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Der Rheinbacher Tuchhändler Hermann Löher hat in seinem 1676 gedruckten Buch „Wemütige Klage der frommen Unschültigen“ ein einzigartiges Zeugnis der frühneuzeitlichen Hexenverfolgung im Rheinland geliefert. Als Gerichtsschöffe war er zunächst an Hexenverfolgungen in Rheinbach und Umgebung beteiligt, bis er selbst in den Verdacht der Hexerei kam und fliehen musste. In seiner Schilderung gibt er Einblicke in die Verfolgungsmechanismen, aber auch in die Spannungen, die unter den Verfolgern herrschten. Diese Schilderungen sind einzigartig, weil sie nichts zu beschönigen versuchen, sondern den psychologischen Druck und die skrupellose Haltung der Verfolgungsbefürworter offen legen.
Hermann Löher wurde 1595 in Münstereifel (heute Bad Münstereifel) als ältestes Kind des Kaufmanns Gerhard Löher geboren. Seit 1601 wohnte die Familie in Rheinbach. Nach dem Tod des Vaters führte Hermann ab 1625 das Geschäft mit Woll- und Leinentüchern alleine. 1631 wurde er in das siebenköpfige Gremium der Schöffen am Hochherrengericht aufgenommen. Nur wenigen Familien war das Schöffenamt vorbehalten, sie bildeten die Oberschicht von Rheinbach.
Trotz des Dreißigjährigen Krieges hatten die Rheinbacher bis dahin ein friedliches Leben geführt. Auch die Hexenverfolgung, die ab 1626 im Rheinland immer mehr Opfer forderte, hatte die Stadt bisher nie berührt. Dies aber wurde nun anders, denn Anfang Mai 1631 wurde in Rheinbach der erste Hexenprozess gegen eine Dienstmagd eröffnet. Der Rheinbacher Amtmann Heinrich Degenhardt Schall von Bell (um 1593/1594-1664) berief den Bonner Juristen Dr. Franz Buirmann als so genannten „Hexenkommissar“. Das waren ausgebildete Juristen der kurkölnischen Hochgerichte, die von den ländlichen Schöffengerichten als juristische Berater in Hexereisachen herangezogen werden sollten. Das zweite Opfer der Prozesswelle war eine arme alte Frau namens Grete Hardt. Doch das dritte Prozessopfer war die 60-jährige Tuchhändlerin Christina Böffgens, Witwe des ehemaligen Rheinbacher Bürgermeisters Pieter Böffgens. Franz Buirmann ließ sie trotz ihrer standhaften Unschuldsbeteuerungen immer weiter foltern, bis sie auf der Folter starb. Sogleich beschwor der Hexenkommissar die anwesenden Schöffen und redete ihnen ein, der Teufel selbst habe der „verstockten Hexe“ den Hals gebrochen, damit sie ihre Komplizen nicht verraten könne.
Hatte schon der Prozess gegen Christina Böffgens den Unwillen Löhers erregt, so wurde ihm beim vierten Prozess endgültig klar, dass die Verdächtigungen von Kommissar Buirmann und seinen Rheinbacher Auftraggebern gesteuert wurden. Dieses vierte Opfer war Hilger Lirtz, ein ehemaliger Bürgermeister und Schöffe. Er wurde 24 Stunden lang gefoltert, bis er zusammenbrach und alles gestand, was seine Peiniger hören wollten. Der Schöffe Jan Bewel wurde durch diese Geschehnisse psychisch gebrochen, denn Lirtz war sein Schwiegervater, und er hatte vergeblich versucht, dessen Verhaftung und Folterung abzuwenden. Auch weitere Schöffen wurden nun vom Hexenkommissar Buirmann unter Druck gesetzt. Er überredete die Schöffen dazu, ihm einen Blanko-Haftbefehl auszustellen, und kurz darauf verhafteten die Büttel Anna Kemmerling, die Ehefrau des Schöffen Gotthart Peller. Pellers lautstarke Proteste halfen nichts. Auch seine Frau musste sterben.
Die Prozesse gegen Christina Böffgens, Hilger Lirtz und Anna Kemmerling zeigen, dass die Anschuldigungen von einer Gruppe Rheinbacher Bürger getragen wurden, die an der Entmachtung der regierenden Familien Interesse hatte. Löher schildert eindringlich, wie in den Verhören und Folterungen gelenkt und eingegriffen wurde, um die „Geständnisse“ auf die Personen zu lenken, die man beseitigen wollte. Gnadenlos wurden die Widerstände innerhalb des Schöffenkollegiums aus dem Weg geräumt. Als Exempel wurde der älteste Schöffe Herbert Lapp selber hingerichtet. Lapp hatte es gewagt, einer weiteren Forderung Buirmanns nach einer Blankovollmacht zu widersprechen. Das war das Todesurteil für ihn und seine Frau. Damit war es nur noch eine Frage der Zeit, bis sich die Verfolger auch für die anderen „Hexen-Patrone“ unter den Schöffen interessieren würden. Und in der Tat tauchte bald das Gerücht auf, auch Löhers Frau sei eine Hexe. Mit Bestechungen gelang es Löher, sich Rückendeckung beim Amtmann zu erkaufen. Aber es war nur eine Rettung auf Zeit.
Ab 1632 stockte die kurkölnische Verfolgung. Doch an verschiedenen Orten begannen die Hexenjagden 1636 erneut. Nun konnten die Verfolger auch gegen die restlichen Schöffenfamilien zum Schlag ausholen: Schöffe Gotthart Peller war schon verstorben, doch Hermann Löher und Richard Gertzen waren noch im Amt. Hermann Löher war klar geworden, in welcher Gefahr er steckte: Als nun während des Sommers 1636 wieder Gerüchte über ihn auftauchten, floh er am 3. August mit seiner Frau und den jüngeren Kindern nach Amsterdam, wo es keine Auslieferung gab. Auch Richard Gertzen setzte sich bald nach Amsterdam ab. So waren fünf Jahre nach dem Beginn der Hexenbrände in Rheinbach und Umgebung von den sieben Schöffen am Rheinbacher Gericht einer hingerichtet, einer psychisch gebrochen, einer nach der Hinrichtung seiner Ehefrau gestorben und zwei geflohen.
Mit seiner verbliebenen Barschaft gelang es Löher, in seiner neuen Heimat wieder ein Geschäft aufzumachen, doch der frühere wirtschaftliche Erfolg blieb ihm versagt. 1662 starb seine Frau Kunigunde. Löher heiratete einige Jahre später Catharina Henrix Geel, auch sie eine Deutsche.
Die Schrecknisse der Hexenverfolgung wurde Löher nicht mehr los. Mit 80 Jahren entschloss er sich, seine Erlebnisse zu Papier zu bringen und zusammen mit Beispielen aus anderen Gegenden zu einer flammenden Anklage gegen die Hexenprozesse zu formen. Unter diesen Beispielen befindet sich eine Besonderheit, nämlich das „Brillen-Marter-Traktat“ des sauerländischen Pfarrers Michael Stapirius (um 1585/1590-1663). Diese Schrift ist nirgendwo anders überliefert. Es handelt sich um Schilderungen von Hexenprozessen im kurkölnischen Sauerland zwischen 1616 und 1628.
Das Buch hat 33 Kapitel, die jedoch von einigen Vor- und Nachkapiteln umrahmt werden. Man merkt, dass Löher mit dem Schreiben einfach nicht aufhören konnte. Um den Kern der Rheinbacher Erzählungen legen sich Erörterungen der Hexenliteratur seiner Zeit, aber alles ist seltsam verschachtelt. Erst 1677 schloss er es ab. Doch keiner wollte das Buch haben. Als Löher 1678 starb, war von 1.000 Exemplaren keines verkauft worden. Von diesen Exemplaren sind heute weltweit nur noch zwei Originale erhalten, eines in Amsterdam und eines in Bad Münstereifel. Der Grund dafür war wohl die unselige Situation im Hause Löher. Hermanns Witwe Catharina hatte mit ansehen müssen, wie ihr Mann das gemeinsame Vermögen für ein Buch verpulverte, das niemand interessierte. Ihre Verbitterung darüber war wohl der Grund dafür, dass sie die gesamte Auflage als Altpapier einstampfen ließ. Für uns heute hat dieses Buch allerdings einen enormen Wert. Nirgendwo auf der Welt existiert eine so detailreiche Schilderung der Atmosphäre und der Konflikte in einem Hexengericht. Nirgendwo in der deutschen Literatur des Barock gibt es eine so umfangreiche autobiographische Schrift eines Menschen, der nur ein einfacher Kaufmann war. Zudem hat das Buch eine zeitlose Botschaft. Hermann Löher fragt immer wieder danach, wie es möglich ist, dass Menschen ihre Nachbarn und Freunde auf einmal zu hassen beginnen und sogar dem Tod überantworten. Und das ist heute noch genau so aktuell wie im 17. Jahrhundert.
Schriften
Wemütige Klage der frommen Unschültigen, Amsterdam 1676.
Literatur
Becker, Thomas P, Hermann Löher als Augenzeuge der Hexenverfolgung in Rheinbach, in: Annalen des Historischen Vereins für den Niederrhein 206 (2003), S. 129-157.
De Waardt, Hans, Asyl in Amsterdam – Hermann Löhers Leben nach der Flucht, in: Annalen des Historischen Vereins für den Niederrhein 206 (2003), S. 169-184.
Decker, Rainer, Der Brillen-Traktat des Michael Stappert als Bestandteil von Hermann Löhers wehmütiger Klage, in: Annalen des Historischen Vereins für den Niederrhein 206 (2003), S. 159-168.
Decker, Rainer, Hexen. Magie, Mythen und die Wahrheit, Darmstadt 2004.
Gibbons, Lois Oliphant, A Seventeenth Century Humanitarian: Hermann Löher, in: Persecution and Liberty. Essays in honor of George Lincoln Burr, New York 1931, S. 335-359.
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Becker, Thomas P., Hermann Löher, in: Internetportal Rheinische Geschichte, abgerufen unter: https://www.rheinische-geschichte.lvr.de/Persoenlichkeiten/hermann-loeher/DE-2086/lido/57c942771c1252.13292011 (abgerufen am 07.12.2024)