„Warum trägt Günter Netzer langes Haaг?“ Die sowjetische Sportzeitschrift Futbol-Chokkej über Borussia Mönchengladbach

Alexander Friedman (Düsseldorf)

Berti Vogts mit dem UEFA-Pokal, 21. Mai 1975. (Nationaal Archief / CC0 1.0)

1. Einleitung

An­ge­sichts des zu­neh­men­den In­ter­es­ses für Fuß­ball in der So­wjet­uni­on rief der Fuß­ball­bund der UdSSR im Mai 1960 die ers­te so­wje­ti­sche Fuß­ball­zeit­schrift Fut­bol („Fuß­bal­l“) ins Le­ben. Das neue Fach­pe­ri­odi­kum be­glei­te­te den Sieg der so­wje­ti­schen Na­tio­nal­mann­schaft bei der Eu­ro­pa­meis­ter­schaft in Frank­reich (1960). Die­se wö­chent­li­che Sonn­tags­bei­la­ge zur re­nom­mier­ten Sport­zei­tung Sovets­kij sport („So­wjet­spor­t“) er­schien zwi­schen 1967 und 1990 un­ter dem Na­men Fut­bol-Chok­kej („Fuß­ball und Eis­ho­ckey“) und hei­ßt ab 1990 wie­der Fut­bol[1]. Das Ma­ga­zin, das die „Ver­bes­se­rung der Qua­li­tät des so­wje­ti­schen Fuß­ball­s“ als sei­ne wich­tigs­te Auf­ga­be an­sah, eta­blier­te sich schnell als die füh­ren­de Sport­zeit­schrift der So­wjet­uni­on: Im Ja­nu­ar 1968 er­reich­te sei­ne be­acht­li­che Auf­la­ge 1,5 Mil­lio­nen Ex­em­pla­re[2]. Wäh­rend der wich­tigs­ten Fuß­ball­er­eig­nis­se (Welt- und Eu­ro­pa­meis­ter­schaf­ten) – zum Bei­spiel wäh­rend der Welt­meis­ter­schaft in Eng­land (1966), bei der die so­wje­ti­sche Aus­wahl das Halb­fi­na­le er­reich­te und erst das Spiel um den drit­ten Platz ge­gen Por­tu­gal ver­lor – be­trug die Auf­la­ge der Zeit­schrift so­gar 2,5 Mil­lio­nen Ex­em­pla­re[3]. Das Fach­ma­ga­zin pro­fi­tier­te da­bei ins­be­son­de­re von der Tat­sa­che, dass das so­wje­ti­sche Staats­fern­se­hen in den 1960er und 1970er Jah­ren re­la­tiv we­nig Fuß­ball zeig­te.

Die be­kann­ten so­wje­ti­schen Sport­jour­na­lis­ten Mar­tyn I. Merža­nov, Lev I. Fi­la­tov, Vik­tor V. Po­nedel’nik, Oleg S. Kuče­ren­ko und ih­re Kol­le­gen mach­ten ih­re Le­ser mit den Spie­len der so­wje­ti­schen Na­tio­nal­mann­schaft, mit der so­wje­ti­schen Ober­li­ga und auch mit der Ent­wick­lung des Fuß­balls au­ßer­halb des Lan­des ver­traut. Die Ost­po­li­tik Wil­ly Brandts (1913-1992) und die da­mit ver­bun­de­ne Ver­bes­se­rung der Be­zie­hun­gen zwi­schen der BRD und der So­wjet­uni­on ver­stärk­ten in der UdSSR das In­ter­es­se für West­deutsch­land und un­ter an­de­rem für das Sport­le­ben in die­sem west­eu­ro­päi­schen Land. So setz­te sich die so­wje­ti­sche Sport­pres­se in den 1970er Jah­ren in­ten­siv mit dem west­deut­schen Fuß­ball aus­ein­an­der: Die Tri­um­phe der DFB-Aus­wahl bei der Eu­ro­pa­meis­ter­schaft (1972) und bei der Welt­meis­ter­schaft in ei­ge­nem Land (1974) wur­den re­gis­triert. FC Bay­ern Mün­chen und Bo­rus­si­a Mön­chen­glad­bach spiel­ten ei­ne wich­ti­ge Rol­le in den eu­ro­päi­schen Po­ka­len. Mit be­son­de­rem In­ter­es­se ver­folg­te die so­wje­ti­sche Sport­zeit­schrift das Phä­no­men Bo­rus­sia Mön­chen­glad­bach und be­fass­te sich mit die­sem Ver­ein aus der Pro­vinz, der in den 1970er Jah­ren fünf west­deut­sche Meis­ter­schaf­ten ge­won­nen, zwei­mal den UE­FA-Po­kal ge­holt, sich durch ei­ne at­trak­ti­ve of­fen­si­ve Spiel­wei­se aus­ge­zeich­net hat und zu­dem zahl­rei­che Stars hat­te, wel­che auch in der Na­tio­nal­mann­schaft Ak­zen­te setz­ten. Die in der For­schung bis­her nicht ana­ly­sier­te Be­richt­er­stat­tung des Fut­bol-Chok­kej über Bo­rus­sia Mön­chen­glad­bach steht im Mit­tel­punkt die­ses Bei­tra­ges.

2. Spitzenmannschaft aus der Bundesliga

Die auf­merk­sa­men Fut­bol-Chok­kej-Le­ser wa­ren über die Ent­wick­lun­gen in der Bun­des­li­ga gut in­for­miert: Die so­wje­ti­sche Zeit­schrift ver­öf­fent­lich­te re­gel­mä­ßig – meist nach der Hin- und nach der Rück­run­de – um­fas­sen­de Be­rich­te über die­se west­eu­ro­päi­sche Li­ga. Die Be­rich­te wur­den ent­we­der von so­wje­ti­schen Jour­na­lis­ten oder vor al­lem von Re­dak­teu­ren des Nürn­ber­ger Ki­cker-Sport­ma­ga­zins vor­be­rei­tet. Mit dem Ki­cker, den man für „die re­nom­mier­tes­te“ Sport­zeit­schrift der Bun­des­re­pu­blik Deutsch­lands hielt[4], pfleg­te der Fut­bol-Chok­kej ei­ne en­ge Ver­bin­dung. So schil­der­ten der Ki­cker-Chef­re­dak­teur Karl-Heinz Hei­mann und sei­ne Kol­le­gen in ih­ren so­wje­ti­schen Pu­bli­ka­tio­nen den ra­san­ten Auf­stieg des „Dorf­ver­ein­s“ Bo­rus­sia Mön­chen­glad­bach, den die fran­zö­si­sche Fach­zeit­schrift Fran­ce Foot­ball als „Team des Jah­res 1975“ aus­zeich­ne­te[5]. Man be­schäf­tig­te sich mit dem er­bit­ter­ten Zwei­kampf zwi­schen FC Bay­ern Mün­chen und Bo­rus­sia Mön­chen­glad­bach in der Bun­des­li­ga, wo­bei die Sym­pa­thie eher auf der Sei­te des „Dorf­ver­ein­s“ aus dem so­zi­al­de­mo­kra­tisch re­gier­ten Nord­rhein-West­fa­len war, wäh­rend ihr Ri­va­le aus Mün­chen als ein Team aus dem von der „re­ak­tio­nä­ren“ CSU do­mi­nier­ten Bun­des­land Bay­ern wahr­ge­nom­men wur­de[6].

Im Hin­blick auf Bo­rus­sia Mön­chen­glad­bach ist der im Ja­nu­ar 1975 er­schie­ne­ne Bei­trag des so­wje­ti­schen Trai­ners Va­len­tin A. Ni­ko­laev (1921-2009) be­son­ders er­wäh­nens­wert. Nach der Welt­meis­ter­schaft (1974) be­such­te Ni­ko­laev zu­sam­men mit ei­ni­gen Kol­le­gen die Bun­des­re­pu­blik Deutsch­land, Po­len, die Nie­der­lan­de und Ju­go­sla­wi­en. Die so­wje­ti­schen Trai­ner soll­ten den Fuß­ball­be­trieb in die­sen Län­dern nä­her ken­nen­ler­nen. An­ge­sichts der be­acht­li­chen Er­fol­ge der DFB-Aus­wahl und west­deut­scher Ver­ei­ne in Eu­ro­pa-Po­ka­len ver­trat Ni­ko­laev An­fang 1975 die An­sicht, man sol­le die Ent­wick­lung des Fuß­balls in der BRD auf­merk­sam be­ob­ach­ten, um von den west­deut­schen Er­fah­run­gen zu pro­fi­tie­ren. Ins­ge­samt 18 Ta­ge durf­te er bei Ein­tracht Frank­furt, Bo­rus­sia Mön­chen­glad­bach und Bay­ern Mün­chen hos­pi­tie­ren. Be­strebt, den so­wje­ti­schen Le­sern die Or­ga­ni­sa­ti­on des west­deut­schen Pro­fi­fuß­balls zu er­klä­ren, be­zeich­ne­te Ni­ko­laev die­se Ver­ei­ne als „Ge­schäfts­un­ter­neh­men“, die sehr eng mit der Wis­sen­schaft zu­sam­men­ar­bei­ten wür­den. In Mön­chen­glad­bach be­ob­ach­te­te der Gast aus der So­wjet­uni­on ei­ne „aus­ge­zeich­ne­te“ Trai­nings­an­la­ge. Für Ni­ko­laev eher un­ge­wöhn­lich war die Tat­sa­che, dass der Spit­zen­rei­ter der Bun­des­li­ga, die Bo­rus­sia, we­der über ei­nen Mann­schafts­arzt ver­fü­ge – die Spie­ler wür­den von ei­ner Kli­nik in Mön­chen­glad­bach be­treut –, noch ein Sta­di­on be­sä­ße. Das Sta­di­on am Bö­ckel­berg, auf der die Mann­schaft ih­re Heim­spie­le in der Li­ga aus­tra­ge, ge­hö­re der Stadt und wer­de an den Bun­des­li­gis­ten güns­tig ver­mie­tet.

 

In sei­nem Bei­trag stell­te Va­len­tin Ni­ko­laev das Mann­schafts­trai­ning (phy­si­sche Vor­be­rei­tung, tak­ti­sche und tech­ni­sche Übun­gen, Test­spie­le) und den ge­wöhn­li­chen Wo­chen­ab­lauf der deut­schen Spit­zen­mann­schaft dar. Er be­ton­te, dass in Mön­chen­glad­bach un­ter der Lei­tung des Chef­trai­ner­s Hen­nes Weis­wei­ler und des für die phy­si­sche Vor­be­rei­tung des Teams zu­stän­di­gen Kon­di­ti­ons­trai­ners Karl-Heinz Dry­gals­ky (ge­bo­ren 1937) dis­zi­pli­niert, ziel­ge­rich­tet und mo­ti­viert ge­ar­bei­tet wer­de[7].

Die na­tio­na­len und in­ter­na­tio­na­len Er­fol­ge der Bo­rus­sia wa­ren an­ge­sichts die­ser ex­zel­len­ten phy­si­schen und tak­ti­schen Vor­be­rei­tung nicht über­ra­schend: 1972 ge­wann das Team den DFB-Po­kal. 1970, 1971, 1975, 1976 und 1977 tri­um­phier­te es in der Bun­des­li­ga. 1978 ver­pass­te die Mann­schaft aus Mön­chen­glad­bach nur knapp ih­ren vier­ten Meis­ter­ti­tel in Fol­ge. In die­sem Zu­sam­men­hang be­rich­te­te der Fut­bol-Chok­kej über den le­gen­dä­ren „Skan­dal des Jah­res 1978“ im west­deut­schen Fuß­ball: Am 29.4.1978, am letz­ten Spiel­tag der Sai­son 1977/1978, ging Bo­rus­sia Dort­mund (BVB) in der in Düs­sel­dorf aus­ge­tra­ge­nen Par­tie ge­gen Bo­rus­sia Mön­chen­glad­bach 0:12 hoff­nungs­los un­ter. Die­ser ku­rio­se Kan­ter­sieg ver­bes­ser­te zwar er­heb­lich die Tor­dif­fe­renz der Mann­schaft aus Mön­chen­glad­bach, je­doch ging der fünf­fa­che Meis­ter nur als zwei­ter Sie­ger aus dem Fern­du­ell ge­gen den 1. FC Köln her­vor, der die Meis­ter­schaft für sich ent­schie­den hat. Das Spiel in Düs­sel­dorf ana­ly­sie­rend, kon­zen­trier­te man sich pri­mär auf die de­sas­trö­se Leis­tung der Dort­mun­der Spie­ler, die sich hät­ten re­gel­recht ab­schie­ßen las­sen und von der Ver­eins­füh­rung da­für mit ei­ner Geld­stra­fe von 2.000 DM be­straft wor­den sei­en. Die Le­ser er­fuh­ren zu­dem, dass der Übungs­lei­ter der Dort­mun­der – spä­te­rer Eu­ro­pa­meis­ter mit Grie­chen­land (2004) –, Ot­to Re­ha­gel (ge­bo­ren 1938), nach der Bla­ma­ge sei­ner Mann­schaft ent­las­sen wur­de[8].

1979 ge­wann Bo­rus­sia Mön­chen­glad­bach sou­ve­rän den UE­FA-Po­kal. Ein Jahr spä­ter stand sie er­neut im End­spiel die­ses Tur­niers. Die so­wje­ti­schen Jour­na­lis­ten und ih­re west­deut­schen Kol­le­gen lie­ßen sich von den letz­ten be­mer­kens­wer­ten Er­fol­gen des Bun­des­li­gis­ten aus Mön­chen­glad­bach nicht be­ein­dru­cken. Be­reits 1977 wa­ren sie der Mei­nung, die „gol­de­ne Är­a“ der Bo­rus­sia nä­he­re sich ih­rem En­de[9]. Drei Jah­re spä­ter hob man die schwa­che Leis­tung der Mann­schaft in der Bun­des­li­ga her­vor. Gleich­zei­tig wur­de auf ei­nen jun­gen ta­len­tier­ten Bo­rus­sia-Spie­ler hin­ge­wie­sen[10], der ei­ner der grö­ß­ten deut­schen Fuß­ball­stars der 1980er und 1990er Jah­re wer­den soll­te: Der jun­ge Mann hieß Lo­thar Mat­thä­us (ge­bo­ren 1961).

Hennes Weisweiler während eines Trainingslagers in Schöneck, Juli 1970. (Privatarchiv Heini Seith / CC BY-SA 3.0)

 

3. Mönchengladbach erobert Europa

Zwi­schen 1973 und 1980 be­stritt Bo­rus­sia Mön­chen­glad­bach ins­ge­samt fünf End­spie­le der eu­ro­päi­schen Po­ka­le: 1975 und 1979 hol­te sie den UE­FA-Po­kal. Be­reits 1971 zähl­te der Fut­bol-Chok­kej Bo­rus­sia zum „Fa­vo­ri­ten­kreis“ für den Sieg im Eu­ro­pa­po­kal der Lan­des­meis­ter[11]. Die so­wje­ti­sche Zeit­schrift zeig­te sich da­bei von den Leis­tun­gen der Bo­rus­sia in der Bun­des­li­ga und von ih­rem Auf­tritt im Eu­ro­pa­po­kal der Lan­des­meis­ter 1970 be­ein­druckt. Da­mals de­klas­sier­ten die Bo­rus­sen in der ers­ten Run­de den zy­pri­schen Meis­ter EPA Lar­na­ca FC und ver­lo­ren in der nächs­ten Run­de erst im Elf­me­ter­schie­ßen ge­gen das eng­li­sche Spit­zen­team FC Ever­ton[12]. Auch 1971 kam der west­deut­sche Meis­ter nicht über die zwei­te Po­kal­run­de hin­aus. Das so­wje­ti­sche Sport­ma­ga­zin be­rich­te­te aus­führ­lich über das dra­ma­ti­sche Du­ell zwi­schen Bo­rus­sia Mön­chen­glad­bach und In­ter Mai­land am 20.10.1971, das für viel Auf­re­gung auf dem Ra­sen und auch au­ßer­halb des Spiel­fel­des ge­sorgt hat­te. Im Hin­spiel in Mön­chen­glad­bach er­ziel­te Bo­rus­sia ei­nen ful­mi­nan­ten 7:1-Sieg, der die drü­cken­de Über­le­gen­heit der deut­schen Gast­ge­ber wi­der­spie­gel­te. Der Aus­lö­ser des Skan­dals war die Ver­let­zung des ita­lie­ni­schen Tor­jä­gers Ro­ber­to Bon­in­segna (ge­bo­ren 1943) in der ers­ten Halb­zeit: Von ei­ner aus dem Pu­bli­kum ge­wor­fe­nen Do­se ge­trof­fen, konn­te er das Spiel nicht fort­setz­ten. Der Tä­ter wur­de von der Po­li­zei zwar um­ge­hend fest­ge­nom­men, es kam dar­auf­hin je­doch auf den Rän­gen zu Tu­mul­ten zwi­schen deut­schen und ita­lie­ni­schen Fans. Die ita­lie­ni­sche Mann­schaft wur­de von den deut­schen Fans hem­mungs­los aus­ge­pfif­fen und ver­bal be­lei­digt. Wäh­rend­des­sen bau­te die Mön­chen­glad­ba­cher Foh­len­elf ih­re ver­dien­te Füh­rung aus und lag nach der ers­ten Halb­zeit mit 5:1 vor­ne. In der zwei­ten Halb­zeit kas­sier­te In­ter zwei wei­te­re To­re und schien so­mit die Chan­ce auf das Wei­ter­kom­men end­gül­tig ver­tan zu ha­ben. Nach dem „Büch­sen­wurf­spiel“ leg­ten die Mai­län­der bei der UE­FA Pro­test ein, in­dem sie die Ab­er­ken­nung des Er­geb­nis­ses und ei­ne tech­ni­sche Nie­der­la­ge für Bo­rus­sia for­der­ten[13].

Der Fut­bol-Chok­kej ver­folg­te die Af­fä­re und in­for­mier­te sei­ne Le­ser über die Ent­schei­dung der UE­FA, ein Wie­der­ho­lungs­spiel ein­zu­set­zen, ei­ne Stra­fe von 10.000 Schwei­zer Fran­ken ge­gen Bo­rus­sia zu ver­hän­gen[14] und au­ßer­dem den In­ter-Mit­tel­felds­spie­ler Ma­rio Cor­so (ge­bo­ren 1941) auf­grund sei­ner At­ta­cken ge­gen den Schieds­rich­ter bis En­de des Jah­res 1971 zu sper­ren[15].

Vor dem Wie­der­ho­lungs­spiel fand das Rück­spiel zwi­schen In­ter und Bo­rus­sia am 3. No­vem­ber in Mai­land statt. Die so­wje­ti­sche Zeit­schrift hob die be­son­de­ren Si­cher­heits­maß­nah­men in Mai­land her­vor: 1.350 Po­li­zis­ten hät­ten wäh­rend der Par­tie für Ord­nung ge­sorgt, im Sta­di­on sei­en kei­ne Ge­trän­ke ver­kauft wor­den und die ita­lie­ni­schen Pres­se ha­be die Ti­fo­si zur Mä­ßi­gung auf­ge­ru­fen. Der Fut­bol-Hok­kej be­merk­te, dass sich die­se Maß­nah­men als wir­kungs­voll er­wie­sen hät­ten: Au­ßer­halb des Spiel­fel­des sei­en kei­ne be­son­de­ren Vor­komm­nis­se re­gis­triert wor­den[16]. In­ter be­zwang Bo­rus­sia in die­sem tor­rei­chen Spiel mit 4:2.

Im Hin­blick auf das bri­san­te Wie­der­ho­lungs­spiel ging die UE­FA auf den Vor­schlag der Bo­rus­sia ein: Die deut­sche Mann­schaft woll­te die­ses Spiel nicht in Bern – wie In­ter dies ur­sprüng­lich ge­for­dert hat­te[17] – son­dern in West-Ber­lin aus­tra­gen las­sen, wo man mit ei­ner gro­ßen Un­ter­stüt­zung des Pu­bli­kums rech­nen konn­te. Die­se Un­ter­stüt­zung der deut­schen Fans be­nö­tig­te die Foh­len­elf an­ge­sichts ei­ner deut­li­chen Nie­der­la­ge in Mai­land.

Der Fut­bol-Chok­kej be­rich­te­te, dass auch bei die­sem Spiel zahl­rei­che Po­li­zis­ten ein­ge­setzt wor­den sei­en, wel­che er­neu­te Kra­wal­le ver­hin­dern soll­ten. Die Ita­lie­ner ver­brach­ten das Spiel über­wie­gend in der De­fen­si­ve und er­kämpf­ten mit Glück – Bo­rus­sia Mön­chen­glad­bach ver­schoss ei­nen Elf­me­ter – ein tor­lo­ses Re­mis. Das ein­zi­ge Mit­glied der ita­lie­ni­schen De­le­ga­ti­on, das an die­sem ers­ten Win­ter­tag des Jah­res 1971 wohl nicht aus­ge­las­sen ge­fei­ert hat, war der In­ter-Trai­ner Gio­van­ni In­ver­niz­zi (1931-2005): Wäh­rend sei­ne Mann­schaft um den Ein­zug in die Run­de der bes­ten Acht kämpf­te, wur­den aus sei­nem Ho­tel­zim­mer et­wa 600.000 Li­ra ge­stoh­len. Die so­wje­ti­sche Sport­zeit­schrift spot­te­te in die­sem Zu­sam­men­han­g  über die West­ber­li­ner Po­li­zei, die an­schei­nend mit dem Spiel über­for­dert ge­we­sen sei und die Si­cher­heit der ita­lie­ni­schen Gäs­te au­ßer­halb des Ra­sens nicht mehr ha­be ge­währ­leis­ten kön­nen, und wun­der­te sich über den ita­lie­ni­schen Übungs­lei­ter, der sorg­los sein Geld im Ho­tel­zim­mer ge­las­sen ha­be[18].

UEFA-Pokal-Finale am 21. Mai 1975 zwischen FC Twente und Borussia Mönchengladbach (1:5), Johan Zuidema nimmt den Ball volley, Foto: Hans Peters / Anefo. (Nationaal Archief / CC0 1.0)

 

Spä­tes­tens seit dem Skan­dal­spiel am 20.10.1971 ge­noss das Sta­di­on am Bö­ckel­berg in Mön­chen­glad­bach ei­nen schlech­ten Ruf in der So­wjet­uni­on und stand stell­ver­tre­tend für den in der UdSSR scharf kri­ti­sier­ten Hoo­li­ga­nis­mus im west­li­chen Fuß­ball. Am 11.4.1973 sorg­te die­se Are­na er­neut für ne­ga­ti­ve Schlag­zei­len: An die­sem Tag emp­fing Bo­rus­sia im ers­ten Halb­fi­na­le des UE­FA-Po­kals FC Twen­te En­sche­de aus den Nie­der­lan­den. Nach­dem Bo­rus­si­as Tor­jä­ger Jupp Heynckes (ge­bo­ren 1945) im Straf­raum beim Spiel­stand von 2:0 ge­foult wor­den war und ei­nen Elf­me­ter be­kam, muss­te die Po­li­zei an­grei­fen, um die Zu­sam­men­stö­ße zwi­schen deut­schen und hol­län­di­schen Fans auf den Rän­gen zu un­ter­bin­den. Der Fut­bol-Chok­kej be­merk­te in sei­nem Spiel­be­richt, dass Heynckes die­se un­er­war­te­te Spiel­un­ter­bre­chung ge­schickt ge­nutzt ha­be, um sich vor dem Straf­stoß zu er­ho­len und die­sen si­cher zu ver­wan­deln. Die Bo­rus­sia ha­be vor al­lem dank des über­ra­gen­den Spiel­ma­chers Gün­ter Net­zer sou­ve­rän ge­won­nen und den Weg ins End­spiel ge­gen den FC Li­ver­pool ge­eb­net[19]. In der zwei­ten Hälf­te der 1970er Jah­re ging die so­wje­ti­sche Zeit­schrift kaum noch auf das Sta­di­on in Mön­chen­glad­bach  ein, denn die Bo­rus­sia trug ih­re in­ter­na­tio­na­len Spie­le in den be­nach­bar­ten Städ­ten (vor al­lem in Düs­sel­dorf o­der auch in Duis­burg) aus, die über grö­ße­re Are­nen ver­füg­ten[20].

Die Spie­le ge­gen die eng­li­schen Mann­schaf­ten ver­lie­fen für die Foh­len­elf in den 1970er Jah­ren eher un­glück­lich. 1970 warf FC Eve­ton die Bo­rus­sen aus dem Eu­ro­pa­po­kal der Lan­des­meis­ter. 1973 schei­ter­te Bo­rus­sia am FC Li­ver­pool, wo­bei die deut­sche Mann­schaft die 3:0-Nie­der­la­ge im Hin­spiel am 10. Mai fast weg­ste­cken konn­te und nach der ers­ten Halb­zeit im Rück­spiel am 23. Mai mit 2:0 führ­te. Mehr konn­ten die Deut­schen al­ler­dings nicht er­rei­chen. Das zwei­te Spiel war aus der so­wje­ti­schen Sicht be­son­ders re­le­vant: Der da­mals bes­te so­wje­ti­sche Schieds­rich­ter Pa­vel N. Kazakov (1928-2012) lei­te­te sou­ve­rän die Par­tie in Mön­chen­glad­bach[21]. Am 25.5.1977 traf Bo­rus­sia Mön­chen­glad­bach im End­spiel des Eu­ro­pa­po­kals der Lan­des­meis­ter er­neut auf den eng­li­schen Meis­ter FC Li­ver­pool und ging mit 1:3 als zwei­ter Sie­ger ent­täuscht vom Ra­sen des Olym­pia­sta­di­ons in Rom[22].

In den 1970er Jah­ren stell­te der Fut­bol-Chok­kej Bo­rus­sia Mön­chen­glad­bach als ei­ne Mann­schaft dar, die durch vor­ein­ge­nom­me­ne Schieds­rich­ter in Eu­ro­pa-Po­ka­len oft be­nach­tei­ligt wer­de. Pa­vel Kazakovs fai­re Leis­tung im zwei­ten End­spiel des UE­FA-Po­kals (1973) sei für die Bo­rus­sen da­her eher ei­ne Aus­nah­me ge­we­sen: Im April 1974 kri­ti­sier­te das so­wje­ti­sche Sport­ma­ga­zin den spa­ni­schen Schieds­rich­ter Fran­co Mar­ti­nez, der das Rück­spiel zwi­schen der Bo­rus­sia und dem AC Mai­land im Halb­fi­na­le des Eu­ro­pa­po­kals der Po­kal­sie­ger am 24. April lei­te­te. Nach ei­ner 2:0-Nie­der­la­ge in Mai­land muss­ten die Bo­rus­sen in Düs­sel­dorf min­des­tens drei To­re er­zie­len, um das End­spiel zu er­rei­chen. Nach der ers­ten Halb­zeit führ­te Mön­chen­glad­bach mit 1:0. In der zwei­ten Halb­zeit ver­wei­ger­te Mar­ti­nez den Gast­ge­bern drei kla­re Elf­me­ter[23]. AC Mai­land er­reich­te das Fi­na­le in Rot­ter­dam und ver­lor dort am 8.5.1974 ge­gen den 1.FC Mag­de­burg aus der DDR.

Die Ver­tre­ter des 1. FC Mag­de­burg, der stell­ver­tre­ten­de Klub­vor­sit­zen­de Gün­ter Beh­ne und der Trai­ner Gün­ter Koncz­ak, be­ob­ach­te­ten das Rück­spiel zwi­schen der Bo­rus­sia und dem AC Mai­land am Rhein-Sta­di­on in Düs­sel­dorf. Das DDR-Sport­ma­ga­zin Die Neue Fuß­ball­wo­che be­ton­te in ih­rem Spiel­be­richt, dass die Gäs­te aus der DDR „ei­nen Ca­te­n­ac­cio in Per­fek­ti­on“ ge­se­hen hät­ten, der den Ita­lie­nern den Ein­zug ins End­spiel be­schert ha­be. Das Mön­chen­glad­ba­cher Spiel­kon­zept wur­de als „völ­lig un­taug­li­ch“ be­zeich­net. Die in der UdSSR her­vor­ge­ho­be­ne um­strit­te­ne Schieds­rich­ter-Leis­tung wur­de nicht ein­mal er­wähnt[24].

In der UdSSR und ins­be­son­de­re in der DDR schien man über den Aus­gang des Halb­fi­na­les zwi­schen der Bo­rus­sia und dem AC Mai­land nicht be­son­ders ent­täuscht ge­we­sen zu sein: Zwar hät­te der Sieg ei­ner DDR-Mann­schaft im Fi­na­le ei­nes Eu­ro­pa­po­kals über ein Spit­zen­team aus der BRD, zu­dem noch am 8. Mai, am 29. Jah­res­tag des Sie­ges über Hit­ler-Deutsch­land, ei­ne gro­ße pro­pa­gan­dis­ti­sche Be­deu­tung ha­ben kön­nen, be­fürch­te­te man je­doch ver­mut­lich ei­ne un­an­ge­neh­me Nie­der­la­ge im bri­san­ten deutsch-deut­schen Du­ell. 

Der Nie­der­län­der Leo­nar­dus van der Kroft (1929-2016) ent­wi­ckel­te sich am 17.3.1976 zum Feind­bild der Bo­rus­sia-Fans. Als Schieds­rich­ter lei­te­te er an je­nem Abend in der spa­ni­schen Haupt­stadt die zwei­te Vier­tel­fi­na­le-Par­tie des Eu­ro­pa­po­kals der Lan­des­meis­ter zwi­schen Re­al Ma­drid und der Bo­rus­sia. Das ers­te Spiel in Düs­sel­dorf hat­te 2:2-Un­ent­schie­den ge­en­det, wo­bei die Bo­rus­sen ei­ne 2:0-Füh­rung ge­gen die Gäs­te aus Spa­ni­en ver­spielt hat­ten. Nach der ers­ten Halb­zeit lag Bo­rus­sia in Ma­drid mit 1:0 in Füh­rung. Ein um­strit­te­ner Elf­me­ter für die Gast­ge­ber und zwei für die Gäs­te nicht an­er­kann­te To­re aber ent­schie­den die Par­tie[25]. Der spa­ni­sche Meis­ter mit dem ehe­ma­li­gen Bo­rus­sia-Idol Gün­ter Net­zer (ge­bo­ren 1944) mar­schier­te in das Halb­fi­na­le ein und ver­lor dort ge­gen FC Bay­ern Mün­chen. Van der Kroft wur­de von der UE­FA nach ei­nem Pro­test der Bo­rus­sia sus­pen­diert und duf­te – wie der Fut­bol-Hok­kej be­ton­te – kei­ne in­ter­na­tio­na­len Spie­le mehr lei­ten[26].

In den 1970er Jah­ren spiel­te Bo­rus­sia Mön­chen­glad­bach er­folg­reich in ver­schie­de­nen Eu­ro­pa-Po­ka­len. Zu ih­rem ers­ten und ein­zi­gen Du­ell mit ei­ner so­wje­ti­schen Mann­schaft kam es aber erst im April 1977: Im Eu­ro­pa­po­kal der Lan­des­meis­ter tra­fen sich Bo­rus­sia Mön­chen­glad­bach und der so­wje­ti­sche Meis­ter Dy­na­mo Kiev, der 1975 sei­ne ers­ten in­ter­na­tio­na­len Ti­tel (Eu­ro­pa­po­kal der Po­kal­sie­ger, UE­FA-Su­per­cup) ge­holt und 1977 im Vier­tel­fi­na­le den FC Bay­ern aus­ge­schal­tet hat­te.

Vor dem Du­ell zwi­schen Mön­chen­glad­bach und Kiev setz­te sich der Fut­bol-Hok­kej aus­führ­lich mit dem west­deut­schen Meis­ter aus­ein­an­der. Der Dy­na­mo-Geg­ner galt als „Spit­zen­klub aus ei­ner klei­nen Stadt“, de­ren Schlüs­sel­spie­ler Ber­ti Vogts (ge­bo­ren 1946) und Jupp Heynckes zwar be­reits den Ze­nit ih­rer Kar­rie­re über­schrit­ten hät­ten, in der DFB-Aus­wahl je­doch ei­ne Schlüs­sel­rol­le spiel­ten[27]. Der Chef­re­dak­teur Lev Fi­la­tov sprach von ei­nem „in­ter­es­san­ten Geg­ner“ mit den gro­ßen Stars wie Vogts, Heynckes oder Rai­ner Bon­hof (ge­bo­ren 1952), der im­stan­de sei, die Aus­wärts­spie­le zu ge­win­nen[28].

In sei­nem Spiel­be­richt über das Hin­spiel am 6.4.1977 be­ton­te Fi­la­tov, dass die Gäs­te vor 102.000 Zu­schau­ern im aus­ver­kauf­ten Zen­tral­sta­di­on in Kiev äu­ßerst vor­sich­tig, de­fen­siv und zu­rück­hal­tend ge­spielt und auf ein tor­lo­ses Re­mis ge­setzt hät­ten. Nur spo­ra­disch ha­be Bo­rus­sia ih­re blitz­schnel­len An­grif­fe durch­ge­führt. Die von Va­le­rij V. Lo­ba­novs­kij (1939-2002) ge­lei­te­te so­wje­ti­sche Mann­schaft ha­be das Spiel zwar ge­win­nen wol­len, sei je­doch nicht be­reit ge­we­sen, ri­si­ko­reich zu agie­ren. Das End­er­geb­nis 1:0 ha­be die spie­le­ri­sche Über­le­gen­heit von Dy­na­mo Kiev wi­der­ge­spie­gelt. Der denk­bar knap­pe Dy­na­mo-Sieg stimm­te Lev Fi­la­tov nicht ge­ra­de op­ti­mis­tisch: In Kiev ha­be man ei­nen Geg­ner ge­se­hen, der we­sent­lich stär­ker als die im Vier­tel­fi­na­le be­zwun­ge­nen FC Bay­ern sei. Der Aus­gang des Du­ells schien nach dem Hin­spiel wei­ter­hin of­fen zu sein[29].

Am 20. April er­leb­te der gro­ße Trai­ner Va­le­rij Lo­ba­novs­kij in Düs­sel­dorf ei­ne der bit­ters­ten Nie­der­la­gen sei­ner lan­gen Trai­ner­kar­rie­re: Die ers­te Halb­zeit ge­hör­te den Bo­rus­sen, die oh­ne den ver­let­zen Heynckes spiel­ten und vor 70.000 Zu­schau­ern in der 21. Mi­nu­te in Füh­rung gin­gen. Rai­ner Bon­hof ver­wan­del­te ei­nen Elf­me­ter, den der so­wje­ti­sche Tor­hü­ter Ev­ge­nij Ru­da­kov (1942-2011) ver­schul­det hat­te. Nach dem ers­ten Tor leis­te­te sich die für ih­re Si­cher­heit be­kann­te Dy­na­mo-Ab­wehr un­ge­wöhn­lich vie­le Feh­ler. Al­ler­dings ver­moch­ten die Gast­ge­ber nicht, ih­ren Vor­sprung aus­zu­bau­en. In der zwei­ten Halb­zeit be­stimm­ten die Gäs­te aus Kiev das Spiel und ver­pass­ten zahl­rei­che Chan­cen zum Aus­gleich. Statt­des­sen kas­sier­te Dy­na­mo acht Mi­nu­ten vor dem Schluss den zwei­ten Tref­fer, der das Aus­schei­den des so­wje­ti­schen Meis­ters end­gül­tig be­sie­gel­te[30].

Die Dy­na­mo-Nie­der­la­ge be­deu­te­te ei­nen schwe­ren Schlag für den so­wje­ti­schen Fuß­ball: Der Traum vom Sieg im wich­tigs­ten eu­ro­päi­schen Ver­eins­tur­nier ging nicht in Er­fül­lung. Vik­tor Po­nedel'nik (ge­bo­ren 1937), so­wje­ti­scher Na­tio­nal­spie­ler in den 1960er und re­nom­mier­ter Sport­re­por­ter in den 1970er Jah­ren, saß am 20. April im Düs­sel­dor­fer Rhein-Sta­di­on und sah mit an, wie die Mann­schaft sei­nes Freun­des Lo­ba­novs­kij den Ein­zug ins Fi­na­le ver­spiel­te. Po­nedel’nik war 1963 ins Blick­feld des so­wje­ti­schen KGB ge­ra­ten, der sein Ver­hal­ten wäh­rend ei­nes Gast­spie­les von Spar­tak Mos­kau in Is­ra­el miss­bil­lig­te. Da­mals trat er zu­sam­men mit sei­nen Kol­le­gen im is­rae­li­schen Fern­se­hen auf und sang von Ge­füh­len über­wäl­tigt die is­rae­li­sche Na­tio­nal­hym­ne mit. Nach dem Ab­bruch der di­plo­ma­ti­schen Be­zie­hun­gen zwi­schen der UdSSR und Is­ra­el nach dem Sechs­ta­ge­krieg (1967) wur­de ihm die­ser Vor­fall übel ge­nom­men[31]. Nach dem Ab­schluss sei­ner Spie­ler­kar­rie­re En­de der 1960er Jah­re durf­te Po­nedel'nik sechs Jah­re lang nicht ins Aus­land rei­sen; und die Auf­he­bung sei­nes Aus­rei­se­ver­bots ver­dank­te er nicht zu­letzt dem ein­fluss­rei­chen Trai­ner Lo­ba­novs­kij[32].

In sei­nem Spiel­be­richt für den Fut­bol-Chok­kej stell­te Po­nedel'nik fest, dass Dy­na­mo Kiev in der Bun­des­re­pu­blik Deutsch­land als „ei­ne der stärks­ten Mann­schaf­ten Eu­ro­pa­s“ ge­ach­tet wür­de. Viel Lob ern­te­te der „Welt­klas­se­spie­ler“ Rai­ner Bon­hof, der als bes­ter Bo­rus­sia-Spie­ler des Rück­spiels ge­schil­dert wur­de[33]. Lev Fi­la­tov mach­te das Du­ell zwi­schen „Eu­ro­pas Fuß­bal­ler des Jah­res 1975“ Oleg Blochin (ge­bo­ren 1952) und dem deut­schen Welt- und Eu­ro­pa­meis­ter Ber­ti Vogts zu ei­nem Schlüs­sel­mo­ment der Be­geg­nun­gen: Der von Vogts ge­schickt ge­deck­te so­wje­ti­sche Stür­mer ha­be kei­ne To­re er­zie­len kön­nen und zu­dem et­li­che Tor­chan­cen in Düs­sel­dorf ver­ge­ben. Vogts, der sich im End­spiel um die Welt­meis­ter­schaft (1974) ge­gen Jo­hann Cruyff (1947-2016) be­haup­tet ha­be und dem der Fut­bol-Chok­kej noch vor kur­zem das En­de sei­ner gro­ßen Spie­ler­kar­rie­re pro­phe­zeit hat­te, ha­be sei­ne Welt­klas­se in den Spie­len ge­gen Dy­na­mo Kiev er­neut ein­drucks­voll be­wie­sen[34].

En­de der 1970er und An­fang der 1980er Jah­re be­rich­te­te der Fut­bol-Chok­kej wei­ter­hin über Bo­rus­sia aus Mön­chen­glad­bach: Das deut­sche Team spiel­te zwar nicht mehr ge­gen die Mann­schaf­ten aus der So­wjet­uni­on, mach­te aber durch sei­ne Leis­tun­gen im UE­FA-Po­kal (Po­kal­sie­ger 1979, Po­kal­fi­na­list 1980) auf sich auf­merk­sam[35].

4. Borussia Mönchengladbach als Meisterwerk Hennes Weisweilers

Bo­rus­sia Mön­chen­glad­bach der ers­ten Hälf­te der 1970er Jah­re galt als ein Meis­ter­werk des her­aus­ra­gen­den Trai­ners Hen­nes Weis­wei­ler, der die­ses Team 1964 über­nom­men, zu gro­ßen na­tio­na­len und in­ter­na­tio­na­len Er­fol­gen ge­führt und zahl­rei­che gro­ße Spie­ler der DFB-Aus­wahl (Net­zer, Vogts, Bon­hof un­ter an­de­rem) aus­ge­bil­det ha­be[36]. 1975 schwärm­te der so­wje­ti­sche Trai­ner Va­len­tin Ni­ko­laev von Weis­wei­ler, dem ehe­ma­li­gen As­sis­ten­ten des Bun­des­trai­ners Sepp Her­ber­ger (1897-1977) und dem Do­zen­ten an der Deut­schen Sport­hoch­schu­le in Köln: Er las­se sein sta­bi­les, tech­nisch und tak­tisch aus­ge­zeich­net vor­be­rei­te­tes Team ei­nen at­trak­ti­ven of­fen­si­ven Fuß­ball spie­len und wen­de da­bei fort­schritt­li­che wis­sen­schaft­lich ge­prüf­te Trai­nings­me­tho­den an[37]. Weis­wei­ler wur­de vom Fut­bol-Chok­kej au­ßer­dem als ein am­bi­tio­nier­ter, selbst­si­che­rer und manch­mal über­heb­li­cher Übungs­lei­ter dar­ge­stellt. An die­ser Stel­le kann ex­em­pla­risch auf die Be­richt­er­stat­tung des so­wje­ti­schen Sport­ma­ga­zins über das Eu­ro­pa­po­kal­vier­tel­fi­nal­spiel der Lan­des­meis­ter 1973/1974 hin­ge­wie­sen wer­den: Im Hin­spiel ge­wann Bo­rus­sia aus­wärts 2:0 ge­gen den nord­iri­schen Au­ßen­sei­ter Glen­to­ran FC. Der Fut­bol-Chok­kej be­merk­te, dass Weis­wei­ler – über­zeugt vom Ge­samt­sieg sei­nes Teams – dem Rück­spiel am 20. April in Mön­chen­glad­bach fern­ge­blie­ben sei. Er sei zu­hau­se ge­blie­ben und ha­be sich die Über­tra­gung des Spiels zwi­schen den bei­den po­ten­ti­el­len Halb­fi­nal­geg­nern sei­ner Mann­schaft, zwi­schen Sporting Lis­sa­bon und dem FC Zü­rich, an­ge­schaut[38]. Tat­säch­lich konn­te sich Weis­wei­ler die­ses un­kon­ven­tio­nel­le Ver­hal­ten leis­ten: Die Nord­iren hat­ten im Rück­spiel kei­ne Chan­cen und ver­ab­schie­de­ten sich mit ei­ner 0:5-Nie­der­la­ge aus dem Wett­be­werb. Im Halb­fi­na­le er­war­te­te die Bo­rus­sen je­doch nicht Sporting, das den FC Zü­rich be­zwun­gen hat­te, son­dern AC Mai­land. In ei­nem Spiel­be­richt nach dem Hin­spiel in Mai­land (2:0 für die Gast­ge­ber) zi­tier­te die so­wje­ti­sche Zeit­schrift Weis­wei­ler, der zu­ge­ben muss­te, er ha­be den Geg­ner, der sich in der Se­rie A eher schwach prä­sen­tie­re, un­ter­schätzt[39].

Weis­wei­lers Ab­schied von Bo­rus­sia nach elf er­folg­rei­chen Jah­ren wur­de vom Fut­bol-Chok­kej 1975 re­gis­triert: Durch sei­nen Wech­sel zum spa­ni­schen Spit­zen­klub FC Bar­ce­lo­na ha­be Weis­wei­ler sei­ne fi­nan­zi­el­le La­ge er­heb­lich ver­bes­sert. Sein Nach­fol­ger Udo Lat­tek wer­de dem of­fen­si­ven Spiel­stil Weis­wei­lers treu blei­ben[40].

Die so­wje­ti­sche Zeit­schrift ver­folg­te die Kar­rie­re von Udo Lat­tek (1935-2015): Es wur­de et­wa über sei­ne Ent­las­sung beim FC Bay­ern 1975 be­rich­tet[41]. Bis zum Du­ell ge­gen Dy­na­mo Kiev im Eu­ro­pa­po­kal der Lan­des­meis­ter blieb er al­ler­dings im Schat­ten sei­nes re­nom­mier­ten Vor­gän­gers Weis­wei­ler[42]. Erst der Sieg über Dy­na­mo Kiev (1977) brach­te ihm in der So­wjet­uni­on Re­spekt und An­er­ken­nung ein. So em­pör­te sich der Fut­bol-Chok­kej über ei­ne „Ver­schwö­run­g“ un­zu­frie­de­ner Bo­rus­sia-Spie­ler, die am 24.3.1979 zu­hau­se halb­her­zig ge­gen den FC Bay­ern ge­spielt, 1:7 ver­lo­ren und die vor­ge­zo­ge­ne Be­ur­lau­bung des Übungs­lei­ters er­zwun­gen hät­ten[43]. Dem Nach­fol­ger Lat­teks, der Ver­ein­si­ko­ne Jupp Heynckes, trau­te man den Durch­bruch nicht zu: Man er­war­te­te eher ei­nen ra­san­ten Ab­stieg der Mann­schaft, die ih­re wich­tigs­ten Spie­ler (Vogts, Bon­hof, Her­bert „Ha­cki“ Wim­mer, Al­lan Si­mon­s­en un­ter an­de­rem) ver­lo­ren und zu­dem ei­nen un­er­fah­re­nen Übungs­lei­ter ver­pflich­tet ha­be, der nun sei­ne frü­he­ren Mit­spie­ler trai­nie­ren sol­le[44].

Im Ge­gen­satz zu Lat­tek oder Heynckes gal­ten der Na­tio­nal­trai­ner Hel­mut Schön (1915-1996) und ins­be­son­de­re Hen­nes Weis­wei­ler als zwei der bes­ten Trai­ner Eu­ro­pas. Weis­wei­lers Rück­kehr in die Bun­des­li­ga (1976) und sei­ne west­deut­sche Meis­ter­schaft mit dem 1. FC Köln (1978) wur­den wohl­wol­lend zum Kennt­nis ge­nom­men[45]. Als Meis­ter-Trai­ner ver­öf­fent­lich­te Weis­wei­ler im Mai 1979 ei­nen Gast­bei­trag im Fut­bol-Chok­kej, in dem er sei­ne Spiel­phi­lo­so­phie poin­tiert er­klär­te: In sei­ner Bo­rus­sia-Zeit ha­be er sich kei­ne ge­stan­de­nen teu­ren Spie­ler leis­ten kön­nen. Aus der Not ha­be er auf jun­ge Ta­len­te ge­setzt, die sei­nen of­fen­si­ven Fuß­ball ver­in­ner­licht hät­ten. Er ha­be im­mer nach psy­cho­lo­gisch und mo­ra­lisch fes­ten, ziel­stre­bi­gen, fin­di­gen, ein­falls­rei­chen und kom­pro­miss­lo­sen Fuß­bal­lern ge­sucht, die das Spiel hät­ten le­sen und mit dem Ball um­ge­hen kön­nen so­wie auch in 1-ge­gen-1-Si­tua­ti­on gin­gen. Ein be­son­de­res Au­gen­merk ha­be er da­bei auf die Tor­jä­ger ge­legt[46].

5. Als Berti Vogts nach Georgien kam

In den 1970er Jah­ren be­schäf­tig­te sich die so­wje­ti­sche Sport­zeit­schrift mit zahl­rei­chen her­aus­ra­gen­den Spie­lern aus West­deutsch­land: Franz Be­cken­bau­er (ge­bo­ren 1945) und Gerd Mül­ler (ge­bo­ren 1945) ge­nos­sen den Ruf der grö­ß­ten Stars ih­res Jahr­zehnts[47]. Mit sei­nen To­ren ließ Mül­ler den Bo­rus­sia-Stür­mer Jupp Heynckes hin­ter sich. Heynckes galt als „zweit­bes­ter“ west­deut­scher Tor­jä­ger[48] und wur­de so­gar als „Halb-Mül­ler“[49] be­zeich­net, der ei­nen er­heb­li­chen Bei­trag zu den in­ter­na­tio­na­len Er­fol­gen sei­nes Ver­eins ge­leis­tet ha­be[50].

Gün­ter Net­zer – der bes­ter Bo­rus­sia-Spie­ler zu An­fang der 1970er Jah­re – wur­de als ein tem­pe­ra­ment­vol­ler „Künst­ler“ und her­aus­ra­gen­der „Welt­klas­se­spie­ler“ cha­rak­te­ri­siert[51]. Mit sei­nen Leis­tun­gen ha­be er die Aus­zeich­nung „Eu­ro­pas Fuß­bal­ler des Jah­res 1972“ ver­dient: der vom Fran­ce Foot­ball ver­lie­he­ne „bal­lon d’or“ al­ler­dings ging an Franz Be­cken­bau­er, der zwei Stim­men mehr als sei­ne Na­tio­nal­mann­schafts­kol­le­gen Net­zer und Mül­ler er­hal­ten ha­be[52]. Im Fall Net­zer sprach die so­wje­ti­sche Sport­pres­se von ei­nem Aus­nah­me­ta­lent, des­sen Kar­rie­re in der Na­tio­nal­mann­schaft eher un­glück­lich ver­lau­fe: Die Welt­meis­ter­schaft in Me­xi­ko (1970) ha­be er auf­grund sei­ner Ver­let­zung ver­passt. Er sei je­doch nach Me­xi­ko ge­fah­ren und ha­be dort als Ex­per­te für die in der UdSSR hef­tig an­ge­grif­fe­ne Bild-Zei­tung ge­ar­bei­tet. In die­sem Bou­le­vard-Blatt ha­be Net­zer die Leis­tun­gen des WM-Drit­ten aus der BRD scharf kri­ti­siert[53]. In der DFB-Aus­wahl, die 1974 die Heim­welt­meis­ter­schaft ge­won­nen hat­te, ha­be Net­zer kei­ne wich­ti­ge Rol­le ge­spielt. Der Mit­tel­feld­spie­ler – da­mals bei Re­al Ma­drid un­ter Ver­trag – sei in ei­ner schlech­ten Ver­fas­sung ge­we­sen und ha­be vor al­lem die Re­ser­ve­bank ge­drückt[54]. Im Hin­blick auf die Grup­pen­pha­se der Welt­meis­ter­schaft wur­de „die grö­ß­te Sen­sa­ti­on der Vor­run­de“, der Sieg der DDR-Aus­wahl im Spiel ge­gen die WM-Gast­ge­ber (1:0) in Ham­burg, ge­fei­ert. Im Spiel­be­richt über die­se denk­wür­di­ge Par­tie woll­te der Fut­bol-Chok­kej sei­ne Freu­de über den gro­ßen Er­folg des „so­zia­lis­ti­schen Bru­der­lan­des“ nicht ver­heim­li­chen und zi­tier­te zu­frie­den Gün­ter Net­zer. Net­zer war in der zwei­ten Halb­zeit nach lau­ten For­de­run­gen der Ham­bur­ger Zu­schau­er ge­gen Wolf­gang Over­ath (ge­bo­ren 1943) ein­ge­wech­selt wor­den, konn­te aber kei­ne Im­pul­se set­zen. Nach dem Spiel ha­be er kein Blatt vor den Mund ge­nom­men, in sei­ner ty­pi­schen Ma­nier über die ent­täu­schen­de Leis­tung sei­nes Teams ge­spro­chen und zu­dem kei­nen Hehl dar­aus ge­macht, dass die DDR ver­dient ge­won­nen ha­be. Um im Tur­nier wei­ter zu kom­men, müs­se die DFB-Aus­wahl ihr Spiel er­heb­lich ver­bes­sern[55].

Net­zers schlech­te Form bei der WM 1974 wur­de auch im be­reits er­wähn­ten Bei­trag des so­wje­ti­schen Trai­ners Va­len­tin Ni­ko­laev im Ja­nu­ar 1975 auf­ge­grif­fen. Ni­ko­laev zi­tier­te Net­zers ehe­ma­li­gen Ver­eins­trai­ner Hen­nes Weis­wei­ler, der den Wech­sel sei­nes wich­tigs­ten Spie­ler zu Re­al miss­bil­lig­te und nun im Ge­spräch mit dem so­wje­ti­schen Kol­le­gen – die Be­deu­tung sei­ner ei­ge­nen Trai­nings­me­tho­den be­to­nend – be­merk­te, Net­zer sei des­halb nicht der wich­tigs­te Spie­ler im BRD-Team ge­wor­den, weil er das phy­si­sche Trai­ning wäh­rend der Sai­son in Spa­ni­en ver­nach­läs­sigt und den ent­stan­de­nen Rück­stand nicht mehr ha­be nach­ho­len kön­nen[56]. Net­zer galt als ei­gen­sin­nig, am­bi­tio­niert, „äu­ßerst selbst­ver­lieb­t“ und „über­emp­find­li­ch“. Aber sei­ne Nei­gung zur Im­pro­vi­sa­ti­on und sei­ne Fä­hig­keit zu her­aus­ra­gen­den Straf­stö­ßen und bril­lan­ten Vor­la­gen wur­den ge­wür­digt. Man be­dau­er­te so­gar, dass die UdSSR nicht über Fuß­bal­ler mit sol­chen Qua­li­tä­ten ver­fü­ge[57].

Be­mer­kens­wert ist, dass sich der Fut­bol-Chok­kej nicht nur mit dem Fuß­ball­pro­fi Net­zer, son­dern auch mit dem Men­schen Net­zer be­schäf­tig­te. Die so­wje­ti­schen Le­ser er­fuh­ren, dass der von Ver­let­zun­gen ge­plag­te „Fuß­bal­ler Deutsch­lands der Jah­re 1972 und 1973“[58] ein pro­fit­ori­en­tier­ter Ge­schäfts­mann sei, der in der ers­ten Hälf­te der 1970er Jah­re die Bo­rus­sia-Sta­di­on­zei­tung Foh­len­Echo her­aus­ge­ge­ben ha­be. Net­zer ha­be zwar selbst kei­ne Ar­ti­kel ge­schrie­ben, je­doch ha­be er in ers­ter Li­nie mit An­zei­gen in die­sem in Mön­chen­glad­bach be­lieb­ten Ma­ga­zin Geld ver­dient[59]. 1973 wur­de be­rich­tet, dass Net­zer mu­si­ka­lisch be­gabt sei. Sein Pri­vat­le­ben aber ha­be er noch zu re­geln; ei­ne Le­bens­part­ne­rin ha­be der Fuß­bal­ler noch nicht ge­fun­den. So­gar Net­zers Mar­ken­zei­chen – sei­ne Fri­sur, die dem in der kon­ser­va­ti­ven So­wjet­uni­on pro­pa­gier­ten Haar­mo­de­stil zu­wi­der­lief – wur­de wohl­wol­lend er­wähnt: Man be­merk­te, dass der selbst­iro­ni­sche west­deut­sche Spie­ler lan­ges Haar nach sei­nen ei­ge­nen Be­kun­dun­gen tra­ge, weil er kein schö­nes Ge­sicht ha­be. Die ge­wähl­te Fri­sur ma­che ihn at­trak­ti­ver[60].

Net­zers spek­ta­ku­lä­rer Wech­sel zu Re­al Ma­drid wur­de in der So­wjet­uni­on eher ne­ga­tiv wahr­ge­nom­men: Noch 1972 zi­tier­te der Fut­bol-Chok­kej-Re­dak­teur Oleg Kuče­ren­ko den Na­tio­nal­spie­ler, der ei­nen Ver­eins­wech­sel aus­ge­schlos­sen und be­tont ha­be, er wer­de Bo­rus­sia Mön­chen­glad­bach, in der er sich op­ti­mal ent­fal­ten kön­ne, nicht ver­las­sen[61]. Nur ein Jahr spä­ter ging Gün­ter Net­zer je­doch nach Ma­drid, wo er ei­nen deut­lich bes­ser do­tier­ten Ver­trag er­hal­ten ha­be, wäh­rend ei­ne sat­te Ab­lö­se von et­wa 600.000 DM in die Kas­se von Bo­rus­sia ge­flos­sen sei[62]. In den nächs­ten Jah­ren ho­ben Karl-Heinz Hei­mann und wei­te­re Ki­cker-Re­dak­teu­re im Fut­bol-Chok­kej über­ein­stim­mend her­vor, dass Net­zer 1973 ei­ne fal­sche Ent­schei­dung ge­trof­fen ha­be: Sei­ne Kar­rie­re sei in Ma­drid ins Sto­cken ge­ra­ten[63]. An sei­ne frü­he­ren Leis­tun­gen in der Na­tio­nal­mann­schaft ha­be er nicht mehr an­knüp­fen kön­nen[64].

Spä­tes­tens nach sei­nem Wech­sel zu Re­al wur­de Net­zer zum Sym­bol der Kom­mer­zia­li­sie­rung des west­li­chen Pro­fi­fuß­balls: Vom Ver­kauf von Spie­lern, teu­ren Trans­fers und der Ver­pflich­tung von „Lands­knech­ten“ (der so­wje­ti­scher Ter­mi­nus für Le­gio­nä­re)[65] hielt man in der so­zia­lis­ti­schen So­wjet­uni­on nicht viel. Aus die­sem Grund ist es nicht über­ra­schend, dass sich die so­wje­ti­sche Fuß­ball­zeit­schrift über die ent­täu­schen­de Leis­tung von Re­al Ma­drid im UE­FA-Po­kal 1973/74 freu­te: Die fa­vo­ri­sier­ten Spa­ni­er über­stan­den nicht ein­mal die ers­te Po­kal­run­de, wäh­rend die nach dem Ab­gang ih­res Schlüs­sel­spie­lers Net­zer ge­schwäch­te Bo­rus­sia Mön­chen­glad­bach ih­ren Spit­zen­platz in der Bun­des­li­ga ver­tei­dig­te und zu­dem das Vier­tel­fi­na­le des Eu­ro­pa­po­kals der Po­kal­sie­ger 1973/1974 er­reich­te. In die­ser Kon­stel­la­ti­on sah man die Be­stä­ti­gung ei­ner al­ten Fuß­ball­weis­heit: Geld al­lein schie­ßt kei­ne To­re und brin­ge nicht au­to­ma­tisch Sie­ge[66].

Die Pu­bli­ka­tio­nen über Net­zers Wech­sel ver­an­schau­li­chen ei­ne für den Fut­bol-Chok­kej der 1970er Jah­re cha­rak­te­ris­ti­sche ne­ga­ti­ve Be­richt­er­stat­tung über Re­al Ma­drid. Sie soll im Kon­text der so­wje­ti­schen Aus­ein­an­der­set­zung mit der Fran­co-Dik­ta­tur in Spa­ni­en be­trach­tet und kann nicht zu­letzt durch den Ein­fluss der eher Re­al-kri­ti­schen west­deut­schen Zeit­schrift Ki­cker er­klärt wer­den: So wur­de den Spa­ni­ern zum Bei­spiel übel ge­nom­men, der Na­tio­nal­mann­schafts­kar­rie­re von Re­al-Spie­lern Gün­ter Net­zer und Paul Breit­ner (ge­bo­ren 1951) so­wie ih­res dä­ni­schen Kol­le­gen Hen­ning Jen­sen (ge­bo­ren 1949) im We­ge zu ste­hen[67]. Bo­rus­sia Mön­chen­glad­bach wur­de als Op­fer des rei­chen spa­ni­schen Klubs dar­ge­stellt, der die bes­ten Spie­ler des Bun­des­li­gis­ten sys­te­ma­tisch ab­ge­kauft ha­be: zu­nächst Net­zer und spä­ter Jen­sen und Uli Stie­li­ke (ge­bo­ren 1954)[68]. Mit­te 1977 spe­ku­lier­te man zu­dem über den be­vor­ste­hen­den Wech­sel nach Spa­ni­en von Rai­ner Bon­hof, der das so­wje­ti­sche Pu­bli­kum auf sich in den Spie­len ge­gen Dy­na­mo Kiev kurz zu­vor auf­merk­sam ge­macht hat­te[69]. Tat­säch­lich spiel­te Bon­hof zwi­schen 1980 und 1983 in der Pri­me­ra Di­vi­sión, al­ler­dings nicht für Re­al, son­dern für den FC Va­len­cia.

In den 1970er Jah­ren zeig­te der Fut­bol-Chok­kej, dass Gün­ter Net­zer nicht der ein­zi­ge west­deut­sche Welt­klas­se­spie­ler war, der be­strebt war, sei­ne fi­nan­zi­el­le La­ge zu ver­bes­sern: So be­rich­te­te die so­wje­ti­sche Fuß­ball­zeit­schrift im Vor­feld der Welt­meis­ter­schaft in Ar­gen­ti­ni­en (1978) über den Ka­pi­tän der west­deut­schen Na­tio­nal­mann­schaft Ber­ti Vogts, der sat­te Prä­mi­en für sei­ne Mit­spie­ler beim DFB aus­ge­han­delt ha­be[70]. Vogts, der im Ge­gen­satz zu Net­zer sei­ne gan­ze Kar­rie­re bei Bo­rus­sia Mön­chen­glad­bach ver­brach­te, galt als ei­ner der welt­weit bes­ten Ver­tei­di­ger der 1970er Jah­re. Die­ser zu­ver­läs­si­ge und ro­bus­te Spie­ler, der nicht sel­ten gel­be Kar­ten be­kom­men ha­be[71], gab im April 1977 – am Vor­abend des Du­ells zwi­schen Bo­rus­sia Mön­chen­glad­bach und Dy­na­mo Kiev – der so­wje­ti­schen Fuß­ball­zeit­schrift ein In­ter­view. In die­sem In­ter­view schil­der­te der „west­deut­sche Fuß­bal­ler“ der Jah­re 1971 und spä­ter auch 1979 sei­nen be­mer­kens­wer­ten Le­bens­weg von ei­nem fuß­ball­be­ses­se­nen Wai­sen­kind im Nach­kriegs­deutsch­land zum Welt­klas­se­ver­tei­di­ger und Ka­pi­tän der DFB-Aus­wahl[72].

1979 war ein be­son­de­res Jahr im Le­ben der Welt­meis­ter 1974 Ber­ti Vogts und Gün­ter Net­zer: Als Ma­na­ger leis­te­te Net­zer ei­nen er­heb­li­chen Bei­trag zum Tri­umph des Ham­bur­ger SV in der Bun­des­li­ga[73]. Vogts be­en­de­te in die­sem Jahr sei­ne Spie­ler­kar­rie­re und heu­er­te als Trai­ner bei dem DFB an. 1979 fand zu­dem das Ab­schieds­spiel von Ber­ti Vogts statt, über das auch in der UdSSR be­rich­tet wur­de: Die Fut­bol-Chok­kej-Le­ser er­fuh­ren, dass Vogts die west­deut­sche Na­tio­nal­mann­schaft im letz­ten Spiel sei­ner Kar­rie­re ge­gen ei­ne Aus­wahl von Welt­stars auf­tre­ten las­se wol­le, wäh­rend Gerd Mül­ler – der bes­te Tor­jä­ger der Bun­des­li­ga be­zie­hungs­wei­se der deut­schen Na­tio­nal­mann­schaft und aus so­wje­ti­scher Sicht ein deut­lich be­deu­ten­de­rer Spie­ler als sein Kol­le­ge Vogts –  ein we­sent­lich be­schei­de­ne­res Ab­schieds­spiel pla­ne: ei­ne Par­tie zwi­schen dem FC Bay­ern und ei­ner DFB-Aus­wahl[74]. Vogts am­bi­tio­nier­ter Plan platz­te: Bei sei­nem Ab­schieds­spiel ver­lor Bo­rus­sia Mön­chen­glad­bach ge­gen ei­ne Aus­wahl west­deut­scher Fuß­bal­ler mit 2:6[75].

Als DFB-Trai­ner un­ter­nahm Ber­ti Vogts 1979 ei­ne un­ge­wöhn­li­che Rei­se in die So­wjet­uni­on: Wäh­rend die deut­sche Na­tio­nal­mann­schaft ein Freund­schafts­spiel ge­gen die UdSSR in der ge­or­gi­schen Haupt­stadt Tbi­li­si ab­sol­vier­te, spiel­te die von Vogts be­treu­te U21-Aus­wahl in Sta­lins Hei­mat­stadt Go­ri ge­gen das so­wje­ti­sche U21-Team[76]. Der jun­ge Trai­ner hät­te sich da­mals wohl nicht vor­stel­len kön­nen, dass er – fast 30 Jah­re spä­ter – als ei­ner der bes­ten Trai­ner der 1990er Jah­re in den Kau­ka­sus zu­rück­keh­ren wür­de, um sei­ne be­acht­li­che Trai­ner­kar­rie­re als Na­tio­nal­trai­ner Aser­bai­dschans aus­zu­klin­gen las­sen.

Ab­schlie­ßend soll auf die „dä­ni­schen Lands­knech­te“ von Bo­rus­sia Mön­chen­glad­bach hin­ge­wie­sen wer­den, über die der Fut­bol-Chok­kej spo­ra­disch be­rich­te­te. Ge­meint wa­ren die 1972 ver­pflich­te­ten Na­tio­nal­spie­ler Dä­ne­marks Hen­ning Jen­sen und Al­lan Si­mon­s­en. Wäh­rend Jen­sen 1976 zu Re­al ging, dort Gün­ter Net­zer be­erb­te und spä­ter die spa­ni­sche Pri­me­ra Di­vi­sión we­gen ih­rer gro­ben Spiel­wei­se scharf kri­ti­sier­te[77], blieb Si­mon­s­en bis zu sei­nem Wech­sel zum FC Bar­ce­lo­na (1979) in Mön­chen­glad­bach. Als ers­ter Bo­rus­sia-Spie­ler über­haupt wur­de er 1978 über­ra­schend als bes­ter Spie­ler Eu­ro­pas mit dem „gol­de­nen Bal­l“ aus­ge­zeich­net[78].

6. Zusammenfassung

Wil­ly Brandts Ost­po­li­tik und die ab­zeich­nen­de An­näh­rung zwi­schen der BRD und der So­wjet­uni­on präg­ten die so­wje­ti­sche Be­richt­er­stat­tung über West­deutsch­land und auch über den Fuß­ball in die­sem Land. Vom Nürn­ber­ger Ki­cker-Sport­ma­ga­zin er­heb­lich be­ein­flusst, ver­mit­tel­te die füh­ren­de so­wje­ti­sche Sport­zeit­schrift Fut­bol-Chok­kej in ih­ren Pu­bli­ka­tio­nen über Bo­rus­sia Mön­chen­glad­bach in den 1970er Jah­ren ein wohl­wol­len­des Bild des sym­pa­thi­schen Ver­eins aus der west­deut­schen Pro­vinz, der – pro­fes­sio­nell ge­führt und mit be­schei­de­nen fi­nan­zi­el­len Mit­teln aus­ge­stat­tet – sich an der Spit­ze des west­deut­schen und eu­ro­päi­schen Ver­eins­fuß­balls eta­blier­te und meh­re­re na­tio­na­le und in­ter­na­tio­na­le Ti­tel hol­te. Ins­be­son­de­re wur­de die Leis­tung des Meis­ter­trai­ners Hen­nes Weis­wei­ler ge­wür­digt, der mit sei­nem at­trak­ti­ven of­fen­si­ven Fuß­ball Eu­ro­pa be­geis­ter­te und zahl­rei­che her­aus­ra­gen­de Spie­le aus­bil­de­te. Oh­ne die Bo­rus­sia-Stars Gün­ter Net­zer, Ber­ti Vogts, Jupp Heynckes oder Rai­ner Bon­hof wä­ren die ful­mi­nan­ten Er­fol­ge der west­deut­schen Na­tio­nal­mann­schaft nicht zu­stan­de ge­kom­men. Im Ge­gen­satz et­wa zu Re­al Ma­drid ver­kör­per­te die Foh­len­elf aus Mön­chen­glad­bach die bes­se­ren Sei­ten des west­li­chen Fuß­balls. Sei­ne schlech­te­ren Sei­ten – Ver­kauf von Spie­lern, Aus­schrei­tun­gen von Fans – wur­de eben­falls am Bei­spiel des Ver­eins aus Mön­chen­glad­bach be­leuch­tet.

In der UdSSR blieb Bo­rus­sia Mön­chen­glad­bach nicht nur als ei­ne der wich­tigs­ten eu­ro­päi­schen Ver­eins­mann­schaf­ten der 1970er Jah­re in Er­in­ne­rung. 1977 zer­stör­ten Vogts, Bon­hof, Heynckes und ih­re Kol­le­gen den Traum von Mil­lio­nen so­wje­ti­scher Fuß­ball­fans. Die von Udo Lat­tek ge­führ­te und von Schieds­rich­tern sys­te­ma­tisch be­nach­tei­lig­te Bo­rus­sia ver­sperr­te dem so­wje­ti­schen Meis­ter Dy­na­mo Kiev den Weg ins End­spiel des Eu­ro­pa­po­kals der Lan­des­meis­ter. Wäh­rend Bo­rus­sia Mön­chen­glad­bach zwei­mal das Fi­na­le des Eu­ro­pa­po­kals der Lan­des­meis­ter er­reich­te, blieb die­ser Er­folg den so­wje­ti­schen Mann­schaf­ten ver­sagt. 

Günther Netzer während einer Autogrammstunde, 1975, Foto: Friedrich Magnussen. (Stadtarchiv Kiel / CC BY-SA 3.0 DE)

 
Anmerkungen
Zitationshinweis

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Friedman, Alexander, „Warum trägt Günter Netzer langes Haaг?“ Die sowjetische Sportzeitschrift Futbol-Chokkej über Borussia Mönchengladbach, in: Internetportal Rheinische Geschichte, abgerufen unter: https://www.rheinische-geschichte.lvr.de/Epochen-und-Themen/Themen/warum-traegt-guenter-netzer-langes-haa%25D0%25B3-die-sowjetische-sportzeitschrift-futbol-chokkej-ueber-borussia-moenchengladbach/DE-2086/lido/5de50426d2ea83.53024332 (abgerufen am 12.10.2024)