Matthias Zender

Volkskundler (1907-1993)

Alois Döring (Bonn)

Matthias Zender, Porträtfoto, um 1987, Foto: Hans Schafgans. (Privatbesitz)

Mat­thi­as Zen­der war ein deut­scher Volks­kund­ler des 20. Jahr­hun­derts, der über Jahr­zehn­te die For­schung nicht nur im Rhein­land präg­te. Schwer­punk­te sei­ner wis­sen­schaft­li­chen Tä­tig­keit wa­ren die Er­zähl­for­schung, die Hei­li­gen­ver­eh­rung und die An­wen­dung der kar­to­gra­phi­schen Me­tho­de, wie sie im „At­las der deut­schen Volks­kun­de“ an­ge­wandt wor­den ist.  Sein Na­me ist mit die­sem be­deu­ten­den Kar­ten­werk zur mit­tel­eu­ro­päi­schen Volks­kul­tur un­trenn­bar ver­bun­den. 

Mat­thi­as Zen­der wur­de am 20.4.1907 als Sohn ei­ner bäu­er­li­chen Fa­mi­lie in Nie­der­weis (heu­te Kreis Bit­burg-Prüm) in der Süd­west­ei­fel ge­bo­ren. Be­reits als Schü­ler des Fried­rich-Wil­helm-Gym­na­si­ums in Trier (1918-1926) er­fuhr Zen­der durch sei­nen Trie­rer Gym­na­si­al­leh­rer Jo­sef Stein­hau­sen von der Exis­tenz des da­mals noch jun­gen Bon­ner In­sti­tuts für ge­schicht­li­che Lan­des­kun­de, und Stein­hau­sen er­mu­tig­te den Schü­ler, Fra­ge­bö­gen für das rhei­ni­sche Wör­ter­buch aus­zu­fül­len. Als Pri­ma­ner trat er 1925 in den ge­ra­de erst ge­grün­de­ten Ver­ein für ge­schicht­li­che Lan­des­kun­de der Rhein­lan­de ein. Nach dem Be­such des Gym­na­si­ums stu­dier­te er Volks­kun­de, Ge­schich­te und Ger­ma­nis­tik an den Uni­ver­si­tä­ten Bonn, Inns­bruck und Wien und wur­de 1938 an der Bon­ner Uni­ver­si­tät pro­mo­viert. Am 20.12.1939 hei­ra­te­te er die Leh­re­rin Cla­ra Ney­ses (1909-1992). Aus der Ehe gin­gen zwei Kin­der her­vor, Toch­ter Adel­heid (1943-1996) und Sohn Wolf­gang (ge­bo­ren 1950).

Am 1.4.1939 wur­de Zen­der As­sis­tent an der Uni­ver­si­tät Bonn. Wie aus ei­nem Schrei­ben des SS-Ah­nen­er­bes des glei­chen Jah­res her­vor­geht, wur­de ein be­an­trag­tes Ha­bi­li­ta­ti­ons­sti­pen­di­um ab­ge­lehnt. Ob­wohl er 1938 der NS­DAP bei­ge­tre­ten war, galt Zen­der dem NS-Re­gime als po­li­tisch un­zu­ver­läs­sig. 

Zen­der wur­de am 20.5.1940 zur Wehr­macht ein­be­ru­fen und am 1.4.1941 zum Kriegs­ver­wal­tungs­rat in Ar­lon (Bel­gi­en) er­nannt. Er agier­te als Spe­zi­al­re­fe­rent für Are­ler Volks­tums­fra­gen bis 1944, da­nach wur­de er als Sol­dat an der Front ein­ge­setzt. We­gen sei­ner ger­ma­ni­sie­rungs­po­li­ti­schen Tä­tig­keit in Ar­lon im Auf­trag der deut­schen Mi­li­tär­ver­wal­tung wur­de er 1946 in Bel­gi­en in­haf­tiert und ein Un­ter­su­chungs­ver­fah­ren ge­gen ihn ein­ge­lei­tet, das je­doch im Au­gust 1949 oh­ne An­kla­ge­er­he­bung ein­ge­stellt wur­de. 

1954 ha­bi­li­tier­te sich Mat­thi­as Zen­der in Bonn mit der Un­ter­su­chung über „Räu­me und Schich­ten mit­tel­al­ter­li­cher Hei­li­gen­ver­eh­rung". Sechs Jah­re spä­ter wur­de er zum au­ßer­or­dent­li­chen, 1963 zum or­dent­li­chen Pro­fes­sor an der Uni­ver­si­tät Bonn er­nannt. Bis zu sei­ner Eme­ri­tie­rung 1974 war er Di­rek­tor des Volks­kund­li­chen Se­mi­nars und Ab­tei­lungs­lei­ter für rhei­ni­sche Volks­kun­de am In­sti­tut für ge­schicht­li­che Lan­des­kun­de der Rhein­lan­de an der Uni­ver­si­tät Bonn. 

Seit En­de der 1950er Jah­re lei­te­te Mat­thi­as Zen­der die Volks­kund­li­che Ar­beits­stel­le des Land­schafts­ver­bands Rhein­land (LVR) beim In­sti­tut für ge­schicht­li­che Lan­des­kun­de der Rhein­lan­de zu­nächst als Lan­des­ver­wal­tungs­rat (1954-1960) im Dienst des Land­schafts­ver­ban­des, spä­ter als Lehr­stuhl­in­ha­ber. Die­se Auf­ga­be präg­te auch den Cha­rak­ter sei­ner Lehr­tä­tig­keit. So führ­te er die Stu­die­ren­den bei Stu­di­en­auf­ent­hal­ten in der Ei­fel und im Self­kant in Me­tho­den und Ziel­set­zun­gen em­pi­ri­scher For­schung ein. 

Zen­ders Dis­ser­ta­ti­on war der münd­li­chen Er­zähl­über­lie­fe­rung ge­wid­met ge­we­sen. Die Feld­for­schun­gen hat­ten ihn in die West­ei­fel, in die Krei­se Ahr­wei­lerMay­en, Witt­lich un­d Co­chem , in die Re­gi­on um Malme­dy und St. Vith so­wie in das deutsch­spra­chi­ge Ge­biet um Ar­lon in ­Bel­gi­en und nach­ ­Lu­xem­burg ge­führt. Sei­ne für die spä­te­re For­schung ma­ß­geb­li­chen Un­ter­su­chun­gen über die Sa­ge als Spie­gel­bild des Volks­le­bens rück­ten die Be­zie­hun­gen zwi­schen Er­zäh­ler, Er­zäh­lun­gen und Hö­rer­kreis in den Vor­der­grund. 

Schon als Gym­na­si­ast hat­te Mat­thi­as Zen­der mit dem da­ma­li­gen Lei­ter des Rhei­ni­schen Wör­ter­bu­ches in Bonn, Pro­fes­sor Dr. Jo­sef Mül­ler kor­re­spon­diert. Die Ar­beit am Rhei­ni­schen Wör­ter­buch be­glei­te­te Zen­der bis zum Ab­schluss des neun­bän­di­gen Wer­kes. Nach dem Tod des lang­jäh­ri­gen Be­ar­bei­ters Hein­rich Ditt­mai­er (1907-1970) be­trach­te­te er es als selbst­ver­ständ­li­che Pflicht, den letz­ten Band im Jah­re 1971 zu En­de zu brin­gen. Im Jah­re 1929 war Mat­thi­as Zen­der mit dem Auf­bau der Lan­des­stel­le Rhein­land des „At­las­ses der deut­schen Volks­kun­de“ be­traut wor­den, wo­bei er ein dich­tes Be­leg­netz ge­knüpft hat­te. Zen­der üb­te durch­aus Kri­tik an der vom Ah­nen­er­be pro­te­gier­ten Ber­li­ner At­las-Zen­tral­stel­le. Er zeig­te auf, dass „his­to­ri­sche Strö­mungs­rich­tun­gen“ nicht „volks­tums­geo­gra­phisch" durch Blut und Bo­den be­dingt und nicht in grau­er ger­ma­ni­scher Vor­zeit an­ge­sie­delt sind. 

1954 er­hielt Mat­thi­as Zen­der den Auf­trag der Deut­schen For­schungs­ge­mein­schaft, die Neue Fol­ge des Volks­kun­de-At­las­ses her­aus­zu­ge­ben. Die­ses vo­lu­mi­nö­se Werk brach­te er mit 84 Kar­ten­blät­tern, rund 2.000 Sei­ten um­fas­sen­den Er­läu­te­rungs­bän­den und drei Bei­hef­ten 1984 zum Ab­schluss. Sei­ne weg­wei­sen­den Stu­di­en ga­ben der kar­to­gra­phi­schen Me­tho­de ei­nen ei­gen­stän­di­gen wis­sen­schaft­li­chen Rang, los­ge­löst von der Dia­lekt­geo­gra­phie und der stam­mes­ge­bun­de­nen Volks­tums­geo­gra­phie. 

Zen­ders Ar­bei­ten um­fass­ten den ge­sam­ten mit­tel­eu­ro­päi­schen Raum. Dar­aus er­gab sich kon­se­quen­ter­wei­se ei­ne füh­ren­de Rol­le beim „Eth­no­lo­gi­schen At­las Eu­ro­pa­s“. Die­ses Pro­jekt blieb al­ler­dings ein Tor­so, es er­schien le­dig­lich die ers­te Lie­fe­rung „Die Ter­mi­ne der Jah­res­feu­er in Eu­ro­pa“. 

Mat­thi­as Zen­der präg­te als lang­jäh­ri­ger Mit­her­aus­ge­ber der „Rhei­ni­schen Vier­tel­jahrs­blät­ter“, der „Rhei­nisch-west­fä­li­schen Zeit­schrift für Volks­kun­de“, der „Zeit­schrift für Volks­kun­de“ so­wie der „Eth­no­lo­gia Eu­ro­pae­a“ nicht nur die Volks­kun­de. Auch auf dem Ge­biet der rhei­ni­schen Lan­des­ge­schich­te nahm er ei­ne her­vor­ra­gen­de Stel­lung ein, wie sei­ne Mit­glied­schaf­ten im Vor­stand der „Ge­sell­schaft für Rhei­ni­sche Ge­schichts­kun­de“ (Köln) und des „Ver­eins für ge­schicht­li­che Lan­des­kun­de der Rhein­lan­de“ (Bonn) be­zeu­gen. Zen­der war Mit­glied der „Kom­mis­si­on für Saar­län­di­sche Lan­des­ge­schich­te und Volks­for­schun­g“ (Saar­brü­cken) und der „Volks­kund­li­chen Kom­mis­si­on für West­fa­len“ (Müns­ter). 

Sein ho­hes wis­sen­schaft­li­ches An­se­hen be­zeu­gen zahl­rei­che Eh­run­gen und Aus­zeich­nun­gen: kor­re­spon­die­ren­des Mit­glied der „Aka­de­mie der Wis­sen­schaf­ten“ zu Göt­tin­gen, Mit­glied des wis­sen­schaft­li­chen Bei­ra­tes des „Deut­schen Sprachat­las“ (For­schungs­in­sti­tut für Deut­sche Spra­che in Mar­burg), kor­re­spon­die­ren­des Mit­glied des „Ver­eins für ös­ter­rei­chi­sche Volks­kun­de“ in Wien, kor­re­spon­die­ren­des Eh­ren­mit­glied der „Sec­tion de Lin­gu­is­tique de Folk­lo­re et de To­po­no­mie de l'In­sti­tut Grand-Du­cal de Lu­xem­bour­g“, Eh­ren­mit­glied der „Kö­nig­li­chen Gus­taf -Adolfs-Aka­de­mie“ zu Upp­sa­la, Eh­ren­mit­glied der „So­cié­té In­ter­na­tio­na­le d'Eth­no­lo­gie et de Folk­lo­re“ der UNESCO so­wie Mit­glied der „Stän­di­gen In­ter­na­tio­na­len Kom­mis­si­on für den Eth­no­lo­gi­schen At­las Eu­ro­pas und sei­ner Nach­bar­län­der“. Zen­der war In­ha­ber der Ar­tur Ha­ze­li­us-Me­dail­le des Nor­dis­ka-Mü­seet in Stock­holm, In­ha­ber des gro­ßen Ver­dienst­kreu­zes des Ver­dienst­or­dens der Bun­des­re­pu­blik Deutsch­land und Com­tur des päpst­li­chen St. Gre­go­ri­us-Or­dens. 

Mat­thi­as Zen­der starb nach ei­nem er­füll­ten, der Wis­sen­schaft ge­wid­me­ten Le­ben am 20.12.1993 in Bonn. Er wur­de auf dem Fried­hof sei­nes Ge­burts­or­tes Nie­der­weis bei­ge­setzt.

Werke (Auswahl)

Volks­sa­gen der West­ei­fel, Bonn 1935.
Die Sa­ge als Spie­gel­bild von Volks­art und Volks­le­ben im west­li­chen Grenz­land. Ein Bei­trag zur Volks­kun­de von Ei­fel und Ar­den­nen, Dis­ser­ta­ti­ons­chrift, Teil­druck Bonn 1940.
Räu­me und Schich­ten mit­tel­al­ter­li­cher Hei­li­gen­ver­eh­rung in ih­rer Be­deu­tung für die Volks­kun­de. Die Hei­li­gen des mitt­le­ren Maas­lan­des und der Rhein­lan­de in Kult­ge­schich­te und Kult­ver­brei­tung, Düs­sel­dorf 1959, 2., er­wei­ter­te Auf­la­ge Köln 1973.
Die Ver­eh­rung des hl. Qui­ri­nus in Kir­che und Volk, Neuss 1967.
Ge­stalt und Wan­del. Auf­sät­ze zur rhei­nisch-west­fä­li­schen Kul­tur­raum­for­schung, hg. von Hein­rich L. Cox und Gün­ter Wie­gel­mann, Bonn 1977.
Volks­kun­de. Ei­ne Ein­füh­rung [zu­sam­men mit Gün­ter Wie­gel­mann und Ger­hard Heil­furth], Ber­lin 1977.
Eth­no­lo­gi­scher At­las Eu­ro­pas. Die Ter­mi­ne der Jah­res­feu­er, Kar­te I-V, Göt­tin­gen 1979 [Re­dak­ti­on].
Die Ter­mi­ne der Jah­res­feu­er in Eu­ro­pa. Er­läu­te­run­gen zur Ver­brei­tungs­kar­te (For­schun­gen zum Eth­no­lo­gi­schen At­las Eu­ro­pas und sei­ner Nach­bar­län­der), Göt­tin­gen 1980 [Re­dak­ti­on].
Die Ver­eh­rung des hl. Ma­xi­min von Trier (Ge­schicht­li­cher At­las der Rhein­lan­de, Bei­heft XI/1), Köln 1982.
Volks­mär­chen und Schwän­ke aus Ei­fel und Ar­den­nen, Bonn 1984.
Die Ver­eh­rung des hl. Se­ve­rin von Köln (Ge­schicht­li­cher At­las der Rhein­lan­de, Bei­heft XI/2), Köln 1985.
Sa­gen und Ge­schich­ten aus der West­ei­fel, 3. ver­bes­ser­te Auf­la­ge, Bonn 1986.

Festschrift, Schriftenverzeichnis

En­nen, Edith/Wie­gel­mann, Gün­ter (Hg.), Stu­di­en zu Volks­kul­tur, Spra­che und Lan­des­ge­schich­te. Fest­schrift Mat­thi­as Zen­der, 2 Bän­de, Bonn 1972.
Man­gold, Jo­sef, Schrif­ten­ver­zeich­nis Mat­thi­as Zen­der über die Jah­re 1925-1987. Pro­fes­sor Dr. Mat­thi­as Zen­der zum 80. Ge­burts­tag, Bonn 1987.

Nachrufe

Cox, Hein­rich L., Mat­thi­as Zen­der 1907-1993, in: Rhei­ni­sche Vier­tel­jahrs­blät­ter 58 (1994), S: XVII-XXV.
Cox, Hein­rich L., Nach­ruf Mat­thi­as Zen­der, in: Rhei­nisch-west­fä­li­sche Zeit­schrift für Volks­kun­de 39 (1994), S. 11-19.

Literatur

Fi­scher, Hel­mut, Zen­der, in: En­zy­klo­pä­die des Mär­chens. Hand­wör­ter­buch zur his­to­ri­schen und ver­glei­chen­den Er­zähl­for­schung, hg. von  Rolf W. Bred­nich (u.a.), Band 14, Ber­lin [im Druck].
Gansohr-Meinel, Hei­di, „Fra­gen an das Vol­k“ Der At­las der deut­schen Volks­kun­de 1928-1945. Ein Bei­trag zur Ge­schich­te ei­ner In­sti­tu­ti­on, Würz­burg 1993.
Le­jeu­ne, Car­lo, Mat­thi­as Zen­der als Kriegs­ver­wal­tungs­rat und sei­ne Ak­te: Ein Hel­fer Hit­lers oder ein auf­rech­ter Hu­ma­nist? In: Rhei­ni­sche Vier­tel­jahrs­blät­ter 77 (2013), S. 130-157.

 
Zitationshinweis

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Döring, Alois, Matthias Zender, in: Internetportal Rheinische Geschichte, abgerufen unter: https://www.rheinische-geschichte.lvr.de/Persoenlichkeiten/matthias-zender/DE-2086/lido/57c827be1ab6f5.77104033 (abgerufen am 15.10.2024)