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Hermann Aubin war ein einflussreicher deutscher Historiker der 1920er bis 1960er Jahre. Er hatte nach dem Ersten Weltkrieg maßgeblichen Anteil an der Etablierung einer neuartigen, volksgeschichtlich ausgerichteten historischen Landeskunde, trat seit den ausgehenden 1920er Jahren als einer der führenden Protagonisten der deutschen Ostforschung hervor und engagierte sich als effizienter Wissenschaftsorganisator darüber hinaus ganz allgemein für die Belange der deutschen Geschichtswissenschaften.
Hermann Aubin wurde am 23.12.1885 im nordböhmischen Reichenberg/Liberec als Sohn eines wohlhabenden Teppichfabrikanten hugenottischer Herkunft geboren, wuchs in wohl behüteten großbürgerlich-industriellen Verhältnissen auf, war aber zusammen mit seinem vier Jahre älteren Bruder, dem Nationalökonomen Gustav Aubin (1881-1938) der erste, der aus der Familie eine akademische Laufbahn einschlug.
Das Studium, das ihn - nach Ableistung seines Militärdienstes als Einjährig Freiwilliger in der österreichischen Armee - seit dem Wintersemester 1905 an die Universitäten München, Freiburg und Bonn führte, schloss er im Juni 1910 mit einer Dissertation über ein Thema der mittelalterlichen territorialen Verfassungs- und Verwaltungsgeschichte (am konkreten Beispiel des Fürstbistums Paderborn) bei dem Freiburger Mediävisten Georg von Below (1858-1927) ab. Es folgten ein einsemestriger Aufenthalt am Institut für österreichische Geschichtsforschung in Wien, wo er bei Alfons Dopsch (1868-1953) seine verfassungsgeschichtlichen, bei Oswald Redlich (1858-1944) seine diplomatischen Kenntnisse vertiefte, sowie Bildungsreisen nach Holland, Belgien und Italien.
Im Mai 1911 nahm Aubin eine Tätigkeit als Wissenschaftlicher Hilfsarbeiter der Gesellschaft für Rheinische Geschichtskunde in Düsseldorf auf, für die er unter Leitung des Rechtshistorikers Ulrich Stutz kurkölnische Weistümer edierte. Im September des gleichen Jahres heiratete er Vera Webner (1890-1985), die in Südafrika geborene Tochter eines Auslandsdeutschen, der sich 1902 in Freiburg niedergelassen hatte. Aus der Tätigkeit für die Gesellschaft für Rheinische Geschichtskunde erwuchs bis 1914 die von Aloys Schulte betreute Habilitationsschrift zur Entstehung der Landeshoheit am Niederrhein, die im Sommer 1916 in Bonn angenommen wurde. In ihr gelang es Aubin, die starre Geschlossenheit der seinerzeitigen verfassungsgeschichtlichen Vorstellungen aufzubrechen und die Diskussion über die Entstehung der Landeshoheit in einer Weise voranzubringen, wie sie erst in der intensiven Diskussion der 1940er und 1950er Jahre durch Otto Brunner (1898-1982) und Walter Schlesinger (1908-1984) eine weitere Fortentwicklung erfahren sollte.
Den Ersten Weltkrieg erlebte Aubin als österreichischer Leutnant, Oberleutnant und schließlich als Hauptmann, zunächst an der polnisch-galizischen Ostfront, seit Herbst 1915 an der Südtiroler Alpenfront. Nach Kriegsende kehrte er nach Bonn zurück und entwickelte dort im Rückgriff auf Karl Lamprecht sowie in enger Kooperation mit Aloys Schulte, dem Germanisten Theodor Frings und dem Volkskundler Josef Müller einen innovativen Zugang zur Landesgeschichte, die er im Rahmen des von ihm 1919/1920 mitbegründeten Instituts für geschichtliche Landeskunde der Rheinlande zu einer interdisziplinären Kulturraumforschung weiterentwickelte.
In seinen eigenen Forschungen leistete er bis in die 1940er Jahre originelle Beiträge zur deutschen Verwaltungs- und Verfassungsgeschichte sowie zur Wirtschafts- und Siedlungsgeschichte. Seine Untersuchungsgegenstände behandelte er dabei zumeist in landesgeschichtlicher oder „kulturräumlicher" Begrenzung, aber im Bemühen um einen multi- beziehungsweise interdisziplinären Zugang. Seit den 1930er Jahren verfolgte ein wachsender Teil seiner Publikationen ein explizit geschichtspolitisches Interesse und nahm in diesem Zusammenhang mehr und mehr essayistisch-überblicksartigen Charakter an. Da ihm die Universität kein Ordinariat bieten konnte, folgte er 1925 einem Ruf an die Universität Gießen, ging aber bereits vier Jahre später nach Breslau. Die niederschlesische Hauptstadt lag seiner nordböhmischen Heimat zwar nahe, doch betrachtete Aubin die Grenzland-Universität an der Oder wohl lediglich als eine Zwischenstation seiner akademischen Karriere. Kaum ein Jahr später ging er für die folgenden drei Wintersemester zur Wahrnehmung einer Gastprofessur nach Kairo. Zur gleichen Zeit und fortan regelmäßig bis zum Sommer des Jahres 1944 bemühte er sich auch innerhalb Deutschlands um ein weiteres akademisches Fortkommen: Rufe nach Leipzig, Heidelberg, Freiburg und München waren - teilweise mehrfach - im Gespräch und in unmittelbarer Reichweite, scheiterten aber letztlich stets an äußeren Umständen, auch an Vorbehalten bezüglich seiner „nationalsozialistischen Verlässlichkeit" und nicht zuletzt an dem im Verlauf der 1930er Jahre zutage getretenen Umstand, dass Aubins Ehefrau jüdische Vorfahren hatte. So blieb Aubin in Breslau, lehrte dort allgemeine Geschichte des Mittelalters, insbesondere auch deutsche Volksgeschichte im Osten und verschrieb sich mit dem ihm eigenen Engagement - unter anderem als Stellvertreter Albert Brackmanns (1871-1952) in der Leitung der Nord- und Ostdeutschen Forschungsgemeinschaft sowie als Vorsitzender der Historischen Kommission für Schlesien - der „deutschen Ostforschung". Der NSDAP, ihren Gliederungen oder angeschlossenen Verbänden ist er mit Ausnahme der NS-Volkswohlfahrt nicht beigetreten.
Im Herbst 1944 zu Schanzarbeiten zwangsverpflichtet, im Januar 1945 zum Breslauer Volkssturm eingezogen, entkam er dem Untergang im Osten dank einer leichten Verwundung, mit der er im Februar 1945 nach Berlin ausgeflogen wurde. Von dort gelangte er noch im März 1945 nach Freiburg, wo die Schwiegermutter zuvor schon Ehefrau und Tochter aufgenommen hatte. Weder in der französischen noch in der englischen Besatzungszone erwuchsen dem „heimatvertriebenen" Universitätsprofessor aus seinem Wirken im Dritten Reich Schwierigkeiten; er wurde rasch entnazifiziert und konnte bereits im Wintersemester 1945/1946 den Göttinger Lehrstuhl Percy Ernst Schramms (1894-1970) vertreten, ehe er zum Sommersemester 1946 an die Universität Hamburg berufen wurde.
Hier orientierte er sich - in gleicher Weise, wie er sich zuvor in Bonn, Gießen und Breslau auf die rheinische, hessische und schlesische Landesgeschichte eingelassen hatte - rasch und intensiv auf die friesische und norddeutsche Landesgeschichte. Darüber hinaus beteiligte er sich umgehend am Wiederaufbau der deutschen Geschichtswissenschaften insgesamt, betrieb die Wiederbegründung der von ihm seit 1927 zunächst in Mit-, seit 1932 in Alleinherausgeberschaft betreuten Vierteljahrschrift für Sozial- und Wirtschaftsgeschichte, wirkte maßgeblich an der Gründung des Historikerverbandes mit, dessen zweiter Nachkriegsvorsitzender er von 1953-1958 wurde, engagierte sich für die Wiederaufnahme der Arbeiten der Monumenta Germaniae Historica, deren Zentraldirektion er angehörte, und förderte die Arbeiten der Historischen Kommission der Bayerischen Akademie der Wissenschaften. Vor allem aber betrieb er seit 1946 den Neubeginn der „deutschen Ostforschung", für die er 1950 mit dem Johann Gottfried Herder-Forschungsrat, dessen Präsident er bis 1959 blieb, und dem ihm angeschlossenen Herder-Institut in Marburg die entscheidende institutionelle Grundlage schaffen konnte.
Nach seiner Emeritierung 1954 wirkte er als Honorarprofessor in Freiburg, wo er seit 1945 seinen Hauptwohnsitz hatte und im März 1969 als zweifacher Ehrendoktor der Universitäten Köln und Hamburg, Mitglied der Berliner, Münchner und Göttinger Akademien der Wissenschaften, Ehrenmitglied des Österreichischen Instituts für Geschichtsforschung, Honorary Member der Economic History Association in Harvard und des Ausschusses für Städtegeschichte des Internationalen Historikerverbandes sowie Träger des Großen Bundesverdienstkreuzes und nicht zuletzt als ein angesehener, wirkungsmächtiger akademischer Lehrer von Generationen deutscher Studierender starb.
Hermann Aubin war zu keinem Zeitpunkt dazu bereit, sich in ein stilles Gelehrtenleben zurückzuziehen, vielmehr war er stets, auch im Dritten Reich, darum bemüht, mit seiner starken und dynamischen Persönlichkeit über seine geschichtswissenschaftliche Profession hinauszuwirken und Einfluss zu nehmen. Das Programm, mit dem er dabei sowohl in das nationalsozialistische Deutschland als auch in die sich demokratisierende und liberalisierende bundesrepublikanische Nachkriegsgesellschaft offen und kooperationsbereit eingetreten ist, war das Programm eines deutschnationalen Patrioten, für den das „deutsche Volk" spätestens seit dem Ersten Weltkrieg die zentrale, höchste Kategorie seines Denkens war. Auf die „Volksgemeinschaft" aller Deutschen und ihre Stellung in der Welt hat er alles andere ausgerichtet. In diesem Sinn war er Anhänger der völkischen Bewegung, deren sozial-darwinistische und antisemitisch-rassistische Stoßrichtung er aber nur ansatzweise geteilt und nie konsequent vertreten hat
Die Verteidigung und offensive Durchsetzung der staatlich-geographischen, wirtschaftlichen, demographischen und sozialen Interessen des deutschen Volkes waren dennoch die entscheidenden Anliegen seines geschichtlichen und politischen Denkens. Dabei war ihm relativ gleichgültig, welche politische Partei oder welches politische System herrschte, wenn es sich nur dem vorrangigen Ziel verpflichtet sah, Macht und Ansehen des deutschen Volkes wieder herzustellen, zu bewahren und zu mehren. Aus einer solchen, im tagespolitischen Sinne apolitischen, ja opportunistischen Haltung heraus konnte Aubin die Politik Gustav Stresemanns (1878-1929) ebenso befürworten wie jene Adolf Hitlers (1889-1945) und später jene von Bundeskanzler Konrad Adenauer, sofern und solange sie in seinen Augen nur nachdrücklich genug die Interessen des deutschen Volkes zu vertreten schien.
Hermann Aubin verstarb am 11.3.1969 in Freiburg im Breisgau.
Quellen
Mühle, Eduard (Hg.), Briefe des Ostforschers Hermann Aubin aus den Jahren 1910-1968, Marburg 2008.
Literatur
Ennen, Edith, Hermann Aubin und die geschichtliche Landeskunde der Rheinlande, in: Rheinische Vierteljahrsblätter 34 (1970), S. 9-42.
Hermann Aubin 1885-1969. Werk und Leben. Reden gehalten am 23. März 1970 bei der Trauerfeier des Instituts für Geschichtliche Landeskunde an der Rheinischen Friedrich-Wilhelms-Universität, Bonn 1970.
Mühle, Eduard, Hermann Aubin (1885-1969), in: Schlesische Lebensbilder, Band 11, Insingen 2012, S. 489-503.
Mühle, Eduard, Für Volk und Deutschen Osten. Der Historiker Hermann Aubin und die deutsche Ostforschung, Düsseldorf 2005.
Werner, Matthias, Der Historiker und Ostforscher Hermann Aubin. Anmerkungen zu einigen neueren Publikationen, in: Rheinische Vierteljahrsblätter 74 (2010), S. 235-253.
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Mühle, Eduard, Hermann Aubin, in: Internetportal Rheinische Geschichte, abgerufen unter: https://www.rheinische-geschichte.lvr.de/Persoenlichkeiten/hermann-aubin/DE-2086/lido/57adba98616a97.12472310 (abgerufen am 12.10.2024)