Das rheinische Schützenwesen. Ursprünge, Traditionen und Entwicklungslinien

Martin Bock (Bergheim)

Der heilige Sebastian, Schutzpatron der Schützenbruderschaften, Gemälde von Andrea Mantegna (1431-1506), Original im Kunsthistorischen Museum Wien.

1. Einführung

Ob­wohl die ver­schie­de­nen Aus­for­mun­gen des Schüt­zen­we­sens im Rhein­land we­nigs­tens ge­nau­so zum re­gio­na­len Brauch­tum ge­hö­ren wie der Kar­ne­val – und da­bei noch we­sent­lich äl­te­ren Ur­sprungs sind – ha­ben sich Ge­schichts­wis­sen­schaft und Volks­kun­de kaum mit dem Phä­no­men be­fasst. Ei­ni­ge we­ni­ge Stu­di­en bil­den im­mer noch den ein­schlä­gi­gen Li­te­ra­tur­ka­non[1], ins­ge­samt bleibt es bei mi­kro­ge­schicht­li­chen Ar­bei­ten[2], die aber die Fra­ge nach dem Ver­bin­den­den, den Ur­sprün­gen und den ge­mein­sa­men Ent­wick­lungs­li­ni­en durch­weg nicht zu be­ant­wor­ten su­chen.[3]

Ge­wiss sind die bis in die Ge­gen­wart ge­pfleg­ten Tra­di­tio­nen zu­wei­len höchst un­ter­schied­lich, und von da­her mag die Un­über­sicht­lich­keit der Quel­len­la­ge ei­ne Rol­le für das De­si­de­rat spie­len. Den­noch gibt es durch­aus evi­den­te Ge­mein­sam­kei­ten:

  1. Das Tra­gen und Ver­wen­den der Schuss­waf­fe
  2. Die Durch­füh­rung ge­mein­sa­mer Fei­ern und Fest­ver­an­stal­tun­gen, ins­be­son­de­re des Vo­gel­schus­ses
  3. Die Uni­for­mie­rung. 
 

Die Schuss­waf­fe als Merk­mal der Schie­ßen­den, der Schüt­ze als ihr Trä­ger be­grün­den die Selbst­be­zeich­nung und nicht et­wa ei­ne ge­ra­de in vie­len Ver­eins­chro­ni­ken, Fest­schrif­ten und der­glei­chen un­ter­stell­te Schutz­funk­ti­on zum Bei­spiel ei­ner Kir­che, ei­ner Ge­mein­de oder an­de­rer ding­li­cher Wer­te.[4] Die ver­schie­de­nen An­läs­se für Zei­ten ge­mein­schaft­li­cher Ge­sel­lig­keit sind in na­he­zu al­len Schüt­zen­ord­nun­gen ent­hal­ten und da­mit ein kon­sti­tu­ti­ves Ele­ment des Schüt­zen­we­sens, und der Vo­gel­schuss ist ein über­re­gio­nal be­kann­tes, wenn auch kaum er­forsch­tes Brauch­tums­ele­ment. Ei­ne Uni­for­mie­rung, ge­ra­de im mi­li­tä­ri­schen Sinn, gab es bei den Schüt­zen­bru­der­schaf­ten bis ins 18. Jahr­hun­dert in der Re­gel nicht; zu­wei­len wur­de die Mit­glied­schaft in ei­ner sol­chen Ver­ei­ni­gung durch uni­form ge­tra­ge­ne ein­zel­ne Klei­dungs­stü­cke wie ein Hals­tuch ge­kenn­zeich­net. Erst mit der Über­nah­me und Aus­prä­gung ei­nes sol­da­ti­schen Ha­bi­tus im Lau­fe des 19. Jahr­hun­derts wur­de die Schüt­zen­uni­form flä­chen­de­ckend ein­ge­führt.

Häu­fig kommt die Rück­bin­dung an die christ­li­che Kon­fes­si­on hin­zu, ent­we­der for­mal, wenn die Ver­ei­ne als Schüt­zen­bru­der­schaf­ten kon­sti­tu­iert sind, oder in der Re­gel auch dann fak­tisch, wenn sie als (Bür­ger-)Schüt­zen­ver­ei­ne auf­tre­ten.

Aus­ge­hend von die­sen Be­ob­ach­tun­gen ver­sucht die vor­lie­gen­de klei­ne Stu­die, die his­to­ri­sche Ent­wick­lung des Schüt­zen­we­sens im Rhein­land nach­zu­zeich­nen. Da­bei kön­nen zu­min­dest zwei Quell­li­ni­en iden­ti­fi­ziert wer­den: ei­ne mit­tel­al­ter­li­che, christ­li­che Tra­di­ti­on, die sich bis heu­te in der äu­ße­ren Ge­stalt der Bru­der­schaft ma­ni­fes­tiert, so­wie ei­ne die­se äl­te­re Li­nie ab dem 19. Jahr­hun­dert teils über­la­gern­de, teils um­for­men­de na­tio­nal-mi­li­tä­ri­sche Tra­di­ti­on, die den Schüt­zen­ver­ei­ne ge­ra­de um 1900 den Cha­rak­ter va­ter­län­di­scher Ge­sell­schaf­ten gab. Für die­se bei­den Li­ni­en gibt es in der Re­gel hin­rei­chen­des, wenn auch in Qua­li­tät und Quan­ti­tät sehr he­te­ro­ge­nes Quel­len­ma­te­ri­al.

Vogelschießen in Dresden am 20. September 1699, Stich von Moritz Bodenehr (1655-1749). (Grafik aus dem Klebeband Nr. 15 der Fürstlich Waldeckschen Hofbibliothek Arolsen)

 

Das gilt nicht für ei­ne denk­ba­re drit­te Li­nie, die als heid­nisch be­zeich­net wer­den könn­te und die Hans-Tho­rald Mi­chae­lis in die For­schung ein­ge­führt hat.[5] Da­bei geht er zu Recht von ei­nem we­sent­li­chen, wenn nicht dem her­aus­ra­gen­den Merk­mal des Schüt­zen­we­sens, dem Vo­gel­schuss, aus, für den er Er­klä­rungs­mo­del­le durch Ana­lo­gie­bil­dung zu ver­schie­de­nen vor­christ­li­chen Bräu­chen sucht. Ob­wohl die­se Li­nie da­mit zeit­lich an ers­ter Stel­le ste­hen wür­de, sol­len zu­nächst im Fol­gen­den die christ­li­che und die na­tio­nal-mi­li­tä­ri­sche Ent­wick­lungs­li­nie als ge­si­cher­te Er­kennt­nis­se nä­her vor­ge­stellt wer­den.

2. Das Bruderschaftswesen

2.1 Korporation und Gebetsverbrüderung

Die Ent­wick­lung der Bru­der­schaf­ten speis­te sich ih­rer­seits aus zwei un­ter­schied­li­chen Pro­zes­sen: zum ei­nen aus dem für die mit­tel­al­ter­li­che Ge­sell­schafts­ord­nung kon­sti­tu­ti­ven Ge­nos­sen­schafts­we­sen in sei­nen sehr un­ter­schied­li­chen Aus­prä­gun­gen mit stän­di­schen, be­rufs­stän­di­schen, orts­be­zo­ge­nen, geist­li­chen oder an­de­re Ver­ei­ni­gun­gen und ei­ner aus­ge­präg­ten Bin­nen­hier­ar­chie, zum an­de­ren aus frü­hen mo­nas­ti­schen So­da­li­tä­ten mit dem Zweck des To­ten­ge­den­kens.

Be­reits im Jahr 762 war auf der Syn­ode von At­ti­gny ei­ne zeit­lich be­grenz­te Ge­bets­ver­brü­de­rung ge­schlos­sen wor­den; das ge­gen­sei­ti­ge Ge­dächt­nis zu­nächst in­ner­halb der in der Re­gel oh­ne Nach­kom­men blei­ben­den Geist­lich­keit soll­te das See­len­heil im To­des­fall be­för­dern.[6] Bis ins 11. Jahr­hun­dert, ver­ein­zelt auch schon frü­her, ver­ste­tig­ten sich die­se Ver­bin­dun­gen und wei­te­ten sich auf die Lai­en aus. Für die­se Ver­bin­dun­gen fin­den sich un­ter­schied­li­che Be­zeich­nun­gen: ami­ci­tia, fa­mi­li­a­ri­tas, so­cie­t­as, zu­wei­len auch con­vi­vi­um und am häu­figs­ten (con)fra­ter­ni­tas.

Die At­trak­ti­vi­tät der Mit­glied­schaft in ei­ner sol­chen Ver­bin­dung war für den vor­mo­der­nen Men­schen hoch, denn die Angst un­vor­be­rei­tet, das hei­ßt oh­ne Nach­lass der Sün­den, zu ster­ben und des­halb die Qua­len der Höl­le oder des Fe­ge­feu­ers er­lei­den zu müs­sen, war groß.[7] Das Wis­sen um ei­ne dau­er­haft ge­re­gel­te To­ten­für­sor­ge et­wa in Ge­stalt der von den Ver­ei­ni­gun­gen be­auf­trag­ten See­len­mes­sen ver­mit­tel­te den Men­schen ein Ge­fühl von Si­cher­heit und brach­te den an­fangs kaum or­ga­ni­sier­ten Bru­der­schaf­ten enor­men Zu­lauf. In den Zünf­ten und Gil­den, de­ren Ur­sprün­ge bis ins Al­ter­tum rei­chen und die sich dann ab et­wa 1100 et­wa zeit­gleich mit den Ge­bets­ver­brü­de­run­gen stär­ker aus­dif­fe­ren­zier­ten[8], fan­den sie ge­eig­ne­te Vor­bil­der für die Her­aus­bil­dung ei­ner funk­tio­nie­ren­den in­ne­ren Ord­nung.

Bis ins frü­he 15. Jahr­hun­dert lässt sich in der Fol­ge ei­ne re­zi­pro­ke Ent­wick­lung der ge­nos­sen­schaft­li­chen Ver­ei­ni­gun­gen und der auf die me­mo­ria zie­len­den Ver­brü­de­run­gen fest­stel­len. Wäh­rend sich die­se Struk­tu­ren mit Bru­der­meis­tern an der Spit­ze, Brü­der­bo­ten und Pe­del­len ent­wi­ckel­ten, über­nah­men je­ne zu­sätz­lich zu ih­rer meist ge­wer­be­ord­nen­den Funk­ti­on auch das To­ten­ge­den­ken und an­de­re re­li­giö­se Ele­men­te wie et­wa die be­son­de­re Ver­eh­rung ei­nes Schutz­pa­trons.[9]

Be­son­ders in den Städ­ten ge­wan­nen die Bru­der­schaf­ten durch die­se Ver­schmel­zung er­heb­lich an Ge­wicht. Die Zünf­te und Gil­den hat­ten nicht mehr nur ei­nen rein ge­werb­li­chen Cha­rak­ter, son­dern auch ei­ne zu­sätz­li­che mo­ra­li­sche Le­gi­ti­ma­ti­on, und die ur­sprüng­lich rein re­li­giö­sen Bru­der­schaf­ten pro­fi­tier­ten von ei­ner star­ken und ge­ord­ne­ten Mit­glied­schaft, an de­ren Spit­ze in der Re­gel die vor­neh­men Bür­ger des Ge­mein­we­sens stan­den. Gleich­zei­tig er­laub­te die Bru­der­schaft auch den stär­ken­den Zu­sam­men­schluss nicht nur be­rufs­stän­di­scher, son­dern auch funk­tio­na­ler Grup­pen und Eli­ten, von de­nen ei­ne die Schüt­zen wa­ren.

2.2 Frühe Schützenbruderschaften

Schüt­zen­bru­der­schaf­ten ent­stan­den als Ver­ei­ni­gung der waf­fen­tra­gen­den Bür­ger – nur im Ein­zel­fall auch be­diens­te­ter Stadt­sol­da­ten – vor­wie­gend ab dem 15. Jahr­hun­dert. Wal­ter M. Plett weist für das Rhein­land im 11. und 12. Jahr­hun­dert sechs Bru­der­schafts­grün­dun­gen nach[10], für das 13. Jahr­hun­dert zehn und für das 14. Jahr­hun­dert 42. Im 15. Jahr­hun­dert ver­drei­facht sich die Zahl auf 135, um sich dann im 16. Jahr­hun­dert auf 76 zu hal­bie­ren. Im 17. Jahr­hun­dert ist ein er­neu­ter An­stieg auf 133 zu ver­zeich­nen, um im 18. Jahr­hun­dert auf 76 zu­rück­zu­sin­ken.

Der ho­he Wert im 15. Jahr­hun­dert mar­kiert den Zeit­punkt, zu dem sich die Bru­der­schaf­ten zu ei­ner wir­kungs­vol­len Kor­po­ra­ti­on im Ge­mein­we­sen ent­wi­ckelt hat­ten, die dem Bür­ger­tum ver­schie­de­ne Mög­lich­kei­ten der re­li­giö­sen und da­mit auch so­zia­len Re­prä­sen­ta­ti­on bot.[11] In­wie­fern Krie­ge und Kri­sen die Ent­ste­hung von Bru­der­schaf­ten be­güns­tig­ten, lässt sich nur schwer ein­schät­zen. Dass ge­ra­de im 16. Jahr­hun­dert mit den Glau­bens­krie­gen, der „Klei­nen Eis­zeit“ und ih­ren spür­ba­ren Aus­wir­kun­gen oder dem be­gin­nen­den 80-jäh­ri­gen Krieg ein so si­gni­fi­kan­ter Rück­gang zu ver­zeich­nen ist, spricht je­den­falls nicht da­für. Viel­mehr scheint ein ge­wis­ser re­li­giö­ser Ei­fer, der so­wohl ins 15. Jahr­hun­dert wie auch in das im Rhein­land erst im 17. Jahr­hun­dert wirk­lich be­gin­nen­de kon­fes­sio­nel­le Zeit­al­ter passt, ei­ne Trieb­fe­der ge­we­sen zu sein.

Bei­spiel­haft sei aus der Grün­dungs­ur­kun­de der Neus­ser St. Se­bas­tia­nus-Schüt­zen­bru­der­schaft, de­ren Tra­di­ti­on heu­te von der Neus­ser Schei­ben­schüt­zen-Ge­sell­schaft von 1415 e.V. ge­pflegt wird, vom 1.11.1415 zi­tiert:

„Im Na­men Got­tes Amen! Zum Lo­be und zu Eh­ren Chris­tus Je­sus, un­se­res Herrn, Ma­riä, Sei­ner lie­ben Mut­ter, und dem hoch­ge­lob­ten Mär­ty­rer Sankt Se­bas­tia­nus zu Diens­ten, so ha­ben die Schüt­zen­ge­sel­len in der Stadt Neuss be­schlos­sen, un­ter sich ei­ne Bru­der­schaft von jetzt an im­mer­fort bis in ferns­te Ta­ge zu hal­ten und al­le Jah­re am Tag des hei­li­gen Mär­ty­rers zu be­ge­hen und durch­zu­füh­ren der­ma­ßen als her­nach ge­schrie­ben steht.“[12] 

Das Grün­dungs­da­tum, das Al­ler­hei­li­gen­fest, ver­weist auf den ur­sprüng­li­chen Zweck des ge­gen­sei­ti­gen To­ten­ge­den­kens. Im Üb­ri­gen stell­ten sich die Schüt­zen­ge­sel­len, de­ren Kreis spä­ter noch en­ger de­fi­niert wird als die­je­ni­gen, „die bin­nen Neuss woh­nen und Jahr und Tag an­säs­sig sind, so­fern sie von gu­tem Ru­fe sind und ehr­bar in ih­rem Wan­del und in ih­ren Han­tie­run­gen“[13], in den Dienst an der Kir­che und un­ter den Schutz des hei­li­gen Se­bas­ti­an, der selbst mit Pfeil und Bo­gen er­schos­sen wor­den und von sei­nen Wun­den durch die Pfle­ge der from­men Wit­we Ire­ne ge­ne­sen war. Gleich­zei­tig galt Se­bas­ti­an als Pest­hei­li­ger; sei­ne Be­liebt­heit als Pa­tron von Schüt­zen­bru­der­schaf­ten – von 1.297 Bru­der­schaf­ten im Bund der His­to­ri­schen Deut­schen Schüt­zen­bru­der­schaf­ten im Jahr 2009 führ­ten über 400 oder rund 32 Pro­zent Se­bas­ti­an im Na­men, mit deut­li­chem Ab­stand folgt der hei­li­ge Hu­ber­tus mit rund 250 Bru­der­schaf­ten (= 19 Pro­zent)[14] – scheint doch auch mit den Pest­epi­de­mi­en des Spät­mit­tel­al­ters und der Frü­hen Neu­zeit zu kor­re­lie­ren.[15] 

So fin­det sich in der Neus­ser Ur­kun­de im ers­ten Ab­schnitt die Bit­te, der hei­li­ge Mär­ty­rer mö­ge die Schüt­zen­brü­der „be­schir­men vor der Pest, vor Blat­tern, vor dem jä­hen To­de, vor Ge­schos­sen und an­de­ren Lei­bes­nö­ten.“ In­ter­es­sant ist, dass hier ne­ben den all­ge­mei­nen Ge­fah­ren durch Krank­heit die spe­zi­fi­sche Ge­fahr des Schüt­zen, die Schuss­ver­let­zung, mit auf­ge­nom­men wur­de. Die wei­te­ren Be­stim­mun­gen he­ben fast aus­schlie­ß­lich auf re­li­giö­se und so­zia­le Ver­hal­tens­wei­sen ab; so wur­de die Ver­pflich­tung, ar­men Schüt­zen­brü­dern Al­mo­sen zu spen­den und für ein wür­di­ges Be­gräb­nis zu sor­gen, eben­so fest­ge­schrie­ben wie die Zahl der See­len­mes­sen, die im To­des­fall für ein ver­stor­be­nes Mit­glied zu le­sen wa­ren. Am Se­bas­tia­nu­s­tag, dem 20. Ja­nu­ar, soll­te zu­dem ein Bru­der­mahl statt­fin­den. Re­ge­lun­gen über das Schie­ßen fin­den sich, an­ders als in spä­te­ren Quel­len, nicht. Dass die Bru­der­schaf­ten den­noch Schie­ß­übun­gen und mehr noch Schieß­spie­le durch­führ­ten, er­gab sich da­mit nicht aus ih­rem ei­ge­nen We­sen und Zweck her­aus, son­dern aus der Tat­sa­che, dass in ihr Men­schen or­ga­ni­siert wa­ren, die Um­gang mit der Waf­fe hat­ten. Gleich­wohl be­gann die­ses äu­ße­re Ele­ment den Cha­rak­ter der Schüt­zen­bru­der­schaf­ten bald zu über­la­gern.

3. Das Schützenwesen in der Frühen Neuzeit

Ei­ner star­ken re­li­gi­ös-sitt­li­chen Ver­wur­ze­lung in Ver­bin­dung mit kor­po­ra­ti­ven, mit­tel­al­ter­li­chen Struk­tu­ren ste­hen die Pfle­ge der Ge­sel­lig­keit und des Schieß­spiels ge­gen­über, wie sie sich seit dem 16. Jahr­hun­dert ver­stärkt in den Quel­len fin­den. So fand et­wa im Jahr 1501 in Köln ein Schieß­spiel oder auch Schüt­zen­fest statt, bei dem we­der der Kirch­gang noch ei­ne an­de­re re­li­giö­se Hand­lung ei­ne Rol­le spiel­ten, son­dern vor al­lem die Volks­be­lus­ti­gun­gen wie et­wa ei­ne Lot­te­rie.[16] Des­halb ver­such­te die Kir­che, die sich vor al­lem auch an den Ess- und Trink­ge­la­gen stör­te, das Bru­der­schafts­we­sen ein­zu­däm­men, al­ler­dings mit mä­ßi­gem Er­folg.[17] Viel­mehr ver­fes­tig­te sich im Lau­fe der Frü­hen Neu­zeit die Pfle­ge ei­nes Brauch­tums, des­sen Her­kunft im We­sent­li­chen un­ge­klärt ist und das an die­ser Stel­le noch im Ab­schnitt über die mög­li­chen heid­ni­schen Tra­di­tio­nen be­han­delt wer­den wird, und das nur der äu­ße­ren Form nach sich noch an den Re­geln ei­ner christ­li­chen Bru­der­schaft ori­en­tier­te.

So wird der Ab­lauf von Schüt­zen­fes­ten im Her­zog­tum Jü­lich um 1720 wie folgt be­schrie­ben:

„Das Vo­gel­schie­ßen pflegt eben­falls in je­der Stadt und in je­dem Dorf auf ei­nen ge­wis­sen für ewig da­zu be­stimm­ten Tag kurz vor der Got­te­s­tracht an­ge­stellt zu wer­den. Man rich­tet näm­lich auf ei­nem Baum oder auf ei­ner zu dem En­de un­ter­hal­te­nen Vo­gel­stan­ge ei­nen gro­ßen höl­zer­nen Vo­gel auf, nach wel­chem so­dann von den Ein­woh­nern des­sel­ben Or­tes, die da­zu Lust ha­ben, mit Feu­er­roh­ren und Flin­ten oder auch an ei­ni­gen Or­ten mit Bo­gen und Arm­brüs­ten ge­schos­sen wird. Nie­mand er­hält hier­bei et­was für sei­ne Be­mü­hung als nur al­lein der­je­ni­ge, wel­cher das Glück hat, das letz­te Stück vom Vo­gel her­ab­zu­schie­ßen. Die­ser wird mit gro­ßem Froh­lo­cken zum Kö­nig aus­ge­ru­fen, man um­hängt sei­nen Kör­per mit al­ler­hand sil­ber­nen Schil­dern, die zu dem En­de ver­wahrt wer­den, man set­zet ihm ei­nen Fe­der­busch auf den Hut, man be­glei­tet ihn von dem ei­nen Haus zu dem an­de­ren, wo man ihn al­lent­hal­ben mit ei­nem fri­schen Krug Bier be­will­komm­net, ja, wel­ches am meis­ten zu be­wun­dern ist, man füh­ret ihn so­gar an un­ter­schied­li­chen Or­ten in die Kir­che, all­wo ‚Gott, dich Herr‘ ge­sun­gen wird und von dem Pas­tor der sa­kra­ment­li­che Se­gen ge­ge­ben wird […].“[18] 

Es wird deut­lich, dass der un­ter­halt­sa­me Teil des Vo­gel­schie­ßens im Mit­tel­punkt des Schüt­zen­we­sens stand und der re­li­giö­se As­pekt zwar noch vor­han­den, aber deut­lich in den Hin­ter­grund ge­tre­ten war. Die­se Be­ob­ach­tung fin­det sich in zahl­rei­chen Schüt­zen­ord­nun­gen des 17. und 18. Jahr­hun­derts, und zwar vor­wie­gend im länd­li­chen Raum, be­stä­tigt. Die­ses letzt­li­che Feh­len ei­nes star­ken Fröm­mig­keits­as­pekts und der schon ein­gangs for­mu­lier­te Aus­schluss des Ge­dan­kens ei­ner Wehr­ver­ei­ni­gung schei­nen für das Ver­ständ­nis des kul­tu­rel­len Trans­fers zwi­schen Stadt und Land in der Frü­hen Neu­zeit von Be­deu­tung zu sein. Wenn der funk­ti­ons­stän­di­sche Zu­sam­men­schluss ei­ner Bru­der­schaft von Schüt­zen im Sin­ne wehr­haf­ter Bür­ger im städ­ti­schen Raum sich mit der ei­ne wahr­schein­lich äl­te­re Tra­di­ti­on pfle­gen­den Ge­mein­schaft, die stan­des­über­grei­fend kon­sti­tu­iert war, durch wech­sel­sei­ti­ge Be­ein­flus­sung ver­bun­den hät­te, könn­te dies ein ge­eig­ne­tes Er­klä­rungs­mo­dell für die Ge­ne­se des Schüt­zen­we­sens in sei­ner mo­der­nen Form sein, des­sen je­wei­li­gen Ge­mein­schaf­ten pri­mär we­der re­li­giö­sen noch mi­li­tä­ri­schen Cha­rak­ter hat­ten, son­dern in ers­ter Li­nie die Men­schen ei­ner dörf­li­chen Ge­mein­schaft im Rah­men ei­ner alt­her­ge­brach­ten Tra­di­ti­on und über die Gren­zen von Stand, Ver­mö­gen und üb­ri­gens auch Ge­schlecht hin­aus mit­ein­an­der ver­band, denn viel­fach wur­den zu­min­dest in den länd­li­chen Schüt­zen­bru­der­schaf­ten auch Frau­en als Mit­glie­der ge­führt.[19] Da­mit wür­de dann ei­ne zwar nicht all­seits ak­zep­tier­te, aber durch­aus denk­ba­re vor­christ­li­che Tra­di­ti­ons­li­nie auf­schei­nen.

4. Heidnische Bräuche als Erklärungsmodelle für Schützentraditionen

In der Ent­wick­lung des Schüt­zen­we­sens vom Mit­tel­al­ter bis in die Ge­gen­wart sind mit dem Bru­der­mahl, der ge­mein­sa­men, häu­fig aus­ge­las­se­nen Fei­er und dem Vo­gel­schuss zwei Kon­stan­ten er­kenn­bar, die sich we­der mit den christ­li­chen Ur­sprün­gen noch der na­tio­nal-mi­li­tä­ri­schen Über­la­ge­rung im 19. Jahr­hun­dert er­klä­ren las­sen. Mag die ge­sel­li­ge Ge­mein­schaft noch als Merk­mal mensch­li­cher In­ter­ak­ti­on in ei­nem sehr über­grei­fen­den Sinn zu ver­ste­hen sein, kann das Schie­ßen ei­nes Vo­gels be­zie­hungs­wei­se ei­ner Vo­ge­latt­rap­pe nur schwer ein­ge­ord­net wer­den. Als Schie­ß­übung je­den­falls wird es kaum ge­eig­net ge­we­sen sein, war als sol­che in ei­ni­gen Lan­des­tei­len so­gar seit 1658 un­ter­sagt[20], und dort, wo die Schie­ß­übung ex­pli­zi­ter Be­stand­teil ei­ner Schüt­zen­tra­di­ti­on ist, fin­det sich in der Re­gel das Schei­ben­schie­ßen als zur Ein­übung ziel­ge­nau­en Schie­ßens zweck­dien­li­che Me­tho­de. Dass es pri­mär ei­ne Volks­be­lus­ti­gung war, mö­gen dann auch die Wor­te der Prin­zes­sin in Karl Gott­lieb Sa­mu­el Heuns (1771-1854) Lust­spiel „Das Vo­gel­schies­sen“ aus dem Jahr 1822 zei­gen: „Beim Schie­ßen fällt mir ein, es soll heu­te hier in der Nach­bar­schaft ein Vo­gel­schie­ßen sein; solch ein Volks­fest möch­te‘ ich wohl ein­mal mit an­se­hen […]“. Wor­auf­hin ihr Va­ter, der Fürst, ant­wor­tet: „Un­se­re An­we­sen­heit wür­de die­se Art Men­schen nur in ih­rer Freu­de stö­ren, und sie ha­ben der Freu­de und der Fes­te so we­nig.“[21] Heun cha­rak­te­ri­sier­te das Schüt­zen­fest mit dem Vo­gel­schie­ßen li­te­ra­risch da­mit durch­aus zu­tref­fend als Fest der ein­fa­chen Leu­te, das vor al­lem der Ju­gend ein gro­ßes Ver­gnü­gen bot. Gleich­wohl ge­hör­te die Ein­bin­dung ad­li­ger, geist­li­cher oder bür­ger­li­cher Ho­no­ra­tio­ren zum Bei­spiel durch die Ab­ga­be von Eh­ren­schüs­sen im­mer zum Ab­lauf von Schüt­zen­fes­ten.

Hans-Tho­rald Mi­chae­lis ver­weist im Zu­sam­men­hang mit dem Vo­gel­schie­ßen der Schüt­zen­bru­der­schaf­ten auf ei­ne im kel­ti­schen Raum an­zu­tref­fen­de Tra­di­ti­on der ri­tu­el­len Vo­gelt­ö­tung. Da­bei wur­de von ei­ner be­stimm­ten Grup­pe, meist den jun­gen Män­nern ei­nes Dor­fes oder ei­ner Sip­pe, ein Vo­gel, oft­mals ein Zaun­kö­nig, er­legt, dem vor­her al­le bö­sen Geis­ter und Flü­che auf­er­legt wor­den wa­ren. Das to­te Tier wur­de dann in ei­ner leb­haf­ten Pro­zes­si­on durch den Ort ge­tra­gen; der­je­ni­ge, der es er­legt hat­te, wur­de bis zur nächs­ten Vo­gelt­ö­tung Kö­nig ge­nannt und mit kö­nig­li­chen In­si­gni­en aus­ge­stat­tet. Meist ge­noss er zahl­rei­che ge­sell­schaft­li­che Vor­tei­le. Auf der Is­le of Man soll die­se Tra­di­ti­on noch im 18. Jahr­hun­dert ge­pflegt wor­den sein.[22] 

Tat­säch­lich scheint es of­fen­kun­di­ge Ana­lo­gi­en zum Schüt­zen­brauch­tum zu ge­ben. Viel­fach fan­den und fin­den Schüt­zen­fes­te im Früh­jahr, zum Bei­spiel nach Os­tern oder um Pfings­ten statt. Die be­son­de­re, auch als Kö­nig­tum be­zeich­ne­te Eh­re ist eben­so be­kannt wie die da­mit ver­bun­de­nen so­zia­len Vor­tei­le; so war ein Schüt­zen­kö­nig in al­ler Re­gel für die Dau­er ei­nes Jah­res von Steu­ern so­wie Hand- und Spann­diens­ten be­freit.

Auch der Be­griff der „Gil­de“, der im Alt­nor­di­schen syn­onym für ein Trink- oder Op­fer­ge­la­ge ge­braucht wird und der ety­mo­lo­gisch auf ei­ne „Ab­gel­tun­g“ ver­weist, könn­te auf ei­ne vor­christ­li­che Wur­zel hin­deu­ten, die sich im Schüt­zen­we­sen er­hal­ten hat. In­ter­es­sant ist da­bei, dass die In­ten­ti­on ei­nes sol­chen Op­fer­fes­tes, das ei­nen fast got­tes­dienst­li­chen Cha­rak­ter hat­te, auf das an­dau­ern­de To­ten­ge­den­ken ziel­te, ein deut­li­cher An­klang an den Zweck der frü­hen christ­li­chen Bru­der­schaf­ten. In­so­fern könn­ten durch­aus, wie es auch aus an­de­ren Zu­sam­men­hän­gen wie den Fes­ten des Kir­chen­ka­len­ders be­kannt ist, heid­ni­sche und christ­li­che Vor­stel­lun­gen in ei­ne Wech­sel­wir­kung ge­tre­ten sein.[23] Im­mer­hin er­hiel­ten sich die sonst aus der Ent­wick­lung des Schüt­zen­we­sens her­aus kaum er­klär­ba­ren Ele­men­te auch über die Sä­ku­la­ri­sa­ti­on hin­aus, wäh­rend der re­li­giö­se As­pekt deut­lich an Ge­wicht ver­lor.

5. Nationaler Aufbruch und vaterländische Vereinigungen

Der Ein­marsch der fran­zö­si­schen Re­vo­lu­ti­ons­trup­pen und die Be­set­zung und An­ne­xi­on des Rhein­lan­des bis 1814/1815 be­deu­te­ten für die al­ler­meis­ten rhei­ni­schen Schüt­zen­ge­sell­schaf­ten ei­ne tie­fe Zä­sur. So­wohl der christ­li­che Be­zug als auch der Um­gang mit Waf­fen führ­ten häu­fig zu ih­rem zu­min­dest zeit­wei­sen Ver­bot.[24] Al­ler­dings wur­den Brauch­tums­fei­ern, auch Schüt­zen­fes­te, ab et­wa 1805 durch­aus häu­fig wie­der zu­ge­las­sen und so­gar er­wünscht. Beim Be­such Na­po­le­on Bo­na­par­tes im Her­zog­tum Berg et­wa und der da­bei statt­fin­den­den Durch­rei­se durch Mül­heim bei Köln ord­ne­te der dor­ti­ge Stadt­di­rek­tor ein Spa­lier uni­for­mier­ter Schüt­zen und ih­rer Fah­nen an.[25] So mar­kiert eher das En­de der Fran­zo­sen­zeit den Bruch in der his­to­ri­schen Kon­ti­nui­tät des Schüt­zen­we­sens, denn in ei­nem deut­lich stär­ke­ren sä­ku­la­ren Um­feld konn­ten vie­le äl­te­re Bru­der­schaf­ten nicht mehr an die Zeit da­vor an­knüp­fen.

Das Brauch­tum des Vo­gel­schie­ßens und der da­mit ver­bun­de­nen Volks­be­lus­ti­gun­gen leb­te je­doch wei­ter, ufer­te oh­ne die zu­grun­de lie­gen­den Ord­nungs­struk­tu­ren aber zu­wei­len aus, wes­halb sich schon bald neue Schüt­zen­ver­ei­ni­gun­gen grün­de­ten, die ent­we­der den preu­ßi­schen Mi­li­ta­ris­mus in An­leh­nung an die ge­gen die Fran­zo­sen ge­rich­te­ten Land­weh­ren als „Bür­ger in Uni­for­men“ imi­tier­ten oder auch ver­ball­horn­ten – nicht von un­ge­fähr fal­len bei­spiels­wei­se die Grün­dung der fest­ord­nen­den Ko­mi­tees in Köln, hier für den Kar­ne­val, und Neuss, dort für das Schüt­zen­fest, im Jahr 1823 zeit­lich zu­sam­men.

Auch aus man­cher Bür­ger­wehr im Um­feld der Re­vo­lu­ti­on von 1848 ent­wi­ckel­ten sich Schüt­zen­ver­ei­ne[26], und end­gül­tig ord­ne­ten sich die Schüt­zen­ge­sell­schaf­ten mit der Reichs­grün­dung in den Kreis der va­ter­län­di­schen Ver­ei­ne ein. Ins­ge­samt wur­den im 19. Jahr­hun­dert mit 432 Ver­ei­nen fast eben­so vie­le ge­grün­det wie vom 11. bis zum 18. Jahr­hun­dert zu­sam­men ge­nom­men. Zu­dem strahl­te das ur­sprüng­lich stark auf das Rhein­land kon­zen­trier­te Schüt­zen­we­sen weit in an­de­re Re­gio­nen des zu­sam­men­wach­sen­den Deut­schen Rei­ches aus: so wur­den in West­fa­len im 19. Jahr­hun­dert 431 Schüt­zen­ver­ei­ne ge­grün­det und im üb­ri­gen Deutsch­land 559 – ins­ge­samt al­so über 1.400 Ver­ei­ne; al­lei­ne in der Zeit bis 1939 ka­men noch ein­mal über 1.700 Ver­ei­ne da­zu, die sich mit 441 auf das Rhein­land, 335 auf West­fa­len und 947 auf das üb­ri­ge Deutsch­land ver­teil­ten.[27] 

Trotz die­ses si­gni­fi­kan­ten quan­ti­ta­ti­ven Zu­wach­ses hat sich die his­to­ri­sche For­schung mit dem Schüt­zen­we­sen des 19. und frü­hen 20. Jahr­hun­derts we­ni­ger im Sin­ne ei­nes ver­glei­chen­den Über­blicks be­schäf­tigt als mit den Bru­der­schaf­ten des An­ci­en Ré­gime. Bar­ba­ra Stam­bo­lis führt das auf Be­rüh­rungs­ängs­te mit dem „schil­lernd[en], fol­ko­ris­tisch[en] und so­mit leicht als ten­den­zi­ell un­se­riös“ emp­fun­de­nen Ge­gen­stand zu­rück.[28]  Tat­säch­lich hat­te sich das Schüt­zen­we­sen in der ers­ten Hälf­te des 19. Jahr­hun­derts häu­fig auf den Er­halt her­ge­brach­ter Volks­fes­te und Kir­mes­sen re­du­ziert.

Erst im Zu­sam­men­hang mit der na­tio­na­len Ei­ni­gung Deutsch­lands form­te sich in vie­len Schüt­zen­ver­ei­nen wie­der ei­ne stär­ke­re in­halt­li­che Aus­rich­tung, wo­bei an die Stel­le der christ­lich-re­li­giö­sen Ver­wur­ze­lung die pa­trio­ti­sche Ge­sin­nung trat. Nach­dem sich ein im Vor­feld der Re­vo­lu­ti­on von 1848 ins Le­ben ge­ru­fe­ner „All­ge­mei­ner Lan­des-Schüt­zen-Bund für Preu­ßen“ nicht hat­te eta­blie­ren kön­nen[29], grün­de­te sich 1861 in Go­tha der Deut­sche Schüt­zen­bund, des­sen ers­ter Eh­ren­vor­sit­zen­der, der Her­zog Ernst von Sach­sen-Co­burg-Go­tha[30] , an­läss­lich der Grün­dungs­ver­samm­lung am 11.7.1861 die Ver­band­zie­le wie folgt for­mu­lier­te:

Beispiel eines Holzvogels als Ziel für das Vogelschießen mit Reichsapfel und Zepter, Original im Museum für Thüringer Volkskunde, Foto: Andreas Praefcke. (Andreas Praefcke - CC BY 3.0)

 

„[...] Wir Schüt­zen ha­ben Ver­al­te­tes ver­schwin­den las­sen, um mit dem al­les be­we­gen­den Geist vor­wärts zu schrei­ten. Las­sen Sie uns ver­ges­sen, wo un­se­re Wie­gen stan­den, ob im Nor­den oder Sü­den, im Os­ten oder Wes­ten Deutsch­lands. Las­sen Sie uns ei­nen gro­ßen, ge­mein­sa­men deut­schen Schüt­zen­bund grün­den, ein­mal, um ge­mein­sa­me Nor­men zu fin­den für die grö­ße­ren und klei­ne­ren Schüt­zen­fes­te, [...] zum an­de­ren Ma­le, um die ganz gro­ße Schar der Schüt­zen des gro­ßen Bun­des der be­waff­ne­ten und gut ge­schul­ten Ju­gend als ei­ne Eh­ren­re­ser­ve der Ar­mee an die Sei­te zu stel­len.“[31] 

Auf­fäl­lig ist, dass der Her­zog da­mit die jahr­hun­der­te­al­te Tra­di­ti­on des Schüt­zen­we­sens gänz­lich un­er­wähnt ließ und statt­des­sen die Schüt­zen zur Avant­gar­de des na­tio­na­len Ei­ni­gungs­pro­zes­ses pro­kla­mier­te. Bür­ger­li­ches Fort­schritts­den­ken und die For­de­rung nach der na­tio­nal­staat­li­chen Ein­heit Deutsch­lands kom­men in sei­ner An­spra­che eben­so zum Aus­druck wie die An­leh­nung an den preu­ßi­schen Mi­li­ta­ris­mus, der bis heu­te in Hof­staa­ten mit Rit­tern, Kom­man­dan­ten, Ad­ju­tan­ten und Or­den, Mi­li­tär­ka­pel­len und Fah­nen­pa­ra­den sei­nen sicht­ba­ren Aus­druck fin­det.[32] 

Kurz nach der Reichs­grün­dung for­mier­te sich 1873 in Düs­sel­dorf auch der Rhei­ni­sche Schüt­zen­bund mit ähn­li­cher Aus­rich­tung wie der na­tio­na­le Dach­ver­band.[33] Die auf die­se Wei­se or­ga­ni­sier­ten Zu­sam­men­künf­te und Ver­gleichs­wett­kämp­fe führ­ten die Schüt­zen­ver­ei­ne aus ih­rem jahr­hun­der­te­lang auf ei­nen Ort oder ein Kirch­spiel be­schränk­ten Wir­kungs­kreis her­aus.

Ähn­lich wie die zeit­gleich ent­ste­hen­den zahl­rei­chen ka­me­rad­schaft­li­chen Krie­ger­ver­ei­ne leg­ten die Schüt­zen­ver­ei­ne wäh­rend des Kai­ser­reichs gro­ßen Wert auf Kai­ser- und Va­ter­land­streue. Viel­fach wur­den die ur­sprüng­lich im Früh­jahr oder zum Na­mens­tag des Schutz­pa­trons – so man sich auf ei­nen sol­chen über­haupt noch be­rief – statt­fin­den­den Fest­lich­kei­ten in Rich­tung der na­tio­na­len Fei­er­ta­ge wie dem Kai­ser­ge­burts­tag oder dem Se­dans­tag ver­scho­ben.[34] 

Schießscheibe zum Andenken an das erste deutsche Bundesschießen in Frankfurt am Main 1862 mit Betonung der Idee eines geeinten Deutschlands, Original im Besitz der Schützengesellschaft Kronach e.V.

 

Trotz die­ser nach au­ßen de­mons­trier­ten Va­ter­lands­lie­be fie­len vie­le Bür­ger- und Schüt­zen­ver­ei­ne nach dem Voll­zug der na­tio­nal­staat­li­chen Ein­heit und dem da­mit ver­bun­de­nen Weg­fall ei­ner we­sent­li­chen Ziel­set­zung in ein eher un­po­li­ti­sches Sta­di­um. Be­son­ders in klei­ne­ren Or­ten wur­den sie wie schon vor 1848 zu Fest- und Fei­er­ge­mein­schaf­ten, wo­bei nicht mehr der zwang­lo­se, volks­be­lus­ti­gen­de Cha­rak­ter im Vor­der­grund stand, son­dern zu­min­dest das Bild ei­ner an­stän­di­gen und sitt­sa­men bür­ger­li­chen Ver­gnü­gung.[35] 

Auf die­ser star­ken Grund­la­ge be­deu­te­te der Ers­te Welt­krieg kei­nen der­art tie­fen Ein­schnitt wie et­wa die fran­zö­si­sche Be­sat­zungs­zeit oder der Zwei­te Welt­krieg. Das ak­ti­ve Ver­eins­le­ben war zwar stark be­ein­träch­tigt und Schüt­zen­fes­te und sport­li­che Wett­kämp­fe fie­len auch über das Kriegs­en­de hin­aus aus. Erst in ei­nem müh­sa­men Pro­zess er­hiel­ten die Ver­ei­ne und Ver­bän­de wie­der die Er­laub­nis zum Sport­schie­ßen, muss­ten al­ler­dings mit Waf­fen vom En­de des 19. Jahr­hun­derts aus­kom­men, wenn sie über­haupt ei­ne ge­eig­ne­te Schie­ß­an­la­ge hat­ten.[36] Aber der Geist des Zu­sam­men­halts auf dem Fun­da­ment na­tio­nal­kon­ser­va­ti­ver Ide­en führ­te das Schüt­zen­we­sen in den 1930er Jah­ren zu ei­ner neu­en Blü­te.

In der Schießhalle, Erinnernungen an das deutsche Schützenfest in Stuttgart 1875, Reproduktion, originaler Holzschnitt von Schweissinger aus dem Jahr 1882.

 

6. Das Schützenwesen im „Dritten Reich“

Ein für vie­le Schüt­zen­ver­ei­ne im­mer noch pre­kä­rer Zeit­ab­schnitt ist das „Drit­te Reich“. Viel­fach wur­de ver­sucht, un­ter Ver­weis auf die his­to­ri­schen christ­li­chen Wur­zeln und die weit­ge­hen­de Ein­stel­lung von Ver­eins­ak­ti­vi­tä­ten ab 1939 ei­ne ge­wis­se Re­gi­me­fer­ne zu sug­ge­rie­ren, vor al­lem auch, um Le­gi­ti­ma­ti­ons­pro­ble­me nach 1945 zu ver­mei­den. Tat­säch­lich wi­der­set­ze sich die 1928 ge­grün­de­te Erz­bru­der­schaft vom Hl. Se­bas­ti­an, die Vor­läu­fe­rin des heu­ti­gen Bun­des der His­to­ri­schen Deut­schen Schüt­zen­bru­der­schaf­ten[37], zu­nächst den na­tio­nal­so­zia­lis­ti­schen Ver­ein­nah­mungs­ver­su­chen. Sie knüpf­te auf In­itia­ti­ve des Theo­lo­gen Pe­ter Louis be­wusst an die mit­tel­al­ter­li­chen und früh­neu­zeit­li­chen Schüt­zen­bru­der­schaf­ten an und führ­te die Be­grif­fe „Glau­be, Sit­te, Hei­ma­t“ in das Mi­lieu­vo­ka­bu­lar ein und trat da­mit durch­aus auch in ei­ne Kon­kur­renz­si­tua­ti­on zum rein welt­li­chen und in­fol­ge der Ent­po­li­ti­sie­rung auf das Schieß­sport­li­che kon­zen­trier­ten Deut­schen be­zie­hungs­wei­se Rhei­ni­schen Schüt­zen­bund.[38] Al­ler­dings blie­ben vie­le Schüt­zen „im Her­zen Mon­ar­chis­ten“[39]; es ver­wun­dert da­her nicht, wenn sie – trotz ei­ner star­ken Ein­bin­dung in das ka­tho­li­sche Mi­lieu – zu den­je­ni­gen Kräf­ten ge­hör­ten, die durch ei­ne Art „pas­si­ven Wi­der­stan­d“ am Schei­tern der Wei­ma­rer Re­pu­blik we­sent­li­chen An­teil hat­ten und sich in den neu­en Ver­hält­nis­sen nach 1933 recht bald zu­recht­fan­den. Des­halb wird man ei­ne Re­de von Pe­ter Louis aus dem Jahr 1934 wohl teils dem Wil­len zur als not­wen­dig be­trach­te­ten An­pas­sung an die Zeit­um­stän­de, teils aber auch tat­säch­li­cher Über­zeu­gung zu­schrei­ben kön­nen. Als ge­mein­sa­me Zie­le von Erz­bru­der­schaft und Na­tio­nal­so­zia­lis­mus iden­ti­fi­zier­te Louis „die Über­win­dung des Bol­sche­wis­mus, […] Ab­wehr der li­be­ra­len Ide­en, […] Auf­rich­tung der Volks­ge­mein­schaft und des Füh­rer­prin­zips, […] die stän­di­sche Ord­nung.“[40]

Umzug anlässlich des Schützenfestes in der Altstadt von Dorsten, 1938.

 

Schon 1928 hat­te der Vor­sit­zen­de des Deut­schen Schüt­zen­bun­des Jo­hann Pe­ter Lo­renz (1866-1944) mit deut­li­chen An­klän­gen an deutsch­na­tio­na­le und völ­ki­sche Pa­ro­len er­klärt: „Un­se­re na­tio­na­le Schwä­che wur­de mir so recht zum Be­wu­ßt­sein ge­bracht; und nur die Hoff­nung auf bal­di­ge Be­frei­ung, die in je­dem deut­schen Her­zen brennt, gab mir Trost in un­se­rer ge­gen­wär­ti­gen La­ge.  […] Das Ide­al, dem wir zu­stre­ben, hei­ßt ‚Va­ter­land’, das al­le Par­tei­en um­fa­ßt und eint. Zur Na­ti­on wird un­ser Volk erst wer­den durch ein ge­mein­sa­mes Ide­al, an das je­der Volks­ge­nos­se glaubt und sich durch die Tat be­kennt.“[41] 

Spä­tes­tens 1934 wa­ren so­wohl die Schüt­zen­ver­ei­ne wie auch die Dach­ver­bän­de mit dem „Füh­rer­ruf an die Schüt­zen zur neu­en Zeit“[42]  gleich­ge­schal­tet wor­den. Im März 1936 wur­de die Erz­bru­der­schaft auf­ge­löst. Un­zäh­li­ge Fo­tos und Do­ku­men­te be­le­gen, dass Schüt­zen­fes­te im Lich­te na­tio­nal­so­zia­lis­ti­scher Pro­pa­gan­da ge­fei­ert wur­den und zu­min­dest für die Funk­ti­ons­trä­ger ei­ne re­gime­kri­ti­sche Hal­tung un­denk­bar war. Al­ler­dings be­stand kei­nes­wegs die Ab­sicht, das Schüt­zen­we­sen ins­ge­samt zu ver­bie­ten; im Ge­gen­teil er­kann­te man das ih­nen in­ne­woh­nen­de Wehr­po­ten­ti­al[43] , al­lei­ne die kirch­li­chen An­klän­ge wur­den als stö­rend emp­fun­den. Ralph Trost zi­tiert ei­nen Ge­sta­po­be­richt aus dem Jahr 1936: „[…] Es wä­re im In­ter­es­se der Hei­mat­be­we­gung zu be­dau­ern, wenn das al­te Brauch­tum und die al­ten Volks­fes­te, die im Rhein­land tief ver­wur­zelt sind, im na­tio­nal­so­zia­lis­ti­schen Deutsch­land le­dig­lich we­gen ih­res kirch­li­chen Na­mens aus­ge­merzt wer­den sol­len. Die Schüt­zen­ver­ei­ne und die al­ten Volks­fes­te bil­den ei­nen we­sent­li­chen Be­stand­teil der al­ten rhei­ni­schen Hei­mat­kul­tur, die ge­ra­de in der Ge­gen­wart nur die grö­ßt­mög­li­che För­de­rung ver­dien­ten.“[44] 

Trotz­dem er­gin­gen in der Fol­ge meh­re­re Er­las­se, die die Selb­stän­dig­keit und In­di­vi­dua­li­tät der ein­zel­nen Schüt­zen­tra­di­tio­nen er­heb­lich ein­schrän­ken soll­ten. So ziel­te der Deut­sche Schüt­zen­bund in ei­nem Rund­schrei­bend des Jah­res 1938 auf die Ein­füh­rung von Ein­heits­uni­for­men und den Ver­zicht mi­li­tä­ri­scher Rang­ab­zei­chen, da man ver­mei­den woll­te, Wehr­machts- und SS-Ab­zei­chen un­be­ab­sich­tigt zu per­si­flie­ren.[45] Zu ei­ner letzt­li­chen Um­set­zung die­ser Plä­ne kam es je­doch nicht mehr, da mit Be­ginn des Zwei­ten Welt­kriegs die Ver­eins­ak­ti­vi­tä­ten ganz über­wie­gend ein­ge­stellt und vie­le Mit­glie­der der Schüt­zen­ver­ei­ne zum Wehr­dienst ein­be­ru­fen wur­den, von de­nen et­li­che ihr Le­ben las­sen muss­ten.

7. Rheinische Schützengesellschaften nach dem Zweiten Weltkrieg

Der Wie­der­be­ginn des Schüt­zen­we­sens nach 1945 war da­her viel schwie­ri­ger als nach den vor­an­ge­gan­ge­nen Ein­schnit­ten. Au­ßer­dem wie­der­hol­te sich die aus der fran­zö­si­schen Be­sat­zungs­zeit und der Zeit nach dem Ers­ten Welt­krieg be­kann­te Si­tua­ti­on des Ver­bots und Vor­be­halts sei­tens der Al­li­ier­ten. In glei­chem Ma­ße war aber das Brauch­tum le­ben­dig und, ver­mut­lich un­gleich stär­ker als zu Be­ginn des 19. Jahr­hun­derts und nach 1918, vor al­lem auch der Wil­le und die Not­wen­dig­keit in der Be­völ­ke­rung, durch die Rück­kehr zu ge­wohn­ten Fest­lich­kei­ten ein Stück Nor­ma­li­tät zu­rück zu ge­win­nen.

Die sich zu­nächst im pri­va­ten Kreis wie­der zu­sam­men fin­den­den Schüt­zen or­ga­ni­sier­ten da­her in den ers­ten Jah­ren nach 1945 in­ter­ne Fei­ern, zu­wei­len auch öf­fent­li­che Um­zü­ge im Zi­vil­an­zug und oh­ne Ka­pel­len. For­mal kehr­ten vie­le vor 1939 in sä­ku­la­rer Form be­ste­hen­de Ver­ei­ne zur äu­ße­ren Form der Bru­der­schaft zu­rück, in­dem sie an teil­wei­se be­ste­hen­de äl­te­re Tra­di­tio­nen an­knüpf­ten und sich da­mit das Ge­sicht ei­ner kirch­li­chen Ver­ei­ni­gung ga­ben, ge­gen die sei­tens der Be­sat­zungs­mäch­te kei­ne Vor­be­hal­te be­stan­den.[46] Erst nach Grün­dung der Bun­des­re­pu­blik kehr­te dann ein Teil der Ver­ei­ne wie­der zur sä­ku­la­ren Form zu­rück, wäh­rend an­de­re die Bru­der­schafts­form bis heu­te be­wah­ren.

Bei den ers­ten Schüt­zen­fes­ten nach dem Zwei­ten Welt­krieg muss­te wie schon nach 1918 häu­fig auf his­to­ri­sche Waf­fen wie Arm­brüs­te oder un­ge­fähr­li­che Waf­fen wie Luft­ge­weh­re zu­rück­ge­grif­fen wer­den. Bei Um­zü­gen wur­den statt Ge­weh­ren und De­gen Holz­ge­weh­re oder so­gar Blu­men ge­tra­gen. Den­noch er­hol­te sich das Schüt­zen­we­sen recht schnell und er­freu­te sich mit sei­nen Schüt­zen- und Volks­fes­ten bis in die 1980er Jah­re gro­ßer Be­liebt­heit in der Be­völ­ke­rung. Seit­dem kann ein stär­ke­rer Mit­glie­der­schwund be­ob­ach­tet wer­den, der von bei­den heu­te noch be­ste­hen­den Dach­ver­bän­den im Rhein­land mit dem Ver­such, his­to­risch ge­wach­se­ne und tra­di­tio­nel­le Wer­te wie­der stär­ker in den Mit­tel­punkt zu stel­len, be­ant­wor­tet wird.

So be­tont der Bund der His­to­ri­schen Deut­schen Schüt­zen­bru­der­schaf­ten sei­nen Cha­rak­ter als kirch­li­che Ver­ei­ni­gung, wäh­rend der Rhei­ni­sche Schüt­zen­bund zum Bei­spiel mit dem 2009 ein­ge­führ­ten Pro­tek­to­rat des Fürs­ten Carl zu Wied an ei­ne Ein­rich­tung aus sei­ner Ent­ste­hungs­zeit an­knüpft und sich über­dies in ei­nem Brauch­tums­aus­schuss stär­ker mit dem Vo­gel­schie­ßen be­schäf­tigt[47], das da­mit auch in der Ge­gen­wart sei­ne in al­len Epo­chen zen­tra­le Be­deu­tung zu be­hal­ten scheint.

Literatur (Auswahl)

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Johann Peter Lorenz Präsident des Deutschen Schützenbundes zwischen 1927 und 1938.

 
Anmerkungen
Zitationshinweis

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Bock, Martin, Das rheinische Schützenwesen. Ursprünge, Traditionen und Entwicklungslinien, in: Internetportal Rheinische Geschichte, abgerufen unter: https://www.rheinische-geschichte.lvr.de/Epochen-und-Themen/Themen/das-rheinische-schuetzenwesen.-urspruenge-traditionen-und-entwicklungslinien/DE-2086/lido/5ca49fdc63ad57.90122432 (abgerufen am 07.10.2024)