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Der Kölner Priester und Jesuit Heinrich Pesch, Theologe, Sozialphilosoph und Wirtschaftswissenschaftler, war ein bahnbrechender Systematiker der modernen Katholischen Soziallehre.
Heinrich Pesch wurde am 17.9.1854 in Köln als Sohn des Schneidermeisters Johannes Pesch und seiner Frau Anne-Maria, geborene Stüttgen geboren und zwei Tage später in der Kölner Kirche St. Maria in der Kupfergasse getauft. Vier Jahre später zog die Familie nach Bonn um. Mit 18 Jahren legte er dort am Königlichen Gymnasium in der Bonngasse seine Reifeprüfung ab und immatrikulierte sich am 17.10.1872 an der Bonner Universität, um Theologie zu studieren.. Bereits nach einem Semester wechselte er in die juristische Fakultät über. Die Ursache dafür lag, nach Ansicht seines Biographen Franz H. Mueller (1900-1988), einem nach der Machtergreifung der Nationalsozialisten 1935 in die USA emigrierten Kölner Wirtschaftswissenschaftler, „höchstwahrscheinlich" darin, „daß die Mehrzahl der Mitglieder der Bonner Katholischen Theologischen Fakultät (...) zum Alt-Katholizismus übergetreten" war und somit „dem kirchentreuen Pesch nichts mehr zu bieten" hatte.
Die Eintragungen in sein Studienbuch „zeichnen ihn als besonders fleißigen und gewissenhaften Studenten der Rechte" aus. Aber nicht weniger interessierte ihn die Sozialphilosophie, die er damals bei dem später berühmt gewordenen Bonner Privatdozenten Georg von Hertling (1843-1919) hörte. Der seit 1882 in München lehrende Sozialphilosoph war 1876 Mitbegründer der Görres-Gesellschaft, wurde 1912 bayerischer „Ministerpräsident" und gegen Ende des Ersten Weltkrieges für elf Monate deutscher Reichskanzler. Von Hertling hatte den jungen Pesch stark beeindruckt und geprägt. Nicht weniger wichtig waren für ihn die Vorlesungen über Nationalökonomie, die er ab dem Wintersemester 1874 / 1875, insbesondere bei dem Bonner Finanzwissenschaftler Erwin Nasse hörte.
Die Frage nach der „sozialen Gerechtigkeit" wurde für Pesch damals immer dringlicher. Als er in Bonn der „Unitas-Salia" im Verband der Wissenschaftlichen katholischen Studentenvereine Unitas beitrat, treffen wir ihn mehrfach in „wissenschaftlichen Sitzungen" als Referent über „die industrielle Krise" und über den damals von Preußen gegen die katholische Kirche entfachten Kulturkampf. Er selber schreibt zu letzterem: „Oft bin ich in jenen sturmbewegten Tagen als Redner aufgetreten, einmal auch in der dicht besetzten Beethovenhalle. Schon damals habe ich dem lieben Gott für mein gutes Mundstück gedankt. Die katholische Sache konnte es gut gebrauchen."
Kurz vor seinem juristischen Staatsexamen fand Heinrich Pesch den Weg zur Theologie zurück: Am 10.1.1876 trat er in Exaeten in Holland der Gesellschaft Jesu bei, die wegen der Jesuitengesetze in Deutschland verboten war. Nach dem dreijährigen Studium der Philosophie wechselte er in das Jesuitenkolleg in Feldkirch in Vorarlberg, anschließend wurde er von seinem Orden zu theologischen Studien nach England geschickt. Das Studienhaus der Jesuiten, Ditton Hall, lag im industriereichen Lancashire. Pesch war von dem, was er dort als „Los der Arbeiterklasse" und dann später in den Eisenwerken Westfalens und den Kohlengruben Nordböhmens kennen lernte, so bewegt, dass er den Beschluss fasste, wie er in seiner Autobiographie schreibt, „ganz besonders der Hebung des Arbeiters mein Leben zu widmen".
Der nächste Schritt auf diesem Weg führte ihn nach Holland, wo er in den „Stimmen aus Maria Laach", die sein Bruder, der Jesuit Tilman Pesch (1836-1899) als Schriftleiter betreute, soziale und wirtschaftliche Fragen behandelte. Auf Anordnung seiner Oberen übernahm Pesch 1892 für acht Jahre das Amt eines Spirituals im Priesterseminar in Mainz. Dieser „Umweg" war insofern höchst förderlich, als er dort auf das geistige Erbe des Mainzer Bischofs Wilhelm Emmanuel von Ketteler (1811-1877) stieß, des großen Wegbereiters der Katholischen Soziallehre und der Sozialreform im 19. Jahrhundert. Zudem lernte er in Mainz die führenden Männer des damaligen sozialen und politischen Katholizismus kennen, besonders Franz Brandts, Franz Hitze (1851-1921), Carl Trimborn und August Pieper (1866-1942). Er nahm an den Kursen des „Volksvereins für das katholische Deutschland" in Mönchengladbach, der „Kaderschmiede" des sozialen Katholizismus, teil und wirkte in vielen Veranstaltungen des Volksvereins mit.
Als Ergebnis seiner vielfältigen Studien und Erfahrungen entstand sein erstes großes zweibändiges Werk mit dem Titel „Liberalismus, Sozialismus und christliche Gesellschaftsordnung". Dabei wurde ihm klar, dass die Kirche ihren Beitrag zur Lösung der sozialen Frage nur leisten konnte, wenn die wirtschaftlichen Tatbestände und Zusammenhänge richtig gesehen würden. Dies veranlasste ihn, noch im Alter von 47 Jahren bei Adolph Wagner (1835-1917) in Berlin Nationalökonomie zu studieren (1901–1903). Wagner war ein Repräsentant jener Minderheit von Nationalökonomen, die sich wie Peschs Bonner Lehrer Erwin Nasse bereits 1872 gegen die akademische „Alleinherrschaft" der „klassischen Nationalökonomie" im „Verein für Socialpolitik" zusammengeschlossen hatten und von ihren Gegnern als „Kathedersozialisten" apostrophiert wurden.
Wissenschaftlich gerüstet, nahm Pesch 1903 zunächst im Haus der deutschen Ordensprovinz in Luxemburg und drei Jahre später in Berlin-Marienfelde sein wichtigstes „Lebenswerk" in Angriff, das fünfbändige „Lehrbuch der Nationalökonomie". Damit gelang es ihm, erstmals eine Wirtschaftstheorie zu entwerfen, in der die sozialethischen Vorgaben einer christlich-naturrechtlichen Sozialanthropologie mit den „Sachgesetzlichkeiten" der modernen Wirtschaft überzeugend verbunden wurden. Die letzten Überarbeitungen erfolgten in Valkenburg / Holland, wo er am 1.4.1926 verstarb und auf dem Kollegsfriedhof begraben wurde.
Pesch ging es vor allem darum, eine anthropologische Grundlage des menschlichen Wirtschaftens zu entwerfen, in der individualistische und kollektivistische Fehlinterpretationen vermieden werden. Er wandte sich gegen eine rein sachbezogene Betrachtung des Wirtschaftens und setzte beim „Menschen inmitten der Gesellschaft" an. Auf der Suche nach einer griffigen Kurzformel, die sich sowohl vom Individualismus als auch vom Kollektivismus absetzt, wählte er den Begriff „Solidarismus". Pesch sah die in einer Gesellschaft miteinander kooperierenden Menschen innerlich durch die sittliche Forderung der Gerechtigkeit und Liebe verbunden. Unter Berücksichtigung der drei notwendigen Institutionen des gesellschaftlichen Lebens, der Ehe und Familie, des Privateigentums und des Staates als Wahrer des Gemeinwohls, steht für Pesch ein „solidarisches Arbeitssystem" im Mittelpunkt der Ordnung der Volkswirtschaft. Die Wirtschaft als gesellschaftlicher Lebensprozess hat die dauernde Bereitstellung von Gütern und Dienstleistungen zu sichern, und zwar auf dem Weg der Arbeitsteilung und Arbeitsvereinigung. Dabei ist sowohl die Vorstellung einer Wirtschaft als rein individualistisch konzipierte Nutzenveranstaltung (Liberalismus) als auch eine kollektivistische Entpersönlichung (Sozialismus) zu vermeiden. „Hieraus ergibt sich die Forderung: Vergesellschaftung des Menschen und nicht der Produktionsmittel wie im Sozialismus."
Die Werke von Heinrich Pesch wurden für die katholisch-soziale und katholisch-politische Bewegung im Kaiserreich und in der Weimarer Republik zu einer unersetzlichen Grundlage ihres Wirkens. Die Wirtschafts- und Sozialwissenschaftliche Fakultät der Universität zu Köln verlieh ihm 1923 den Ehrendoktor der Staatswissenschaften, die Theologische Fakultät der Universität Münster 1925 den theologischen Ehrendoktor.
Bei der Würdigung von Heinrich Pesch als wissenschaftlicher Pionier der modernen Katholischen Soziallehre sollte nicht der Mensch und Priester übersehen werden. Als Student traf er sich in Bonn an jedem Montag mit Kommilitonen und Bürgern in der „Vincenz-Konferenz", die sich zur Aufgabe gemacht hatte, über die Bedürfnisse armer Familien zu beraten, sie regelmäßig zu besuchen und ihnen nach Kräften geistig und materiell zu helfen. In seiner Berliner Zeit wohnte er lange im „Kloster zum Guten Hirten". Eine Ordensschwester beschrieb ihn nach seinem Tod als einen Priester, „der immer bereit war, in der Seelsorge in unserem Hause auszuhelfen. ... Die Kranken des Hauses besuchte er oft und gern. ... Von seiner Art und seinem Wesen ging dann soviel Beruhigung und tröstliche Zuversicht auf die Kranken über, daß es wohl eine Gnade war, unter seinem Beistande den Weg in die Ewigkeit anzutreten". Auch in der Nachbarschaft habe er viele Freunde gehabt, besonders unter den „einfachen Leuten". Er führte gerne kleine freundschaftliche Gespräche mit ihnen und wurde von vielen geradezu verehrt. „Wenn er in unserem Garten spazieren ging, führte er vielfach einen großen Hund mit sich und in der Hand hielt er einen langen Rosenkranz, den er andächtig betete."
Viele Einsichten Peschs zeigen eine frappierende Aktualität. Er stimmte mit Adam Smith (1723-1790) zwar darin überein, „daß der Gewerbefleiß (industry) die Hauptursache der materiellen Volkswohlfahrt ist." Aber diese könne auf Dauer nicht verwirklicht werden, wenn jeder nur „an seine eigene Wohlfahrt denkt und annimmt, daß auf diese Weise sozusagen automatisch und als eine Art unbeabsichtigtes Nebenprodukt, auch der Reichtum des Volkes sichergestellt" werde. Der Mensch sei „niemals wahrhaft, wirklich und wesentlich von seinen Mitmenschen unabhängig, weil er ... eine sozialgebundene Person" ist. Deshalb kann und darf er seine wirtschaftlichen Interessen immer nur in „Solidarität", also innerhalb einer staatlichen Rahmenordnung vertreten und verfolgen, die das Wohl aller zu gewährleisten hat.
Insofern kann Heinrich Pesch als einer der geistigen Wegbereiter einer sozialen Marktwirtschaft begriffen werden. Dies hat auch seine ehemalige Studentenverbindung, die „Unitas" so gesehen und 1982 den „Heinrich-Pesch-Preis" für besondere Verdienste im Bereich der Sozialwissenschaften und der sozialen Tätigkeit gestiftet. Diesen Preis haben inzwischen neun namhafte Vertreter christlich-sozialen Denkens und Handelns erhalten, unter anderem die beiden Wissenschaftler Franz H. Mueller und Anton Rauscher (geboren 1928), die sich um das Lebenswerk Heinrich Peschs und seiner Aktualisierung besonders verdient gemacht haben.
Schriften (Auswahl)
Die Volkswirtschaftslehre der Gegenwart in Selbstdarstellungen, in: Felix Meiner (Hg.), Band 1, Leipzig 1924, S.191-208.
Lehrbuch der Nationalökonomie, 5 Bände, Freiburg im Breisgau 1905–1923.
Liberalismus, Sozialismus und christliche Gesellschaftsordnung, 2 Bände, Freiburg im Breisgau 1896, 1900/1901.
Literatur
Klettern, Bernd, "Heinrich Pesch", in: Biographisch-Bibliographisches Kirchenlexikon 7 (1994), Sp. 236-247.
Mueller, Franz H., Heinrich Pesch, in: Rheinische Lebensbilder 7 (1977), S.167-180.
Mueller, Franz H., Heinrich Pesch. Sein Leben und seine Lehre, Köln 1980.
Rauscher, Anton, Heinrich Pesch (1854-1926) in: Aretz, Jürgen/Morsey, Rudolf/Rauscher, Anton (Hg.), Zeitgeschichte in Lebensbildern, Band 3, Mainz 1979, S.136-148.
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Roos, Lothar, Heinrich Pesch, in: Internetportal Rheinische Geschichte, abgerufen unter: https://www.rheinische-geschichte.lvr.de/Persoenlichkeiten/heinrich-pesch/DE-2086/lido/57c958c76611a7.71839029 (abgerufen am 06.12.2024)