-1898) lei­ten soll­te und es auch nie­mand seit­her ge­tan hat, ar­bei­te­te er sich schnell ein. Er setz­te da­bei er­kenn­bar zwei Ak­zen­te, die zwar schwer mit­ein­an­der ver­ein­bar schie­nen, aber die deut­sche Au­ßen­po­li­tik über Jahr­zehn­te prä­gen soll­ten: Es war zum ei­nen die Fort­set­zung der 1969 be­gon­ne­nen Ent­span­nungs­po­li­tik mit Ost­eu­ro­pa und zum an­de­ren die Ver­tie­fung der In­te­gra­ti­on West-Eu­ro­pas. 

Bei Gen­schers Amts­an­tritt war zwar das Ver­trags­werk mit den ost­eu­ro­päi­schen Nach­bar­staa­ten weit­ge­hend ab­ge­schlos­sen, aber Gen­scher er­kann­te schnell die Be­deu­tung des so­ge­nann­ten KSZE-Pro­zes­ses, mit dem neue kol­lek­ti­ve Si­cher­heits­struk­tu­ren zur Ein­däm­mung des Ost-West-Kon­flikts auf­ge­baut und die Spal­tung Eu­ro­pas über­wun­den wer­den soll­ten. Die „Kon­fe­renz über Si­cher­heit und Zu­sam­men­ar­beit in Eu­ro­pa“, de­ren ers­te Etap­pe 1975 mit der Schluss­ak­te von Hel­sin­ki ab­ge­schlos­sen, die dann aber in An­schluss­kon­fe­ren­zen fort­ge­führt wur­de, mach­te der deut­sche Au­ßen­mi­nis­ter zu sei­nem wich­tigs­ten In­stru­ment, um die Ent­span­nung un­ge­ach­tet al­ler Hin­der­nis­se fort­zu­füh­ren. An de­ren En­de, so sei­ne Vi­si­on, konn­te auch ei­ne Wie­der­ver­ei­ni­gung der Deut­schen un­ter fried­li­chen und frei­heit­li­chen Vor­zei­chen ste­hen. Vor al­lem die jähr­li­che Voll­ver­samm­lung der Ver­ein­ten Na­tio­nen nutz­te Gen­scher, um die­sen An­spruch der Deut­schen zu be­to­nen.

Gleich­zei­tig such­te er be­harr­lich auch das Zu­sam­men­wach­sen der west­eu­ro­päi­schen Staa­ten zu för­dern und zog da­bei sei­ne lan­ge Zeit eher eu­ro­pa-skep­ti­sche Par­tei mit. Sein Cre­do lau­te­te seit je, wie er En­de 1989 be­kann­te: „Eu­ro­pa ist un­se­re Chan­ce. Ei­ne an­de­re ha­ben wir Deut­sche nicht.“ So star­te­te er un­ter an­de­rem 1981 ge­mein­sam mit dem ita­lie­ni­schen Au­ßen­mi­nis­ter Emi­lio Co­lom­bo (1920-2013) ei­ne In­itia­ti­ve zur Re­form des Ver­trags­wer­kes, auf dem die da­ma­li­ge Eu­ro­päi­sche Ge­mein­schaft be­ruh­te. Sie war ein wich­ti­ger Schritt in Rich­tung der heu­ti­gen Eu­ro­päi­schen Uni­on. 

Außenminister Hans-Dietrich Genscher im Gespräch mit Bundeskanzler Helmut Schmidt, undatiert, Foto: Bernhard Eifrig. (www.grevenarchivdigital.de | Kölnische Rundschau | Bernhard Eifrig)

 

Ein wei­te­res Merk­mal des Au­ßen­mi­nis­ters Gen­scher war sein Be­mü­hen, sein au­ßen­po­li­ti­sches Ka­pi­tal, das er bald auf sich ver­ein­te, in Wahl­er­fol­ge für die FDP um­zu­mün­zen. Das ge­lang ihm in un­ter­schied­li­chem Ma­ße: Als Spit­zen­kan­di­dat fuhr er für sei­ne Par­tei 1980 erst­mals seit 1961 wie­der ein zwei­stel­li­ges Bun­des­tags­wahl-Er­geb­nis ein, als sich zwi­schen SPD-Kanz­ler Schmidt und dem CSU-Her­aus­for­de­rer Franz-Jo­sef Strauß (1915-1988) ein er­bit­ter­ter Wahl­kampf ent­fach­te, bei dem sich Gen­scher und die Frei­en De­mo­kra­ten als „ver­nünf­ti­ge Kraft der Mit­te“ pro­fi­lie­ren konn­ten.

Bei der nächs­ten, vor­ge­zo­ge­nen Wahl 1983 ver­lor die FDP gut ein Drit­tel ih­rer Wäh­ler. Im Jahr zu­vor hat­te sie ei­nen Ko­ali­ti­ons­wech­sel voll­zo­gen, wo­bei zu­nächst nicht Gen­scher, son­dern der li­be­ra­le Wirt­schafts­mi­nis­ter Ot­to Graf Lambs­dorff (1926-2009) die trei­ben­de Kraft war. Da aber ge­gen­über dem bis­he­ri­gen Ko­ali­ti­ons­part­ner SPD nicht nur auf dem Feld der Wirt­schafts­po­li­tik, son­dern auch in der Au­ßen- und Wehr­po­li­tik zu­neh­mend Dif­fe­ren­zen auf­tra­ten, mach­te Gen­scher den Weg frei für ei­ne ko­ali­ti­ons­po­li­ti­sche Neu­ori­en­tie­rung. An­fang Ok­to­ber 1982 wur­de der CDU-Po­li­ti­ker Hel­mut Kohl (1930-2017) mit Stim­men aus der FDP durch ein Kon­struk­ti­ves Miss­trau­ens­vo­tum zum Kanz­ler ge­wählt.

Hans-Dietrich Genscher auf einer Wahlkampfveranstaltung der FDP zur Landtags- und Kommunalwahl 1975, hinter Genscher Gerhart Baum und OB-Kandidat Friedrich Jacobs. (www.grevenarchivdigital.de | Kölnische Rundschau)

 

Die Fol­ge wa­ren ei­ne schwe­re Kri­se der Par­tei, die vie­le Funk­tio­nä­re und Mit­glie­der ver­lor, und ein An­se­hens­ver­lust des recht po­pu­lä­ren Gen­scher, was sich im Wahl­er­geb­nis von 1983 nie­der­schlug. Mit der ihm oft kon­sta­tier­ten Zä­hig­keit ver­such­te er, der im Ka­bi­nett Kohl sei­ne Pos­ten be­hielt, den Wie­der­auf­stieg und gab da­für 1985 auch den Par­tei­vor­sitz auf, blieb aber wei­ter­hin in der FDP sehr ein­fluss­reich. Ent­ge­gen ka­men Gen­scher zu­nächst die au­ßen­po­li­ti­sche Un­er­fah­ren­heit des neu­en Kanz­lers und dann Ver­än­de­run­gen im Ost­block, auf die der deut­sche Au­ßen­mi­nis­ter seit lan­gem ge­hofft hat­te. Mit dem Amts­an­tritt des neu­en KPdSU-Ge­ne­ral­se­kre­tärs Mi­cha­el Gor­bat­schow (1931-2022) soll­te sich die welt­po­li­ti­sche Kon­stel­la­ti­on grund­le­gend än­dern, da die­ser in der Fort­füh­rung der Ost-West-Kon­fron­ta­ti­on samt dro­hen­dem Atom­krieg kei­nen Sinn mehr für die So­wjet­uni­on er­kann­te und die Wirt­schafts­pro­ble­me dort durch Li­be­ra­li­sie­run­gen in den Griff zu be­kom­men such­te.

Gen­scher war ei­ner der ers­ten im Wes­ten, der die neue Si­tua­ti­on er­kann­te und An­fang 1987 in Auf­se­hen er­re­gen­der Wei­se for­der­te: „Neh­men wir Gor­bat­schow ernst, neh­men wir ihn beim Wort!“ Die­se Po­si­ti­on stieß zu­nächst kei­nes­wegs auf all­ge­mei­ne Zu­stim­mung. Das nun auf­kom­men­de Schlag­wort vom „Gen­sche­ris­mus“ war zu­erst als Ab­qua­li­fi­zie­rung ei­ner ver­meint­lich nach­gie­bi­gen Hal­tung ge­gen­über dem Ost­block ge­meint. In dem Ma­ße aber, wie die Re­form­po­li­tik Gor­bat­schows auch im Wes­ten An­klang fand, wan­del­te sich „Gen­sche­ris­mus“ zum Syn­onym für ei­ne klu­ge, vor­aus­schau­en­de Au­ßen­po­li­tik.

Hans-Dietrich Genscher mit Otto Graf Lambsdorff auf dem FDP-Parteitag in Mainz, 28.10.1975, Foto: Ludwig Wegmann. (Bundesarchiv, B 145 Bild-F046794-0021 | Wegmann, Ludwig | CC-BY-SA 3.0)

 

Be­gin­nend mit sei­nem be­rühm­ten Auf­tritt vor den DDR-Flücht­lin­gen in der west­deut­schen Bot­schaft in Prag En­de Sep­tem­ber 1989 zeig­te die Pha­se der über­ra­schend mög­lich ge­wor­de­nen deut­schen Wie­der­ver­ei­ni­gung Hans-Diet­rich Gen­scher auf dem Hö­he­punkt sei­nes Ein­flus­ses und sei­nes An­se­hens im In- und Aus­land. Die­ses mo­ra­li­sche Ka­pi­tal, das un­ter an­de­rem in ei­ner po­pu­lä­ren Co­mic­fi­gur na­mens „Gen­sch­man“ zum Aus­druck kam, such­te er ein­zu­set­zen, um die ver­schie­de­nen, teils stark di­ver­gie­ren­den Kräf­te aus­zu­ta­rie­ren, die auf den sich an­bah­nen­den Ver­ei­ni­gungs­pro­zess Ein­fluss neh­men woll­ten und konn­ten wie die Sie­ger­mäch­te des Zwei­ten Welt­kriegs, die mitt­le­ren und klei­ne­ren Staa­ten rings­um, von de­nen vie­le ei­ne neu­er­li­che He­ge­mo­nie Deutsch­lands be­fürch­te­ten, und nicht zu­letzt die un­ter­schied­li­chen Po­si­tio­nen zur Wie­der­ver­ei­ni­gung im In­land. Da­bei ver­lor er das Ziel ei­ner mög­lichst schnel­len Ei­ni­gung nicht aus den Au­gen, die dann vor al­lem durch Ab­spra­chen und Ver­trä­ge auf der Grund­la­ge der von ihm selbst er­fun­de­nen For­mel „Zwei-plus-Vier“, al­so der bei­den deut­schen Staa­ten und der vier Sie­ger­mäch­te, nicht oh­ne Rück­schlä­ge, aber im­mer­hin bin­nen we­ni­ger Mo­na­te ge­lang. Gen­scher ge­rier­te sich da­bei er­folg­reich als Ver­tre­ter ei­nes „Deutsch­land, dem die Welt ver­trau­t“, wie es bald dar­auf in ei­nem auf ihn ge­münz­ten Wahl­slo­gan der FDP hieß.

Im Herbst 1990 konn­te Gen­scher mit dem Bei­tritt der DDR zur Bun­des­re­pu­blik am 3. Ok­to­ber und der Char­ta von Pa­ris am 21. No­vem­ber, mit der das En­de des Ost-West-Kon­flikts und der Spal­tung Eu­ro­pas be­sie­gelt wer­den soll­te, je­ne gro­ßen Zie­le als er­reicht an­se­hen, die er in sei­ner Stutt­gar­ter Re­de ein Vier­tel­jahr­hun­dert zu­vor be­schwo­ren hat­te. Dass er an die­ser Ent­wick­lung selbst gro­ßen An­teil hat­te, wirk­te sich auch für sei­ne Par­tei aus: Bei der Bun­des­tags­wahl En­de 1990 wur­de die FDP wie­der zwei­stel­lig und er­hielt da­bei vor al­lem im Os­ten der neu­en Bun­des­re­pu­blik gro­ße Zu­stim­mung. Gen­scher, der nun sei­ne Hal­len­ser Her­kunft stark her­aus­stell­te, hät­te wohl das Di­rekt­man­dat in sei­ner Hei­mat­stadt ge­won­nen, wie es dann ein we­ni­ger be­kann­ter Par­tei­freund ge­wis­ser­ma­ßen „stell­ver­tre­ten­d“ tat, doch er blieb sei­nem rhei­ni­schen Wahl­kreis treu.

Im wei­ter­hin am­tie­ren­den Ka­bi­nett Kohl über­nahm nun Gen­scher die Lei­tung der ge­samt­deut­schen Au­ßen­po­li­tik, die sich fort­an et­wa durch den Kon­flikt um den Irak und den Zer­fall Ju­go­sla­wi­ens mit völ­lig neu­en Her­aus­for­de­run­gen kon­fron­tiert sah, in de­nen die be­währ­ten Hand­lungs­mus­ter nicht mehr oh­ne wei­te­res funk­tio­nier­ten. Aber es gibt bis­lang kaum An­zei­chen da­für, dar­in den Grund zu se­hen, dass Gen­scher im Mai 1992 ei­nen all­ge­mein über­ra­schen­den Schritt tat: Auf den Tag 18 Jah­re nach Amts­an­tritt leg­te er sein Amt als Au­ßen­mi­nis­ter und Vi­ze­kanz­ler nie­der und gab da­mit ei­nes der we­ni­gen Bei­spie­le für ei­nen selbst­be­stimm­ten Ab­schied von der gro­ßen Po­li­tik. Al­ler­dings war die Nach­fol­ge­fra­ge nicht klar ge­re­gelt und führ­te zu star­ken in­ner­par­tei­li­chen Aus­ein­an­der­set­zun­gen, aus de­nen schlie­ß­lich Klaus Kin­kel (1936-2019), lang­jäh­ri­ger Ver­trau­ter Gen­schers und bis­her Jus­tiz­mi­nis­ter, als neu­er Au­ßen­mi­nis­ter her­vor­ging.

Hans-Dietrich Genscher übergibt dem US-amerikanischen Präsidenten George H. W. Bush ein Stück der Berliner Mauer, 21.11.1989, Foto: Susan Biddle. (National Archives | ID 186404)

 

Bis 1998 üb­te Gen­scher noch sein Bun­des­tag­man­dat aus, den dann an­ste­hen­den Um­zug nach Ber­lin mach­te er nicht mit, ob­wohl er sich zu­vor da­für stark ge­macht und im Ju­ni 1991 auch ent­spre­chend ab­ge­stimmt hat­te. Sei­ne Be­grün­dung war vor al­lem, dass er un­glaub­wür­dig wür­de, wenn er, nach­dem er seit lan­gem für Ber­lin im In- und Aus­land ge­wor­ben und vie­le Amts­kol­le­gen ex­tra nach Ber­lin zur Er­kun­dung der Si­tua­ti­on ge­bracht hät­te, nun ge­gen ei­ne Ver­la­ge­rung der Haupt­stadt­funk­tio­nen ein­tre­ten wür­de. Zu­gleich be­ton­te er auch zu die­sem An­lass, in Bonn „ger­ne zu le­ben und hier ein neu­es Zu­hau­se ge­fun­den“ zu ha­ben. 

Gen­schers Be­zie­hung zum Rhein­land war viel­schich­tig: Seit 1956 wohn­te er in Bonn be­zie­hungs­wei­se in der un­mit­tel­ba­ren Um­ge­bung, sei­ne po­li­ti­sche Hei­mat war die rhei­ni­sche FDP. Dem rhei­ni­schen Kar­ne­val wa­ren er und sei­ne zwei­te, aus Nie­der­schle­si­en stam­men­de Ehe­frau Bar­ba­ra, ge­bo­re­ne Schmidt, (ge­bo­ren 1936), die er 1969 in Bonn ge­hei­ra­tet hat­te, über­aus zu­ge­tan; im be­rühm­ten Go­des­ber­ger Wein­lo­kal von Ria Ma­ter­nus (1914-2001) ge­hör­ten sie zu den Stamm­gäs­ten. In ers­ter Ehe war Gen­scher von 1958 bis 1965 mit Lui­se, ge­bo­re­ne Schweit­zer (ge­bo­ren 1937) ver­hei­ra­tet ge­we­sen, aus die­ser Ehe ging 1961 die Toch­ter Mar­ti­na her­vor.

Hans-Dietrich und Barbara Genscher auf dem Bonner Presseball 1981. (www.grevenarchivdigital.de | Kölnische Rundschau)

 

Doch öf­fent­lich stell­te Gen­scher sei­ne Bin­dung an das Rhein­land nicht so her­aus wie sei­ne Hal­len­ser Her­kunft und leg­te auch Wert dar­auf, als „ge­samt­deut­sche“ Per­sön­lich­keit wahr­ge­nom­men zu wer­den: So er­leb­te er die Ver­ei­ni­gungs­fei­er­lich­kei­ten 1990 gleich an vier Or­ten, in Hal­le, Ber­lin, Wup­per­tal und Bonn. Ins­ge­samt ta­ten sich die „Rhein­län­der“ ih­rer­seits vor al­lem nach sei­ner Po­si­tio­nie­rung in der Haupt­stadt-Fra­ge wohl et­was schwer, Gen­scher als ei­nen der „Ih­ren“ an­zu­se­hen. Trotz­dem er­hielt er un­ter sei­nen über­aus zahl­rei­chen in- wie aus­län­di­schen Aus­zeich­nun­gen und Eh­run­gen auch sol­che aus dem Rhein­land, un­ter an­de­rem den „Or­den wi­der den tie­ri­schen Ern­s­t“ (1978), den „Mer­ca­tor-Preis der Univ. Duis­burg-Es­sen“ (1997) und den „Eh­ren­ring der Stadt Wup­per­tal“ (1998). Au­ßer­dem war Gen­scher „Eh­ren­oberst der Bon­ner Stadt­sol­da­ten“, Bad Hon­ne­fer „Aal-Kö­ni­g“ und Eh­ren­bür­ger von Wacht­berg. Pos­tum wur­den Ört­lich­kei­ten in Wup­per­tal und Bonn so­wie Wacht­berg nach ihm be­nannt.

Sein viel­leicht deut­lichs­tes Be­kennt­nis zum Rhein­land er­folg­te, als Gen­scher En­de März 2016 - hoch­an­ge­se­hen und noch im­mer häu­fig um Rat ge­frag­ter El­der Sta­tes­man, der sich ge­ra­de auch um das Auf­recht­er­hal­ten von gu­ten Be­zie­hun­gen zu Russ­land, aber auch die Frei­heits­rech­te dort sorg­te - ver­starb: Sei­ne letz­te Ru­he­stät­te fand er wie ge­wünscht auf dem Rhein­hö­hen­fried­hof na­he Wacht­berg, wo schon sei­ne Mut­ter be­er­digt wor­den war und auch an sei­nen ur­sprüng­lich in Hal­le be­gra­be­nen Va­ter er­in­nert wird. Als Po­li­ti­ker. der sich um die Bun­des­re­pu­blik Deutsch­land und auch das Rhein­land ver­dient ge­macht hat­te, wur­de Gen­scher am 17.4.2016 mit ei­nem Staats­akt im ehe­ma­li­gen Bun­des­tags­ple­nar­saal in Bonn (heu­te WCCB) ge­ehrt.

Hans-Dietrich Genscher beim rheinischen Karneval, undatiert. (www.grevenarchivdigital.de | Kölnische Rundschau)

 

Schriften (Auswahl)

Bun­des­tags­re­den, Bonn 1972.

Un­ter­wegs zur Ein­heit. Re­den und Do­ku­men­te aus be­weg­ter Zeit, Ber­lin 1991.

Er­in­ne­run­gen, Ber­lin 1995.

[zu­sam­men mit Chris­ti­an Lind­ner], Brü­cken­schlä­ge. Zwei Ge­ne­ra­tio­nen, ei­ne Lei­den­schaft, Ham­burg 2013.

Mei­ne Sicht der Din­ge. Im Ge­spräch mit Hans-Die­ter Heu­mann, Ber­lin 2015. 

Literatur (Auswahl)

Heu­mann, Hans-Die­ter, Hans-Diet­rich Gen­scher. Die Bio­gra­phie, Pa­der­born [u.a.] 2012.

Kin­kel, Klaus (Hg.), In der Ver­ant­wor­tung. Hans-Diet­rich Gen­scher zum Sieb­zigs­ten, Ber­lin 1997.

Lo­renz, Jür­gen, Ge­fragt: Hans-Diet­rich Gen­scher, Born­heim 1983.

Lu­cas, Hans-Die­ter (Hg.), Gen­scher, Deutsch­land und Eu­ro­pa, Ba­den-Ba­den 2002.

Rit­ter, Ger­hard A., Hans-Diet­rich Gen­scher, das Aus­wär­ti­ge Amt und die deut­sche Ver­ei­ni­gung, Mün­chen 2013.

Brauck­hoff, Kers­tin/Schwaet­zer, Irm­gard (Hg.), Hans-Diet­rich Gen­schers Au­ßen­po­li­tik, Wies­ba­den 2015.

Schae­fer, Bet­ti­na (Hg.), Mensch Gen­scher. Per­sön­li­ches, Ham­burg 2018. 

Online

On­line (Zu­grif­fe je­weils 21.11.2021)

Hans-Diet­rich Gen­scher auf der Home­page des Bun­des­ta­ges [On­line]   

Bei­trä­ge mit und über Hans-Diet­rich Gen­scher bei Youtube [On­line]

Wür­di­gung von Hans-Diet­rich Gen­scher bei der „Bun­des­zen­tra­le für po­li­ti­sche Bil­dun­g“ [On­line]

Bio­gra­phi­sche Skiz­ze von Hans-Diet­rich Gen­scher als Down­load bei der „Fried­rich-Nau­mann-Stif­tung für die Frei­heit“ [On­line]

Hans-Dietrich Genscher auf der Rudermaschine, undatiert. (www.grevenarchivdigital.de | Kölnische Rundschau)

 
Zitationshinweis

Bitte geben Sie beim Zitieren dieses Beitrags die exakte URL und das Datum Ihres Besuchs dieser Online-Adresse an.

Frölich, Jürgen, Hans-Dietrich Genscher, in: Internetportal Rheinische Geschichte, abgerufen unter: https://www.rheinische-geschichte.lvr.de/Persoenlichkeiten/hans-dietrich-genscher/DE-2086/lido/64f58d649a2985.54963731 (abgerufen am 15.10.2024)