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Der katholische Theologe, Priester und Zentrums-Politiker Heinrich Brauns gehörte in den 1920er Jahren zu den wenigen „Rekordhaltern“ im fragilen politischen System der Weimarer Republik: Mit einer Amtszeit von acht Jahren diente er von Juni 1920 bis Juni 1928 ohne Unterbrechung in allen Reichskabinetten dieser Zeit als Reichsarbeitsminister und prägte - obwohl heute fast vergessen - wie kaum ein anderer die Arbeits- und Sozialpolitik der Umbruchsjahre Deutschlands nach dem Ersten Weltkrieg bis zum Beginn des “Dritten Reiches“.
Heinrich Brauns wurde am 3.1.1868 in der Kölner Altstadt als einziges Kind des Schneidermeisters Johann Brauns (1838-1919) und seiner Frau Anna Catharina (1838-1901), geborene Creveld, geboren und blieb seiner rheinischen Heimat lange treu. Am Kölner Apostelgymnasium bestand Heinrich Brauns 1886 die Reifeprüfung. Von früher Jugend an und vom Elternhaus dazu angeregt, widmete sich Brauns den Fragen der Arbeiterbewegung, so dass sein Entschluss, sich dem Studium der Theologie zu widmen, durchaus auch sozialpolitisch motiviert war.
Nach Abschluss des Studiums der Theologie und Philosophie 1889 an der Universität Bonn und der Vorbereitungszeit im Priesterseminar der Erzdiözese Köln empfing Brauns am 10.8.1890 in der Kölner Seminarkirche St. Mariä Himmelfahrt das Sakrament der Priesterweihe. Es folgte die erste Kaplansstelle in Krefeld, der Metropole der Textilindustrie am Niederrhein. Brauns Interesse an den sozialen Fragen und denen der Arbeiterschaft, seine Sorge um die Nöte der Fabrik- und Heimarbeiter, ließ nicht nach und fiel mittlerweile auch zeitlich zusammen mit der großen Initialzündung durch die 1891 veröffentlichte Sozialenzyklika “Rerum Novarum“ Papst Leos XIII. (Pontifikat 1878-1903), mit der die soziale Frage auf der Ebene der Weltkirche angekommen war. Aufgrund der damaligen Größe der Kölner Erzdiözese folgte 1895 Brauns Versetzung als Vikar an die Pfarrkirche St. Dionysius in Borbeck (1915 nach Essen eingemeindet). Mitten im Ruhrgebiet wirkte er nun in einer großen Bergmannspfarrei und setzte sich neben seinen seelsorglichen Verpflichtungen für die christlichen Gewerkschaften ein. Dabei geriet er sogar in den Verdacht der Behörden, ein im Grunde “roter Kaplan“ zu sein.
Nach fünf Jahren zeigten sich bei Brauns Spuren der Überarbeitung und nervlichen Überlastung und er zog sich aus der aktiven Pfarrseelsorge zurück. Durch den Zentrums-Politiker und Theologen Franz Hitze (1851-1921) kam Brauns 1900 als Privatgeistlicher zur Zentralstelle des „Volksvereins für das katholische Deutschland“ in Mönchengladbach, wo er zunächst die Leitung der Organisationsabteilung übernahm und 1903 Direktor an der Zentralstelle des Volksvereins wurde. Nebenher begann er zuerst 1903 an der Bonner Universität ein weiteres Studium der Volkswirtschaft und der Staatswissenschaften, das er nach vier Semestern im Jahr 1905 mit einer staatswissenschaftlichen Promotion zum Thema „Der Übergang von der Handweberei zum Fabrikbetrieb in der Niederrheinischen Samt- und Seidenindustrie und die Lage der Arbeiter in dieser Periode“ an der Universität Freiburg im Breisgau abschloss. Es erfolgte 1921 noch die Ehrenpromotion zum Dr. iur. h.c. an der Kölner Universität.
In den Jahren, in denen Brauns für den sozialpolitisch aktiven Volksverein tätig war, nahm dieser einen veritablen Aufschwung, wobei sich vor allem seine „Volkswirtschaftlichen Kurse“ großer Beliebtheit erfreuten. Durch seine Arbeit in Mönchengladbach wuchs er immer stärker in die Aufgabe als Lehrmeister der Arbeiter beziehungsweise der führenden Köpfe in den Arbeitervereinen, Gewerkschaften oder im Krankenkassenwesen hinein und schien darin seine Berufung gefunden zu haben.
Mit seiner Arbeit für den Volksverein profilierte sich Brauns innerhalb des katholischen Milieus immer stärker in die Richtung des damals als modern deklarierten Sozialkatholizismus, der sich am Beginn des 20. Jahrhunderts im Gegensatz zu den sich antimodern gerierenden “Integralisten“ befand. Die Trennlinie verlief zu dieser Zeit beispielsweise im “Gewerkschaftsstreit“, bei dem Brauns für interkonfessionelle christliche Gewerkschaften und für die gleichberechtigte Zusammenarbeit zwischen Arbeitgeber- und Arbeitnehmerverbänden eintrat.
Diese Spaltung blieb auch innerhalb der Zentrumspartei nicht ohne Spuren: Bereits der Kölner Redakteur Julius Bachem gab in der „Kölnischen Volkszeitung“ vom 1.3.1901 in seinem Leitartikel “Heraus aus dem Turm“ einen wichtigen Impuls für die Überwindung des konfessionellen Charakters des Zentrums und der damit verbundenen Konzentrierung auf allein katholische Interessen zugunsten einer verstärkten Aufmerksamkeit der Partei auf die politische Mitte hin. Es entbrannte in der Folge ein Streit um den künftigen Charakter der Partei. Der rechte Flügel bezeichnete Köln fortan gar als eine Gefahr für den Katholizismus und warf Bachem eine Protestantisierung des Katholizismus vor. Man unterschied bald die konservativere Berliner und die fortschrittlichere Kölner Richtung der Partei, die auch „Bachemsche Richtung“ genannt wurde. Anfang November 1918 machte auch Heinrich Brauns Vorschläge für eine demokratische interkonfessionelle christliche Volkspartei. Auch ein zweiter Vorstoß gemeinsam mit seinem Parteikollegen Adam Stegerwald (1874-1945) („Brauns/Stegerwald-Projekt“) scheiterte Ende 1920 und es blieb bis 1933 bei der konfessionellen Prägung des Zentrums.
Nach dem Ersten Weltkrieg entschied sich Brauns, ganz auf die politische Bühne zu wechseln. 1919 wurde er in die Weimarer Nationalversammlung (Wahlkreis Köln-Aachen) und 1920 in den Deutschen Reichstag gewählt, wo er sich als Sozialpolitiker rasch die ersten Meriten verdienen konnte: als Mitglied und zeitweise als Vorsitzender des volkswirtschaftlichen Ausschusses sowie des Ausschusses für soziale Angelegenheiten. Dort galt gleich am Anfang dem Betriebsrätegesetz seine erste Aufmerksamkeit. Mit anderen Parlamentariern verhinderte er, dass der radikale Rätegedanke Eingang in das neue Gesetz (verabschiedet 4.2.1920) fand.
Im Sommer 1920 wurde mit Konstantin Fehrenbach (1852-1926) erstmals ein Zentrumspolitiker Reichskanzler – an seinem Kabinett waren unter anderem Minister der Deutsche Demokratischen Partei, der Deutschen Volkspartei und des Zentrums beteiligt. In dieser Umbruchszeit die Verantwortlichkeit für die Arbeits- und Sozialpolitik zu übernehmen, war nicht selbstverständlich. Einige Kandidaten, wie Stegerwald, lehnten dankend ab, schließlich nahm sich Heinrich Brauns der Aufgabe an und blieb für die nächsten acht Jahre Reichsarbeitsminister.
Als Minister verfolgte Brauns weiter einen Weg der Mitte, was ihm gewiss auch Kritik von Kommunisten oder Liberalen einbrachte – für die einen stand er mit seinen Entscheidungen auf Seiten der Arbeitgeber, für die anderen hemmte er die Entwicklung der Wirtschaft zu sehr. Brauns blieb jedoch an seiner ursprünglichen sozialpolitischen Konzeption, die mit Franz Hitze und dem Sozialkatholizismus verbunden war, orientiert. Der Integration der Arbeiter in die Gesellschafts- und Staatsordnung, der Bekämpfung der Arbeitslosigkeit und dem Ausbau des Arbeitsrechts galt seine oberste Priorität, ebenso dem Ausbau des Betriebsverfassungsrechtes, der Weiterentwicklung des Tarifvertrags- und des Schlichtungswesens und der Einführung der Arbeitsgerichtsbarkeit (1926/1927).
Große Bedeutung hatte für Brauns auch die Arbeitsmarktpolitik, also der Bereich der Arbeitsvermittlung und Arbeitsbeschaffung, Berufsberatung und Berufsausbildung. Mit dem Gesetz über Arbeitsvermittlung und Arbeitslosenversicherung vom 16.7.1927 wurde ein erster gesetzlicher Rahmen hierfür geschaffen. Auch dem Bereich des Arbeitsschutzes galt seine Sorge, doch erreichte er hier keinen Konsens für ein umfassendes Gesetz. Nur in Teilbereichen gelang ihm eine Verbesserung, etwa in den Gesetzen über Wochenhilfe und Wochenfürsorge (1922), mit dem Heimarbeiterlohngesetz (1923) und dem Arbeitszeitnotgesetz (1927).
Besonders zu würdigen ist Brauns Verteidigung der Sozialversicherung durch alle inflationsbedingten Krisenjahre der Weimarer Republik. Mit seiner Hilfe konnte 1923 das knappschaftliche Versicherungswesen verbessert und vereinheitlicht werden. Die Erwerbslosenfürsorge wurde 1927 durch die Arbeitslosenversicherung abgelöst. Zu seinen wichtigsten Maßnahmen zählten auch die 1924 erlassenen Grundsätze und Verordnungen zur Reichsfürsorgepflicht, durch die das Wohlfahrtswesen neu geordnet werden konnte. Brauns widmete sich zudem in seiner Amtszeit der Verminderung der Wohnungsnot wie der Förderung des Siedlungswesens.
Als 1928 der Sozialdemokrat Hermann Müller (1876-1931) neuer Reichskanzler einer großen Koalition wurde, wollte dieser zunächst an Brauns als Reichsarbeitsminister festhalten, doch führten innerparteiliche Erwägungen innerhalb des Zentrums dazu, dieses Mal auf den bewährten Sozialpolitiker zu verzichten. Brauns schied schweren Herzens aus dem Amt aus und wurde stellvertretender Vorsitzender des Sozialpolitischen Ausschusses des Reichstags, von 1930 bis 1933 war er dessen Vorsitzender.
Einige Auftritte, auch internationale, blieben Brauns noch vergönnt: In den Jahren 1929-1931 stand er der deutschen Delegation bei der Internationalen Arbeitskonferenz in Genf vor, 1929 saß er dem internationalen sozialpolitischen Parlament als erster Deutscher vor. Als Leiter der nach ihm benannten „Brauns-Kommission“„ die während der Wirtschaftskrise 1931 durch die Regierung Heinrich Brünings (1885-1970) bestellt wurde und sich mit der Verbesserung der wirtschaftlichen Situation zu beschäftigen hatte, trat er noch einmal in Erscheinung.
Bei der Reichstagswahl vom 5.3.1933, die bereits nicht mehr uneingeschränkt frei abgehalten wurde, war Brauns nicht mehr als Kandidat seiner Partei aufgestellt worden; an der folgenschweren Abstimmung über das Ermächtigungsgesetz wenige Wochen später nahm er folglich nicht teil. Er zog sich nun endgültig nach Lindenberg im Allgäu zurück, wo er ein 1932 gebautes Haus bewohnte. Die letzten Lebensjahre verbrachte er an seinem Rückzugsort und liebte es, in seiner Freizeit bei vielen Reisen das Steuerrad von Schiffen in die Hand zu nehmen und auf dem Wasser zu sein. Freunde aus der Politik, aus der Arbeiterbewegung oder Mitbrüder besuchten ihn im Allgäu, wie auch er regelmäßig ins Rheinland zurückkam.
Trotz der Schikanen der Nationalsozialisten – Brauns war einer der Angeklagten des „Volksvereinsprozesses“ (1933-1935), wurde aber 1935 freigesprochen – blieb er seinen Lebensgrundsätzen treu. Am 19.10.1939 starb Heinrich Brauns im Krankenhaus von Lindenberg an den Folgen einer Blinddarmentzündung.
1978 stiftete der Bischof von Essen den „Heinrich-Brauns-Preis“ für Verdienste um die Katholische Soziallehre und die christlich-soziale Bewegung. Der Preis wird alle zwei Jahre vergeben.
Werke
Unsere Aufgabe gegenüber dem Vordringen der Sozialdemokratie, Mönchengladbach 1903.
Christliche Gewerkschaften oder Fachabteilungen in katholischen Arbeitervereinen?, Köln 1904.
Der Übergang von der Handweberei zum Fabrikbetrieb in der Niederrheinischen Samt- und Seidenindustrie und die Lage der Arbeiter in dieser Periode, Dissertation, Leipzig 1906.
Die christlichen Gewerkschaften, Mönchengladbach 1908.
Die Gewerkschaftsfrage, Wien 1912.
Die Achtstundenschicht im deutschen Steinkohlenbergbau. Bericht an die Internationale Vereinigung für gesetzlichen Arbeiterschutz, Berlin 1919.
Das Betriebsrätegesetz, Mönchengladbach 1920.
Lohnpolitik, Mönchengladbach 1921.
Wirtschaftskrisis und Sozialpolitik, Mönchengladbach 1924.
Zentrumspartei am Wiederaufbau Deutschlands, Osnabrück 1924.
Zentrum und evangelischer Volksteil, Berlin 1926.
Überwindung des Kapitalismus durch eine einheitliche proletarische Volksbewegung?, Mönchengladbach 1929.
Zum Kampf um die Sozialpolitik, Essen 1930.
Mockenhaupt, Hubert (Bearb.), Heinrich Brauns. Katholische Sozialpolitik im 20. Jahrhundert. Ausgewählte Aufsätze und Reden, Mainz 1976.
Literatur
Deuerlein, Ernst, Heinrich Brauns – Schattenriss eines Sozialpolitikers, in: Hermens, Ferdinand A./Schieder, Theodor (Hg.), Staat, Wirtschaft und Politik in der Weimarer Republik. Festschrift für Heinrich Brüning, Berlin 1967, S. 41-96.
Heitzer, Horstwalter, Artikel Brauns, Heinrich, in: Lexikon der Christlichen Demokratie in Deutschland, Paderborn [u .a.] 2002, S. 204-205.
Lingen, Markus, Heinrich Brauns und der „Volksverein für das katholische Deutschland“ (1900-1933), in: Haas, Reimund/Revinius, Karl Josef/Scheidgen, Hermann-Josef (Hg.), „Im Gedächtnis der Kirche neu erwachen“. Studien zur Geschichte des Christentums in Mittel- und Osteuropa zum Jubeljahr 2000 als Festgabe für Gabriel Adriányi zum 65. Geburtstag, Köln/Weimar/Wien 2000, S. 235-265.
Mockenhaupt, Hubert, Der franziskanische Geist des Reichsarbeitsministers Heinrich Brauns, in: Franziskanische Studien (62) 1980, S. 31–38.
Mockenhaupt, Hubert, Heinrich Brauns (1868–1939), in: Morsey, Rudolf (Hg.), Zeitgeschichte in Lebensbildern, Band 1, Mainz 1973, S. 148–159.
Mockenhaupt, Hubert, Heinrich Brauns (1868–1939), in: Rheinische Lebensbilder 4 (1982), S. 211–232.
Mockenhaupt, Hubert, Heinrich Brauns (1868–1939), in: Pothmann, Alfred/Haas , Reimund (Hg.), Christen an der Ruhr. Band 1, Bottrop/Essen 1998, S. 138–150.
Mockenhaupt, Hubert, Priesterliche Existenz und sozialpolitisches. Engagement von Heinrich Brauns, Dissertation (Saarbrücken) 1976.
Mockenhaupt, Hubert, Weg und Wirken des geistlichen Sozialpolitikers Heinrich Brauns, Paderborn 1977.
Oltmann, Uwe, Reichsarbeitsminister Heinrich Brauns in der Staats- und Währungskrise 1923/24. Die Bedeutung der Sozialpolitik für die Inflation, den Ruhrkampf und die Stabilisierung, Kiel 1968.
Online
Biogramm auf der Seite der Konrad-Adenauer-Stiftung. [Online]
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Burtscheidt, Andreas, Heinrich Brauns, in: Internetportal Rheinische Geschichte, abgerufen unter: https://www.rheinische-geschichte.lvr.de/Persoenlichkeiten/heinrich-brauns-/DE-2086/lido/57c5879799f141.50425915 (abgerufen am 06.11.2024)