Zu den Kapiteln
Hans-Jürgen Wischnewski war fast 25 Jahre alt, als er ins Rheinland kam. In Köln fand er die Basis für sein politisches Wirken als Juso-Vorsitzender, Bundestagsabgeordneter, Afrika-Politiker und Krisen-Manager. Nach seinem Tod in seiner Wahlheimat fand sich kein Nachruf, der nicht auf die maßgeblich ihm zugeschriebene Rettung der in einer Lufthansa-Maschine entführten 90 Geiseln in Mogadischu hinwies.
Für Hans-Jürgen Wischnewski war Köln die „Stadt aller Städte“. Das ist nicht selbstverständlich für einen Mann, der während seiner ersten zweieinhalb Lebensjahrzehnte von einem preußisch-protestantischen Beamtenhaushalt geprägt wurde.
Am 24.7.1922 wurde Hans-Jürgen Wischnewski im ostpreußischen Allenstein als Sohn eines Zollinspektors geboren; die Familie zog 1927 nach Berlin. Gegen den Willen seiner Eltern wurde er Jungzugführer im Deutschen Jungvolk; sein Vater konnte jedoch ein Jahr vor Wischnewskis Abitur am Theodor-Körner-Real-Gymnasium seine Beurlaubung von diesem Parteiamt erreichen. Als Arbeitsdienstmann kam Wischnewski im Rücken der nach Osten vorstoßenden Wehrmacht zurück nach Ostpreußen. Zwischen Tilsit und Leningrad war er im Straßenbau eingesetzt, erlitt im Winter 1941/1942 Erfrierungen an den Füßen, wurde zur Wehrmacht eingezogen und gelangte zu Panzergrenadieren im Kaukasus. Hier kamen Wischnewski, wie er in seinen 1989 erschienenen Erinnerungen „Mit Leidenschaft und Augenmaß“ schreibt, zum ersten Mal Zweifel und Kritik an NS-Regime und Krieg: Warum mußte ich am Fuße des Elbrus mein Vaterland verteidigen? Warum wurde die Zivilbevölkerung so unmenschlich behandelt und warum gab es so viele Partisanen?
Am Kriegsende war der 23-jährige Wischnewski entschlossen, für ein freies Deutschland einzutreten. Schnell erkannte er, dass dies von der Wohnung seiner Eltern im sowjetischen Sektor Berlins aus nicht möglich war. Als Arbeiter im Landmaschinenbau fand er eine Stellung im niederbayrischen Straubing und trat dort 1946 der SPD bei. Auf ein in Aussicht genommenes Germanistikstudium in München verzichtete er zugunsten seines Engagements in der IG Metall.
Die Gewerkschaft erkannte schon bald, dass er für mehr als innerbetriebliche Arbeit vor Ort zu gebrauchen war und schickte ihn zu einer arbeitsrechtlichen Ausbildung nach Köln. Diese sollte ein Jahr dauern, doch Wischnewski kehrte nicht mehr zurück. Er hatte Köln und die Kölner inzwischen schätzen gelernt und stürzte sich nach dem Anschluss seiner gewerkschaftlichen Ausbildung in die Parteiarbeit. Zehn Jahre später, am 17.3.1957, wurde er zum Vorsitzenden der Kölner SPD gewählt, der er bis zum 27.10.1968 vorstand. Niemand war nach 1945 länger Kölner SPD-Vorsitzender als Wischnewski, in dessen Amtszeit der Aufstieg der Sozialdemokraten unter dem von 1956 bis 1973 amtierenden Oberbürgermeister Theo Burauen fiel.
Obwohl sich Wischnewski selbst als örtlicher Parteivorsitzender und nie als Kommunalpolitiker verstand, war er in der Stadt präsent. Die Mentalität ihrer Einwohner kam ihm entgegen. Den „kölschen Klüngel“ hielt er für eine gute Sache: Er sei nur schlecht, wenn man nicht dabei sei. Wischnewski aber war schnell dabei und lobte deshalb die Integrationskraft der Stadt, in der es nie Vertreter einer Flüchtlingspartei im Rat gegeben hat. Die Erklärung hierfür fiel ihm leicht: Alle wollten innerhalb kurzer Zeit Kölner sein. Zwar beherrschte Wischnewski nach eigenem Bekunden nur nach einigen Kölsch die gleichnamige Sprache, doch stand er mit der örtlichen Prominenz in regem privaten wie politischen Austausch. Bei den Premieren im Millowitsch-Theater war er anwesend und gehörte zu denen, die ihre ersten Eindrücke dem Chef des Hauses, Willy Millowitsch (1909–1999), und Journalisten schilderten. Heinrich Böll hatte Wischnewski schon Anfang der 1950er Jahre so schätzen gelernt, dass er ihn für ein seinerzeit mit 200 DM ungewöhnlich hoch dotiertes Honorar zu einer Lesung vor Metallarbeitern in ein Lehrlingsheim lud.
Mit Joseph Kardinal Höffner traf er immer wieder zusammen. Freilich standen auch hier weniger kommunale Themen im Mittelpunkt, sondern zur Freude des außenpolitisch interessierten Protestanten Wischnewski ging es viel öfter um die Lage der katholischen Kirche in Zentralamerika. Für einen Gewerkschafter noch auffälliger war die Freundschaft zu Otto Wolff von Amerongen (1918–2007), dem langjährigen Präsidenten des Industrie- und Handelstages. Wischnewski konnte man nicht selten in seiner Stammkneipe „Keule“ am Heumarkt finden, bisweilen auch hier in Begleitung Otto Wolff von Amerongens, mit dem er nach Aussage des Wirts der berühmten Altstadtkneipe, Christian Hoffmann, „Entwicklungshilfe für Schottland leistete“, also Whisky trank.
Auch mit dem Karneval arrangierte sich Wischnewski. Zwei Sitzungen und der Rosenmontagszug waren sein Standardprogramm. Dann sah man ihn mit Trude Herr (1927–1991), der populären Schauspielerin und Krätzchensängerin, oder sogar einmal auf einem Zugwagen, verkleidet als tapferes Schneiderlein. Dieser einmalige Ausflug aber wurde nie wiederholt. Wischnewski klagte noch zwei Jahrzehnte später „Sehr anstrengend und teuer. […] Wenn ich nicht genügend […] warf, tönte es von der Straße: ‚Ben Wisch. Du Knieskopp!"
Zeitweilig gesuchte Distanz zu Köln bekam Wischnewski nicht. Nur wenige Jahre wohnte er im 20 Kilometer entfernten Erftstadt-Liblar. Berühmt wurde die Anekdote, als der Pilot eines Hubschraubers mit dem jordanischen König Hussein (1935-1999, König 1952-1999), der Wischnewski einen privaten Besuch abstatten wollte, wegen Nebels den vorgesehenen Landeplatz in Liblar nicht fand und in einer Müllkippe landete. Dass derart hohe Staatsgäste den privaten Kontakt zu Wischnewski suchten, zeugt von seinem Ansehen, das der einstige Gewerkschafter sich früh auf außenpolitischem Terrain erarbeitet hatte. Einflussreich wurde er 1959, als er die Position des Gewerkschaftssekretärs der IG Metall in Köln aufgab und als erster Bundesvorsitzender der Jungsozialisten von den Jusos gewählt wurde, für die Dauer von zwei Jahren. Zuvor war er 1957 erstmals über die nordrhein-westfälische Landesliste in den Bundestag gewählt worden, dem er bis 1990 angehörte, meist als direkt gewählter Kölner Abgeordneter.
Als Juso-Vorsitzender stand er für eine dem Parteivorsitzenden Erich Ollenhauer (1901–1963) durchaus unangenehme frankreichkritische Linie. Die Jusos traten für ein unabhängiges Algerien ein und organisierten eine Kampagne gegen die Rekrutierung junger Deutscher in die Fremdenlegion, die in Algerien für Kriegsverbrechen verantwortlich war. In der Phase der Dekolonisation versuchte Wischnewski aktiv, die verschiedenen Freiheitsbewegungen zu unterstützen. Eine im November 1959 von ihm in Bergneustadt veranstaltete Konferenz mit Delegierten aus 21 afrikanischen und asiatischen Ländern fand sogar die finanzielle Unterstützung des nordrhein-westfälischen Ministerpräsidenten Franz Meyers von der CDU.
Vorbereitet durch zahlreiche Auslandsreisen, insbesondere nach Afrika, wurde Wischnewski 1966 Bundesminister für wirtschaftliche Zusammenarbeit. Damit trat er in das Kabinett Kiesinger an, obwohl die Große Koalition zuvor auf seine Ablehnung gestoßen war. Wischnewski hatte die Defizite der deutschen Afrikapolitik zuvor aus eigener Anschauung erfahren. Manche Diplomaten wollten noch „Neger“ erziehen, andere vor allem vor der DDR warnen. Entsprechend erleichtert reagierte Wischnewski auf das Ende des diplomatischen Alleinvertretungsanspruchs der Bundesrepublik, der so genannten Hallsteindoktrin.
Trotz der neuen politischen Freiheiten für die Bonner Afrikapolitik blieb Wischnewskis Ministeramt Episode. Schon im Oktober 1968 schied er aus, weil die Partei angesichts ernüchternder Wahlergebnisse einen starken Bundesgeschäftsführer brauchte. Wischnewski hatte sich gleichsam selbst beworben, als er in einem mehrseitigen Brief an den Parteivorsitzenden Willy Brandt (1913–1992) die Misere der SPD beschrieb und strategische wie taktische Vorschläge zu deren Behebung unterbreitete. Maßgeblich für den Wahlkampf verantwortlich, kann Wischnewski als einer der Väter der ersten sozialliberalen Regierung Brandt/Scheel im Herbst 1969 gelten. Weil die Partei aber nicht seinem Wunsch folgte, den Bundesgeschäftsführer künftig durch den Parteitag wählen zu lassen, um dem Amt eine größere Autorität zu geben, trat Wischnewski zurück.
Wischnewski stand so zur Verfügung, um als Nichtregierungsmitglied vor Ort die Möglichkeiten der von der sozialliberalen Koalition avisierten neuen Ostpolitik zu sondieren. Seine Kontakte in die arabische Welt prädestinierten ihn, für die Wiederaufnahme diplomatischer Beziehungen zu werben und im Krisenfall zu intervenieren. Bald galt Wischnewski als „Ben Wisch“ und „Feuerwehrmann der Nation“, der dank seiner Beziehungen und seines Verhandlungsgeschicks selbst prekäre terroristische Akte zum Guten wenden konnte. Dies geschah im September 1970 in Amman, wo er die Freilassung der Passagiere aus drei von Palästinensern entführten Flugzeugen erreichen konnte. Im November desselben Jahrs gelang es ihm durch Einschaltung seines algerischen Freundes Hafid Keramane (geboren 1931), zu dieser Zeit Botschafter in Rio de Janeiro, das Leben des von Stadtguerilleros entführten deutschen Botschafters in Brasilien, Ehrenfried von Holleben (1909-1988), zu retten. Algerien nahm 40 durch die Entführung freigepresste brasilianische Gefangene auf.
Als 1974 Helmut Schmidt (geboren 1918) Willy Brandt als Bundeskanzler folgte (Amtszeit bis 1982), wollte der neue Regierungschef Wischnewskis Kompetenzen in das Bundeskabinett einbinden. Zum Staatsminister im Auswärtigen Amt berufen, war er zunächst der sozialdemokratische Aufpasser in dem von der FDP geführten Ministerium. Als Helmut Schmidt ihn nach den Wahlen 1976 jedoch bat, als Staatsminister vom Auswärtigen Amt ins Bundeskanzleramt zu wechseln, schied Wischnewski angesichts seines hervorragenden Verhältnisse zu Bundesaußenminister Hans Dietrich Genscher (geboren 1927) und seines mit der Europapolitik klar umrissenen Aufgabenfelds ungern. Bald darauf schien es, als solle Wischnewski als Nachfolger von Klaus Schütz (geboren 1926) für das Amt des Regierenden Bürgermeisters in Berlin kandidieren. Dies war zumindest der Wunsch von Parteichef Willy Brandt. Wischnewski signalisierte auch Bereitschaft, doch entschieden sich die Berliner Genossen mit Dietrich Stobbe (1938-2011) für eine interne Lösung.
Im Kanzleramt war Wischnewski vor allem für die Deutschlandpolitik zuständig. Spätestens jetzt wurde er jedoch der breiten Öffentlichkeit als Krisenmanager bekannt. Nicht zu Unrecht tragen seine Memoiren den Untertitel „In Mogadischu und anderswo“. In der somalischen Hauptstadt konnte er in Verhandlungen mit der dortigen Regierung unter Siad Barre (1910/1919–1995) erreichen, dass die Anti-Terror-Einheit des Bundesgrenzschutzes, GSG 9, eine von palästinensischen Terroristen entführte Lufthansa-Maschine, die „Landshut“, stürmen durfte. In den frühen Morgenstunden des 18.10.1977 glückte die Aktion. Alle 90 noch lebenden Geiseln wurden befreit. Ben Wisch war nun der Held von Mogadischu.
In den folgenden Jahren trug Wischnewski die Außenpolitik wieder verstärkt in die Partei, zumal er im Dezember 1979 zum stellvertretenden Parteivorsitzenden gewählt wurde und als Staatsminister im Bundeskanzleramt zurücktrat. Er behielt zugleich die immer schwieriger werdende Situation der SPD/FDP-Regierung im Auge und setzte sich im „Seeheimer Kreis“ gegen eine nach seiner Meinung nicht finanzierbare Ausweitung des Sozialstaats ein.
1982 gehörte er zu den wenigen Genossen, die auf dem Kölner Parteitag der SPD Helmut Schmidt und seinem Plädoyer für den NATO-Doppelbeschluss folgte. Nach dem Verzicht auf das Amt des stellvertretenden Parteivorsitzenden 1982 nochmals für einige Monate Staatsminister im Bundeskanzleramt, konnte er für die Jahre nach „Mogadischu“ wiederum auf einige diplomatische Sondermissionen zurückblicken. Dazu zählten vor allem seine Sondierungen zur Lösung der krisenhaften Situation in El Salvador im Auftrag der Sozialistischen Internationale, die ihn im April 1981 auch mit Kubas Diktator Fidel Castro (geboren 1926) zusammentreffen ließ. Unmittelbar vor dem Zusammenbruch der sozialliberalen Koalition sprach Wischnewski am 30.9.1982 während der Vollversammlung der Vereinten Nationen in New York. Die Rede wurde zu einer Art Resümee sozialdemokratischer Außenpolitik, die in der Bundesrepublik aber aufgrund der sich überschlagenden innenpolitischen Ereignisse kaum Beachtung fand.
In der Opposition mutierte „Ben Wisch" vorübergehend zu „Ben Scheck“, dem einen strengen Sparkurs fordernden Schatzmeister der SPD. Seine Bemühungen scheiterten, vor allem an Bundesgeschäftsführer Peter Glotz (1939–2005) und dem Fraktionsvorsitzenden Hans-Jochen Vogel (geboren 1926), dem er in seinem von ihm der Deutschen Presse-Agentur zur Verfügung gestelltem Rücktrittsschreiben vom 3.9.1985 die viel zitierten „Oberlehrermanieren“ vorwarf. Wischnewski legte auch seine Sitze in Präsidium und Vorstand der SPD nieder.
Wischnewski wurde in der Öffentlichkeit nun wieder vornehmlich als international tätiger Krisenmanager wahrgenommen, in Amerika, im Nahen Osten und in Europa. 1986 vermittelte er im nicaraguanischen Bürgerkrieg, sorgte für die Freilassung von acht dort entführten Deutschen und trug zu einer demokratischen Entwicklung des Landes bei. In Lateinamerika bekam Wischnewski einen weiteren Rufnamen: „Commandante Hans“. 1987 setzte er sich nicht zuletzt in Gesprächen mit der iranischen Führung für die Freilassung der in Beirut verschleppten Manager Rudolf Cordes und Alfred Schmidt ein. Umstritten waren 1990 seine Bemühungen um die Rückführung von 5.000 Roma aus Jugoslawien, die in nordrhein-westfälischen Übergangsheimen lebten. Nach der Vereinigung Deutschlands 1990 – für den ersten gesamtdeutschen Bundestag kandidierte er nicht – intensivierte er seine Kontakte in den Nahen Osten und trat wiederholt als Vermittler zwischen Israel und der PLO auf. Die PLO unter Jassir Arafat (1929–2004) ehrte Wischnewski mit dem höchsten palästinensischen Orden und – eine besondere Freude für den leidenschaftlichen Philatelisten – mit Sonderbriefmarken der Autonomiebehörde. Auch für Köln setzte sich Wischnewski weiter ein, etwa als er 1996 die Deutz AG durch seine Kontakte nach Saudi-Arabien zu retten versuchte.
1999 verschlechterte sich Wischnewskis Gesundheitszustand. Wenige Wochen nach dem Doppelsuizid seiner an Multipler Sklerose erkrankten ältesten Tochter und ihres Ehemannes erlitt er einen Herzinfarkt. Trotz eines weiteren Infarkts und mehrerer Hüftoperationen besuchte er noch 2004 den libyschen Diktator Muammar al-Gaddafi (geboren 1942) und reiste zur Trauerfeier für Jassir Arafat nach Ramallah. Am 24.2.2005 starb er im Alter von 82 Jahren in einem Kölner Krankenhaus. Beigesetzt wurde er auf dem Melaten-Friedhof. Die Kölner SPD ehrt ihn, indem sie ihre Parteizentrale in der Magnusstraße nach ihm benannte(Hans-Jürgen Wischnewski-Haus).
Nachlass
Archiv der sozialen Demokratie, Bonn.
Werk
Mit Leidenschaft und Augenmaß. In Mogadischu und anderswo. Politische Memoiren, 1989, aktualisierte Ausgabe München 1991.
Online
Biografie Hans-Jürgen Wischnewski (Biografische Informationen der Stfitung Haus der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland). [Online]
Krisenmanager "Ben Wisch" (Artikel zum 5. Todestag Hans-Jürgen Wischnewskis). [Online]
"Ein guter Freund" (Nachruf auf Hans-Jürgen Wischnewski). [Online]
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Forsbach, Ralf, Hans-Jürgen Wischnewski, in: Internetportal Rheinische Geschichte, abgerufen unter: https://www.rheinische-geschichte.lvr.de/Persoenlichkeiten/hans-juergen-wischnewski/DE-2086/lido/57c93267b14065.93805674 (abgerufen am 12.10.2024)