Die rheinische Landgemeinde im Spätmittelalter
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1. Wort und Begriff
Die rheinische Landgemeinde des Spätmittelalters ist ein Idealtyp. Eine einheitliche Gemeindeordnung, wie wir sie seit dem 19. Jahrhundert kennen, die es erlauben würde, Funktion und Status der Landgemeinde im staatlichen Gefüge flächendeckend für das Rheinland zu beschreiben, gab es im Mittelalter nicht. Stattdessen gab es viele einzelne Landgemeinden, die sich aber in Bezirk, Organisationsform und Zuständigkeit regional und oft von Dorf zu Dorf voneinander unterschieden. Es gab Landgemeinden, die identisch waren mit einem Dorf, andere, die sich auf zwei oder drei Dörfer bezogen oder – wie am Niederrhein und im Bergischen – Einzelhöfe und verstreut liegende Weilersiedlungen umfassten. Große Unterschiede bestanden auch hinsichtlich des Zuständigkeitsbereiches der Landgemeinden. Er reichte von der Mitsprache oder selbständigen Gestaltung alltäglicher Belange vor allem im Bereich des ländlichen Wirtschaftslebens bis hin zur Teilnahme an der Hochgerichtsbarkeit. Die Rechte der Gemeinden waren nicht von einer Obrigkeit verliehen, sondern in der Interaktion mit der jeweiligen Herrschaft gewachsen, sie entwickelten sich aus dem Zusammenspiel von Herrschaft und Bauern vor Ort. Vielfach bot auch die Konkurrenz mehrerer Herren in einem Dorf, ihre Anstrengungen, die Herrschaftsrechte der Mitkonkurrenten zurückzudrängen beziehungsweise zu mediatisieren, einen zusätzlichen Impuls für den dörflichen beziehungsweise nachbarschaftlichen Gemeinschafts- und Gemeindebildungsprozess.
Wie kleinräumig, gleichwohl für die bäuerliche Bevölkerung unmittelbar erfahrbar solche Auseinandersetzungen geführt wurden, zeigt etwa das Bestreben der Herren, das Recht auf den Glockenschlag durchzusetzen, das heißt das Recht, mit der Kirchenglocke alle Mitglieder der Ortschaft und nicht nur die der eigenen Herrschaft unterworfenen Personen zusammenzurufen. Nicht ohne Grund finden sich in vielen ländlichen Rechtsquellen immer wieder diesbezügliche Bestimmungen. Angesichts der Mannigfaltigkeit der Erscheinungsformen gilt für die Landgemeinde mehr noch als für die mittelalterliche Stadt, dass sie auch als Individualität zu begreifen ist. Wenn also im Folgenden der Versuch unternommen wird, die rheinische Landgemeinde zusammenfassend unter Zurückführung auf besonders kennzeichnende Merkmale zu beschreiben, so muss damit zugleich in Kauf genommen werden, dass die Vielfalt der Einzelformen nur ungenügend berücksichtigt werden kann.
Zu beachten ist ferner, dass der Begriff ‚Landgemeinde’ ein Konstrukt ist, der so in den Quellen nicht vorkommt, der es aber wegen seiner relativen Offenheit erlaubt, unterschiedlich konstituierte ländliche Gemeinden in den Blick zu nehmen – Dorfgemeinden ebenso wie sich aus mehreren Siedlungen zusammensetzende Gemeinden, die ‚Nachbarschaften’ im niederrheinischen Streusiedlungsgebiet ebenso wie die Hochgerichtsgemeinden an der Mosel – und so der mittelalterlichen Wirklichkeit näher zu kommen.
Die Landgemeinde in ihren Anfängen ist zunächst dort fassbar, wo es um die Regelung von im weitesten Sinne wirtschaftlichen Angelegenheiten geht, vor allem hinsichtlich der Aufsicht von in gesamter Hand genutztem Wald- und Weideland, und der Verfügung über in gemeinsamem Besitz befindlichen Liegenschaften. In diesem Zusammenhang vor allem treten seit dem 12. und 13. Jahrhundert eine lokale communitas, eine universitas oder die homines oder rustici beziehungsweise coloni eines Dorfes selbständig handelnd auf, zumeist in Abgrenzung eigener Rechte gegenüber herrschaftlichen Ansprüchen, vielfach im zisterziensischen Kontext. Diese früh fassbaren Gemeinden waren lokale Personenverbände, in deren Zuständigkeit neben der Regelung wirtschaftlicher Belange auch die Friedenssicherung lag. Damit vollzog sich im Übrigen der ländliche Gemeindebildungsprozess – abgesehen von den alten Römerstädten – cum grano salis in zeitlicher Parallelität mit dem Aufkommen des Städtewesens.
2. Die Quellen
Reichlicher fließen die Quellen erst seit dem 14. Jahrhundert, und sie erlauben es, wenn auch manchmal mit noch nicht genügender Deutlichkeit, ein Bild der spätmittelalterlichen Landgemeinde zu zeichnen. Von besonderer Bedeutung sind in diesem Zusammenhang die so genannten „Ländlichen Rechtsquellen“, worunter die Weistümer, als die „gesprächigste Gruppe“ der Quellenzeugnisse (Bader 1962, S. 60) hervorgehoben seien. Zwar sind auch sie im herrschaftlichen Kontext entstanden, aber ihr genossenschaftlicher Charakter ist unbestritten, in der Form, dass sie kein von der Herrschaft gesetztes Recht sind, sondern von der Herrschaft erfragtes und von der jeweiligen Gemeinde gewiesenes, das heißt ausgesprochenes (Gewohnheits-)recht, das gleichwohl nicht unveränderbar war. Zusammen mit den Jahrgedingsprotokollen – Aufzeichnungen der regelmäßig im lokalen Rahmen stattfindenden Gerichtstage – geben sie Auskunft über die Austarierung von Herrschaft und Genossenschaft vor Ort, gewähren Einblick in lokale Macht- und Besitzstrukturen, in die Handhabung von Recht und Gericht sowie die Verteilung von Nutzungsgerechtigkeiten in Wald und Flur.
Vorwiegend im gemeindlichen Rahmen entstanden sind die Dorf- und Gemeindeordnungen, die sich mit Angelegenheiten des nachbarschaftlichen Miteinanders befassen. Sie regelten die Aufnahmebedingungen für Zuziehende, beschäftigten sich mit der Anlage und Instandhaltung von Straßen, Wegen und gemeindlichen Einrichtungen und stellten baupolizeiliche Vorschriften für den inneren Dorfbereich auf. Die Landgemeinden agierten hier zum Teil völlig selbständig, zum Teil im Zusammenwirken mit den örtlichen Herrschaftsträgern, zum Teil auch in explizierter Abgrenzung zu ihnen. Diese von der Gemeinde erstellten Statuten sind zugleich ein Zeugnis einer wenn auch beschränkten Satzungsbefugnis der Landgemeinde. In nennenswerter Zahl überliefert sind sie allerdings erst seit dem 16. Jahrhundert. Diesen Quellen an die Seite zu stellen ist eine durchaus beachtliche Zahl von Urkunden, die über Rechtsgeschäfte der ländlichen Gemeinde berichten. Hierher gehören etwa der Kauf oder Verkauf von Liegenschaften, die Erteilung von Nutzungsgerechtigkeiten an Dritte oder Auseinandersetzungen mit Nachbargemeinden über die Grenzen des Gemeindegebietes, wie sie seit dem ausgehenden Mittelalter häufig bezeugt sind.
3. Hofstatt und Dorf
Die mittelalterliche Landgemeinde war eine bäuerliche Institution genossenschaftlicher Prägung, die eingebunden war in herrschaftliche Strukturen unterschiedlicher Provenienz und die zugleich für ihren Geltungsbereich selbst Herrschaft bilden konnte. Das Zentrum des bäuerlichen Lebens war die Hofstatt. Sie bestand aus dem Haus, Wirtschaftsgebäuden und einem umzäunten Garten, der für die Nahrungsmittelversorgung der bäuerlichen Familie lebenswichtig war. Die Gebäude waren bis in die Neuzeit hinein meist aus Holz und Lehm errichtet, was den Ausbruch von Feuersbrünsten begünstigte und in den Gemeindeordnungen immer wieder regulierend angesprochen wird. Zu den Mittelpunkten der ländlichen Siedlungen gehörte die Kirche oder Kapelle, und zwar sowohl in den Dörfern als auch dort, wo das Siedlungsbild von Einzelhöfen und Weilern geprägt war wie am Niederrhein und im Bergischen. Soweit die Kirchen Pfarrrechte besaßen, waren sie der Ort, wo Taufen und Eheschließungen stattfanden, wo die Osterkommunion gespendet und das heilige Öl für die Krankensalbung aufbewahrt wurde. Daneben gab es in vielen Dörfern – häufig bezeugt für die Orte an Rhein und Mosel – ein Wirtshaus, ferner ein Gemeinde- oder Spielhaus, das seit dem 16. Jahrhundert – städtischen Sprachgebrauch nachahmend – gelegentlich auch als Rathaus bezeichnet wurde. Hier versammelte sich die Gemeinde bei den verschiedensten Anlässen, hier fanden die dörflichen Feste statt. In oder auch etwas außerhalb der Dörfer lagen die größeren Hofstätten der Grundherren, die ehemaligen Fronhöfe, die eigen genutzt oder verpachtet waren und wohin die Bauern oder Winzer ihre Abgaben und vielfach auch noch Frondienste leisten mussten. Diese Hofstätten waren der sichtbare Ausdruck von Herrschaft und stellten für die ländliche Bevölkerung wichtige Bezugspunkte dar, sowohl hinsichtlich eines Zusammenwirkens und Zusammenlebens mit der Herrschaft im Jahreslauf als auch als Gegenstand und Auslöser bäuerlicher Proteste.
Zum Dorf und den Weilersiedlungen gehörte fernerhin die Flur mit ihren verschiedenen Nutzflächen, mit Äckern, Wiesen, Weinbergen und Wald. Die Flur stand zum Teil in Eigennutzung, zum Teil wurde sie gemeinsam genutzt. Der gemeinschaftlich genutzte Teil der Flur wird in den Quellen häufig ebenfalls als ‚Gemeinde’ bezeichnet, in der Forschung spricht man von der Allmende. In den Orten lebten Bauern oder Winzer mit ihren Familien, aber ebenso Tagelöhner, Knechte und Mägde, der eine oder andere Handwerker, in den Kirchorten auch Pfarrer (wenn er denn residierte), Vikar oder Frühmessner. Nicht alle gehörten zur Gemeinde, sondern nur der, der im Ort wohnte und wirtschaftete, der Haus und Hof besaß. Auch nur dieser war an der Allmendnutzung beteiligt.
Die bäuerliche Familie war eingebunden in die Nachbarschaft, die ländliche Gemeinde, ebenso wie sie in vielfältigen Beziehungen zu einer oder - vor allem in den Weinbau treibenden Dörfern an Mosel und Rhein – zu mehreren Herrschaften stand.
4. Bildungsfaktoren der Landgemeinde
Allen voran ist in diesem Zusammenhang die Grundherrschaft zu nennen als die das ländlich-bäuerliche Leben im Mittelalter entscheidend prägende Institution mit nicht allein wirtschaftlicher, sondern auch rechtlicher und sozialer Bedeutung, in deren Rahmen sich auch die Gemeindebildung vollzog. Nicht zu vergessen sind die bereits im grundherrlichen Verband angelegten Mitgestaltungsmöglichkeiten etwa im Rahmen des grundherrlichen Gerichtes. Der Grundherrschaft an die Seite zu stellen ist die Gerichtsherrschaft oder besser die Gerichtsorganisation, in die die Gemeinden in unterschiedlicher Form und Abstufung einbezogen waren. Vielfach war die Gemeinde auch unterster Rechts- und Friedensverband. Seit dem frühen 14. Jahrhundert sodann wurde die Entwicklung und Ausgestaltung der Landgemeinde mehr und mehr ein- und angebunden an die sich festigende Landesherrschaft, im Norden der Rheinlande früher als im Süden. Diese war bestrebt, Gemeinden als unterste landesherrliche Verwaltungsbezirke zu etablieren und über die Ämterorganisation in ihren Herrschaftsbereich zu integrieren. Als weitere Institution, die für die Formierung der Landgemeinden von Bedeutung war, ist die Pfarrorganisation zu nennen, die – vergleichbar der Landesherrschaft, aber anders als die als Personenverband strukturierte Grundherrschaft – von Anfang an auf Distriktbildung ausgerichtet war. Regionale und lokale Forschungen legen es nahe, den Stellenwert der Kirchspiele für die Herausbildung der Landgemeinde vor allem in den nördlichen Rheinlanden hoch zu veranschlagen. Keine dieser Institutionen war alleine entscheidend für die Bildung der Landgemeinde; sie waren vielmehr alle neben- und miteinander und in von Region zu Region unterschiedlicher Intensität und Ausprägung an diesem Prozess beteiligt.
Neben diesen Faktoren und diese überwölbend war das nachbarschaftliche Zusammenleben konstitutiv für die Herausbildung der Landgemeinde, in Gebieten mit vorherrschender Dorfsiedlung wie im Trierer Raum in stärkerem Maße als in Regionen mit Streusiedlung wie am Niederrhein und im Bergischen. Es gab viele dörfliche Einrichtungen, die von allen genutzt wurden, außer dem oben genannten Gemeindehaus etwa Waschhaus, Backhaus, Brunnen, auch Mühlen. Allen voran stand die Allmende in gemeinschaftlicher Nutzung. Das alles hatte Regeln und Absprachen zur Folge, deren Einhaltung überwacht werden mussten. Auch der Schutz gegen Feuer, die Aufsicht über Wege und Stege wurden gemeinsam geregelt. Eine wichtige Rolle spielte im Dorfsiedlungsgebiet die Flurordnung, der alle unterlagen. Bauernarbeit war Gemeinschaftsarbeit, die Absprachen und Regeln bedurfte. Dieses alltägliche Miteinander war ein wichtiger Impetus dafür, Angelegenheiten des nachbarschaftlichen Zusammenlebens und -wirtschaftens gemeinsam zu regeln, einen Kontroll- und Ahndungsmechanismus zu etablieren und damit in Zusammenhang stehend von der Gemeinschaft bestellte Amtsträger zu benennen. Neben allem anderen basierte die mittelalterliche Landgemeinde im Rheinland auch „auf dem grundlegenden Prinzip nachbarschaftlicher Organisation“ (Weber 1998, S. 59).
5. Regionale Erscheinungsformen und Benennungen: Zenderei, Heimgerede, Honnschaft, Burschaft, Kirchspiel, Quartier
Die mittelalterliche Landgemeinde tritt in den Rheinlanden unter verschiedenen Bezeichnungen auf. Im Eifel- und Moselraum wird sie als ‚Zenderei’ bezeichnet (vgl. hierzu und zum Folgenden Nikolay-Panter 1976, S. 39-64, S. 161-164). Sprachlich ist das Wort ‚Zenderei’ abgeleitet vom Vorsteher dieser Institution, dem ‚Zender’, der in den lateinischen Quellen als ‚centurio’ begegnet. Während die bereits im 12. und 13. Jahrhundert in diesem Raum erstmals fassbaren Centurionen-Verbände noch vorwiegend ein personelles Moment in sich bargen, hob die ‚Zenderei’, die quellenmäßig erst seit dem beginnenden 14. Jahrhundert belegt ist, deutlich auf ein räumliches Substrat ab. Der Begriff ‚Zenderei’ ist Ausdruck einer Entwicklung der Gemeinde vom Personenverband zur Gebietskörperschaft. Der centurio/Zender war das leitende Organ der Landgemeinde, seine Funktionen spiegeln die Tätigkeitsfelder und Kompetenzen der jeweiligen Gemeinde. Er verwaltete das Gemeindegut und achtete zusammen mit den anderen gemeindlichen Organen auf die Einhaltung der von der Gemeinde aufgestellten Ordnungen. Zuständig war er vielfach im Gerichtswesen, und zwar vor allem in der hohen Blutgerichtsbarkeit. In den freien Hochgerichtsgemeinden hatte er den Vorsitz im Hochgericht, in den sich aus mehreren Gemeinden zusammensetzenden Hochgerichtsverbänden führte er seine Gemeinde zum ungebotenen Ding und nahm dort Schöffenfunktionen wahr. Gewählt wurde der Zender vielfach von der Gemeinde, zumeist auf Zeit, gelegentlich hatte die Gemeinde ein Vorschlagsrecht, während der Gerichts- oder Landesherr die Einsetzung vollzog, hin und wieder ernannte die Landesherrschaft den Zender ohne Mitwirkung der Gemeinde, was vice versa den Einfluss des Landesherrn über das Amt des Zenders auf die Gemeinde vergrößerte – ein Prozess, der seit dem ausgehenden Mittelalter allenthalben zu beobachten ist. Dies führte in Zusammenhang mit dem stetigen Ausbau der Landesherrschaft auf allen Ebenen auf die Dauer gesehen zur Zurückdrängung der älteren gerichtlichen Kompetenzen von Zender und Gemeinde und deren Einbeziehung in die Landesherrschaft.
An der Untermosel, auf dem Maifeld, im vorderen Hunsrück und am Mittelrhein begegnen die Gemeinden als ‚Heimgereden’, mit einem ‚Heimburgen’ an der Spitze, der in den lateinischen Quellen im Übrigen auch als ‚centurio’ bezeichnet wird. Stellung und Funktion des Heimburgen waren zum Teil der des Zenders vergleichbar, aber nur zum Teil. Vor allem hatte er im Bereich der Gerichtsbarkeit nicht eine solch weitgehende Zuständigkeit und Selbständigkeit wie der Zender. Er war deutlich mehr herrschaftsbezogen. Heide Wunder sieht den Heimburgen als das kennzeichnende Organ für Gemeinden, die sich aus einem Zusammenwirken von Herrschaft und Genossenschaft gebildet hatten (Wunder 1986, S. 49). Insgesamt besteht hinsichtlich der Heimburgen/Heimgereden im Rheinland noch großer Forschungsbedarf.
Dies gilt ebenso für die Honnschaften und Burschaften. Erstere begegnen an der Ahr und in der Kölner Bucht, häufig am Niederrhein sowie im Bergischen Land. Die Burschaften waren am unteren Niederrhein verbreitet, etwa nördlich einer Linie Geldern – Moers – Essen. Die Honnschaften und Burschaften sind als Nachbarschaften, als Ortgemeinden erkannt worden (Ilgen, Schütze, Faber, Steinbach). Sie waren genossenschaftliche Zusammenschlüsse zur Regelung „der gemeinschaftlichen wirtschaftlichen Interessen, ‚Realgemeinden’“ (Faber 1969, S. 263), darüber hinaus aber auch „politische Gemeinden“ mit Selbstverwaltungsfunktionen einerseits und staatliche Verwaltungsbezirke andererseits (Faber 1969). Sie bildeten vielfach die untersten Einheiten für die Erhebung der landesherrlichen Steuer, des Schatzes, den sie eigenständig auf ihre Mitglieder, die Nachbarn, umlegten. Sie waren oft im Besitz von Gemeindeländereien und hatten einen eigenen Gemeindehaushalt (Kaiser 1973, S. 254-261). Ihre Vorsteher, die Honnen und Bauermeister, vertraten die Gemeinde nach außen. Sie hatten feld- und waldpolizeiliche Aufgaben, beaufsichtigten die gemeindlichen Organe Hirten und Schützen und begegnen im Bergischen vielfach als landesherrliche Steuereinnehmer. In einigen Orten waren die Honnen nicht Vorsteher, sondern Gemeindeboten, und hin und wieder sind sie auch als Gerichtsboten bezeugt.
Weiterhin seien die Kirchspiele genannt, die am Niederrhein und im Bergischen, das heißt im Honnschafts- und Burschaftsgebiet, nicht nur kirchliche Gemeindebezirke waren, sondern zum Teil ebenfalls als politische Gemeinden agierten. Die Kirchspiele bestanden aus einer - oder häufiger - mehreren Honnschaften oder Burschaften. Man wird sie im Anschluss an K. G. Faber als „Samtgemeinden“ verstehen können, und in diesem Rahmen fungierten sie als politische Gemeinden, aber mit regional und lokal unterschiedlicher Zuständigkeit. Wurde soeben auf die Honnschaften und Burschaften als unterste landesherrliche Steuerbezirke hingewiesen, so gilt andererseits, dass es auch Kirchspiele gab, die diese Funktion innehatten. Hinzukommt, dass die Kirchspiele in ihrem Zuschnitt hier vielfach identisch waren mit den landesherrlichen Orts- und Landgerichten, was ihren Status als lokale Verwaltungsbezirke im Gefüge der Landesherrschaft unterstreicht. „Die Kirchspielgemeinde wurde damit zugleich Gerichtsgemeinde“ (Janssen 1968, S. 33). Die Verwalter des Kirchenvermögens, die Kirchspielmeister, nahmen auch Selbstverwaltungsfunktionen in der weltlichen Gemeinde wahr. Überblickt man die Entwicklung in den nördlichen Rheinlanden, so kann man feststellen, dass es große regionale vor allem an der Landesherrschaft orientierte Abstufungen „in der Bedeutung der Kirchspiele als Samtgemeinde“ gab (Faber 1969, S. 267).
Schließlich sei noch ein Blick in den Westen der Rheinlande geworfen, auf das Aachener Reich, das auf der Grundlage ehemaligen Königsgutes entstanden ist. Die Landgemeinden wurden hier als „Quartiere“ bezeichnet, eine Benennung, die von Anfang an den räumlichen Aspekt betonte. Die Quartiere, die seit dem 14. Jahrhundert belegt sind, umfassten mehrere Dörfer. An ihrer Spitze standen ebenfalls als Honnen bezeichnete Vorsteher (seit dem 17. Jahrhundert Kapitäne genannt), die aber zunehmend der Obrigkeit, das war hier der Aachener Rat, verantwortlich waren, der sie ernannte und entlohnte. In den Quartieren waren die Hauptfunktionsträger der Gemeinde nicht die Honnen, sondern die Kirchmeister und Sendschöffen. Neben deren Aufgaben im kirchlichen Bereich galten sie als die eigentlichen Organe der gemeindlichen Selbstverwaltung und als Vertreter der Quartiere. Gewählt wurden die Kirchmeister von den Quartieren im Rahmen der sog. Kuren, in die die Quartiere zwecks Wahl eingeteilt waren. Ihre Amtszeit betrug ein Jahr. Die Sendschöffen wurden von den Dörfern auf sieben Jahre gewählt. Das Sendgericht war nicht nur der Ort, wo Verstöße gegen kirchliche Sittengebote gerügt wurden, sondern es war hier zugleich eine Art weltliches Gericht für Bagatellsachen. Viele Beschlüsse, die weltliche Angelegenheiten der Quartiere betrafen, wurden bei den Sendtagen gefasst und basierten auf der Zustimmung der Nachbarn. Auf der Ebene der Dörfer gab es ferner noch die gewählten Dorfmeister, die allerdings keine größere Bedeutung erlangten.
Zu berücksichtigen ist mit Nachdruck, dass die Gemeindeorganisation nicht statisch war. Sie hatte sich seit dem 12. Jahrhundert allmählich in regional und lokal unterschiedlicher Ausprägung herausgebildet und war fortan einer steten Entwicklung unterworfen. Im Zuge von Landesausbau, Siedlungsverdichtung und einer von Nord nach Süd fortschreitenden ‚Verdorfung’ kam es zu Neubildungen, Abspaltungen und Zusammenlegung von Landgemeinden, woraus sich auch ein Teil ihrer unterschiedlichen Zuständigkeiten erklären lässt. Von großer Bedeutung für die Entwicklung der Landgemeinde war sodann deren Verortung in der Landesherrschaft, ein Prozess, der in den nördlichen Rheinlanden früher feststellbar ist als im Süden. Die Honnschaften, Burschaften, Kirchspiele und Quartiere scheinen seit dem 14. Jahrhundert schon alle mehr oder weniger auch eine Funktion der Landesherrschaft gewesen zu sein, was für die Zendereien des Trierer Raumes in vergleichbarer Verdichtung erst ab dem 16. Jahrhundert gilt.
6. Kompetenzen von Landgemeinden
Zu einer der hervorragendsten Tätigkeiten dieser Zendereien gehörte die Ausübung von Gerichtsrechten, und zwar insbesondere von solchen, die sich auf die hohe Blutgerichtsbarkeit bezogen (Nikolay-Panter 1976, S. 78-92). Grad und Umfang der gemeindlichen Gerichtsbefugnisse waren unterschiedlich. Während in weiten Teilen des Trierer Raumes viele Gemeinden innerhalb eines größeren Gerichtsverbandes an der Ausübung der Hochgerichtsbarkeit eigenständig mitwirkten, aber selbst nicht Träger der Gerichtshoheit waren, gab es andere, die für ihren Bereich die volle Gerichtshoheit mit Blutbann besaßen, entweder alleine oder in unterschiedlichen Abstufungen mit der oder den ortsansässigen Herrschaft(en). Ein Beispiel mag dies verdeutlichen: In der Moselgemeinde Trittenheim war es den drei größten örtlichen Grundherren – dem Erzbischof von Trier, den Grafen von Manderscheid und dem Trierer Kloster St. Matthias – gelungen, einen Bannbezirk daselbst zu entwickeln, der Vogtei genannt wurde. Hier hatte jeder der drei Herren ein eigenes Hofgericht. Kurtrier und Manderscheid galten darüber hinaus als Gewalt-, Vogt- und Schirmherren des Dorfes und ihnen standen über ihre grundherrlichen Rechte hinaus auf allen Wegen und Straßen und in den gemeinschaftlich genutzten Weiden und Wäldern Gebot und Verbot und alle Gerichtsbußen zu. Beide Herrschaften hatten hier also ein gemeinsames Banngericht entwickelt, das allerdings nicht für Blutfälle zuständig war. Neben oder über den grundherrlichen Gerichten der drei Herren und dem Banngericht gab es in Trittenheim eynn freye hoichgericht der gemeynden, das zuständig war für alle Fälle, die an Hals und Haupt trafen. Zu den Rechten und Pflichten der Gemeinde gehörten die Verfolgung, Festnahme, Verwahrung und Exekution des Straftäters. Wenn ein Missetäter im Hochgerichtsbezirk festgenommen wurde, so wurde er zunächst in das Haus des Zenders, also des Gemeindevorstehers, gebracht, der ihn mit Unterstützung der Gemeinde einen Tag und eine Nacht verwahren sollte. Danach führte ihn die Gemeinde ins Gefängnis von Trittenheim, wo er während der folgenden peinlichen Befragung durch einen Scharfrichter von der Gemeinde versorgt und bewacht wurde. Das Urteil sprachen die 14 Schöffen des Hochgerichtes, von denen sieben Manderscheider, vier kurtrierische und drei St. Mattheiser Hintersassen sein sollten und die in noeden all eyn gericht waren unnt gynt uff eynen raidt.
Den Vorsitz im Hochgericht führte der Zender. Das Recht zur Begnadigung eines zum Tode verurteilten Straftäters lag ebenso bei der Gemeinde wie sie auch die Hinterlassenschaften eines Hingerichteten erhielt.
In dieser oder einer ähnlichen Form – vielfach einbezogen in größere, mehrere Gemeinden umfassende Gerichtsverbände – waren viele Zendereien des Trierer Raumes an der Ausübung der Hochgerichtsbarkeit beteiligt. Dass diese mit weitgehenden Gerichtsrechten ausgestatteten Gemeinden durchaus keine quantité négligable war, zeigt ein Edikt Ludwigs des Bayern vom Jahre 1314. Unmittelbar nach seiner zwiespältigen Königswahl übertrug er dem Trierer Erzbischof Balduin von Luxemburg offenbar als Dank für seine Unterstützung bei der Wahl die Dörfer im Trierer Erzstift, in denen bis dahin die Gerichtsbarkeit in causis criminalibus civilibus et mixtis von den Dorfbewohnern (villanis) selbst ausgeübt wurde und die Freiheimgerichte (vrihengerichte) genannte wurden (J. N. von Hontheim, Historia Trevirensis diplomatica et pragmatica, Band 2, Augsburg 1750, S. 94). Dem königlichen Erlass beziehungsweise den Vereinnahmungsbestrebungen Balduins war aber zunächst nicht der gewünschte Erfolg beschieden, denn für das Jahr 1354 ist nochmals ein ähnlich lautendes Edikt Karls IV. ebenfalls für Balduin überliefert. (Wilhelm Günther, Codex diplomaticus Rheno-Mosellanus, Band 3,2, Koblenz 1825, S. 608). Viele Gemeinden fuhren dennoch weiterhin fort, ihre überkommenen Rechte auszuüben. Die Einbeziehung der gemeindlichen Hochgerichtsrechte in die Gerichtsorganisation der erstarkenden Landesherrschaft vollzog sich vielmehr sukzessive und war verbunden mit einer Reduzierung der gemeindlichen Gerichtsrechte zugunsten der Landesherrschaft. Dieser Prozess verlief nicht einheitlich, sondern war von den örtlichen Herrschaftsverhältnissen abhängig und gelangte im Erzstift Trier erst im 16. Jahrhundert weitgehend zum Abschluss.
Solche umfassenden Gerichtsrechte, wie sie für viele moselländische Zendereien bezeugt sind, hatten die Heimgereden, Honnschaften, Burschaften, Kirchspiele und Quartiere nicht, wenngleich es einige wenige Hinweise gibt, dass Honnschaften an der hohen Blutgerichtsbarkeit beteiligt waren, etwa in der Form, dass sie bei Hinrichtungen die Todeswerkzeuge stellen sollten (Kaiser 1979, S. 255-256; Schütz 1900, S. 185, 210, 231). Die am Niederrhein und im Bergischen seit dem 14. Jahrhundert nachweisbaren landesherrlichen Orts- und Landgerichte waren wie die sich im Trierer Raum neben den älteren Zendereien seit dem späten Mittelalter ausbildenden Banngerichte die Gerichte im Dorf, in der Gemeinde, nicht die Gerichte der Gemeinde. Gleichwohl bestand zwischen diesen Gerichten, die Teil der landesherrlichen Ämterorganisation waren beziehungsweise im Trierer Raum wurden, und der Gemeinde realiter eine enge Verbindung, was sich besonders augenfällig im Schöffenkollegium niederschlug. Die Schöffen dieser Orts- und Landgerichte – zumeist sieben an der Zahl, gelegentlich auch 14 – waren von ihrer Genese und Funktion her primär herrschaftsbezogene Organe. Sie waren Urteiler am herrschaftlichen Gericht in Fällen der Zivil- und Strafgerichtsbarkeit und nahmen Verwaltungsaufgaben im Dienst der Herrschaft auf lokaler Ebene wahr. Zugleich wuchs ihnen innerhalb des gemeindlichen Lebens eine nicht unerhebliche Bedeutung bei. Sie übernahmen Verwaltungsfunktionen, und oft traten sie – als Gesamtheit oder einzeln – neben dem Gemeindevorsteher als Handlungsorgane der Gemeinde auf. Darüber hinaus übten sie in den Gemeinden gelegentlich „noch eine Art freiwilliger Gerichtsbarkeit aus“ (Faber 1969, S. 264). Die Schöffen nahmen gleichsam eine Scharnierfunktion zwischen Herrschaft und Gemeinde ein. Sie rekrutierten sich aus der bäuerlichen Bevölkerung, zum Teil war das Amt an den Besitz bestimmter Höfe gebunden. Formal eingesetzt und eidlich verpflichtet wurden sie zumeist von der (Landes-) Herrschaft, hin und wieder auf Vorschlag der Gemeinde, häufig ergänzten sie sich durch Kooptation, und ihr Amt galt auf Lebenszeit. Diese Übung hatte zur Folge, dass das Schöffengremium einen abgeschlossenen Kreis von Familien repräsentierte, worin für „Außenseiter“ kein Platz war (Janssen 1968, S. 87-88). Die Schöffen wurden bevorzugt aus dem Kreis der wohlhabenden Personen genommen und bildeten fraglos eine soziale Oberschicht.
Die rheinischen Landgemeinden hatten allenthalben Strafbefugnisse in Bagatellsachen. Diese bezogen sich vorrangig auf agrarische Angelegenheiten, wie Feld-, Flur- und Allmendvergehen oder andere geringere Strafsachen, vor allem im Bereich des ländlichen Wirtschaftslebens und des nachbarschaftlichen Zusammenlebens. Die Bußen waren in Geld oder Naturalien fällig, an Mosel und Rhein vielfach auch in Form von Wein, der gemeinsam vertrunken wurde. Gelegentlich wurden einem Übeltäter auch die Gemeindenutzbarkeiten entzogen – eine empfindliche Strafe. Darüber hinaus stand dem Gemeindevorsteher – häufig belegt im Zendereigebiet – das Zwangsmittel der Pfändung zu.
Zu den Befugnissen der Landgemeinde gehörte ebenfalls die Aufsicht über Wege, Straßen und Gebäude. Es handelte sich hierbei vorwiegend um kleinere Wirtschafts- und Fußwege im inneren Dorfbereich, um noitstraßen und nachbarliche weegh. Die Gemeinden legten diese Wege an und sorgten für deren Instandhaltung. In manchen Ortschaften wurde der Zustand der Wege jedes Jahr vom Gemeindevorsteher überprüft. Notfalls erging eine Aufforderung zur Ausbesserung der Wege. Wer dieser Pflicht nicht nachkam, wurde vom Gemeindevorsteher mit einer Strafe belegt, ebenso wie diejenigen Personen, die Gemeindewege und Gemeindeland überbauten oder auf sonst eine Art entfremdeten.
Zu den Tätigkeiten der Gemeinden gehörte fernerhin die Errichtung und Instandhaltung von im Interesse der Gemeinschaft erstellten Baulichkeiten, wie Brücken, Gräben, Gemeindehäusern, Dorfzäunen und gelegentlich auch Dorfbefestigungen. Zudem übten die Gemeinden über die Gebäude in ihrem Bereich eine Art baupolizeiliches Aufsichtsrecht aus. Sinn und Zweck der baupolizeilichen Vorschriften war es vor allem, der Gefahr von Feuersbrünsten entgegenzutreten. Dementsprechend finden sich in den Gemeinde- und Polizeiordnungen Bestimmungen, die darauf hinzielten, zumindest Dächer und Kamine nicht mehr aus Holz, sondern aus Stein zu bauen. Es versteht sich, dass derlei Vorschriften bevorzugt in Gebieten mit vorherrschender Dorfsiedlung zu finden sind, wo der Ausbruch von Feuer mit besonderen Gefahren verbunden war und schnell weite Kreise ziehen konnte.
Eng war das Verhältnis der ländlichen Gemeinde zu „ihrer“ Kirche besonders dort, wo Pfarrei und Landgemeinde in ihrem Zuschnitt identisch waren. Doch auch, wo dies nicht der Fall war, nahm die weltliche Gemeinde regen Anteil an den kirchlichen Belangen. Dies zeigte sich an der Beteiligung der Pfarrgenossen an Kirchenbeleuchtung und Kirchenausstattung, wie etwa der Bereitstellung von Messgewändern und Messbüchern, der Stiftung von Altären und an Bau und Unterhaltung der Pfarrkirche. Nach kanonischem Recht war der Inhaber des großen Zehnten, das ist in der Regel der Patronatsherr, zuständig für die Instandhaltung des Kirchenschiffes, der Pfarrer für den Chor und die Pfarrgemeinde für den Turm. In der Realität mag die Verteilung der Baulasten nicht streng nach dieser Vorgabe geregelt gewesen sein, aber es steht außer Zweifel, dass ein Großteil der Kosten für die örtliche Kirche von der weltlichen Gemeinde aufgebracht wurde. Gehörten zu einer Pfarrei mehrere Gemeinden, so hatte jede von ihnen ihren Anteil an Bau und Instandhaltung der kirchlichen Gebäude zu leisten, was oft zu Streitigkeiten führte. In den Dörfern ohne Kirche – dies gilt besonders für die großen Kirchspiele am Niederrhein, wo der Weg zur Pfarrkirche oft weit und beschwerlich war – bestand eine Tendenz zur Bildung von sich an den Honnschaften orientierenden Kapellengemeinden mit eigenem Kapellenvermögen und eigener kirchlicher Organisation, die in einem zweiten Schritt – oft viel später – mit Pfarrrechten begabt wurden. Gelegentlich lief auch die Bildung von Kapellengemeinden mit der Neubildung oder Abspaltung von Honnschaften aus einem bis dahin größeren Bezirk parallel. Überall verbreitet war die Beteiligung der weltlichen Gemeinde an der Unterhaltung des Pfarrseelsorgers in der Form, dass diesem die Gemeindenutzbarkeiten zugestanden wurden. Nicht selten wirkte die weltliche Gemeinde auch bei der Besetzung von Vikarsstellen mit, indem sie dem Pfarrer oder Patronatsherren eine Person ihrer Wahl für dieses Amt präsentierte.
Die Kirchen waren im ausgehenden Mittelalter Adressaten von frommen Stiftungen oft erheblichen Ausmaßes. Dies führte vielfach zu einem nicht beträchtlichen Sondervermögen der Kirche, das für die Bauern im Übrigen eine gern genutzte Kreditmöglichkeit bot. Verwaltet wurde das Vermögen von den Kirchenmeistern – meist zwei an der Zahl -, die von der Gemeinde bestellt wurden. Im Trierer Raum waren die Kirchenmeister den „Beamten“ der weltlichen Gemeinde in finanziellen Angelegenheiten Rechenschaft schuldig. Am Niederrhein und im Bergischen, wo die Kirchspiele vielfach auch ‚politische’ Gemeinden, Samtgemeinden, waren, erfüllten die Kirchenmeister nicht nur kirchliche Verwaltungsaufgaben, sondern fungierten darüber hinaus auch als Handlungsorgane der weltlichen Gemeinde. Stellung und Funktion gerade der Kirchenmeister zeigen, wie sehr sich in den nördlichen Rheinlanden kirchliche und weltliche Gemeinde überlagerten und durchdrangen.
7. Die Gemeindewirtschaft
Von großer Bedeutung für die mittelalterliche Landgemeinde waren alle Angelegenheiten, die mit dem ländlichen Wirtschaftsleben in irgendeiner Weise zu tun hatten. An erster Stelle ist in diesem Zusammenhang die Allmende zu nennen, die aus Wald- und Weideland bestand und worüber die Gemeinde die Verfügungsgewalt hatte. Der größte Teil der Allmende wurde gesamthänderisch genutzt, meist durch Auftrieb gemeindlicher Vieh-, Schaf- oder Schweineherden. Nutzungsberechtigt an der Allmende waren die gemeinsleute, die burger, die einichsleute, das heißt alle diejenigen, die Haus und Hof besaßen und zur Gemeinde gehörten. Der Umfang der Nutzungsrechte war in einigen Gemeinden gleich, in anderen bestand insofern eine Abstufung, als der reichere Bauer, der einen größeren Hof hatte, der mehr Land und Vieh besaß, die Allmende in einem größeren Maße beanspruchen konnte als der Kleinbauer. Mit berechtigt an der Allmende waren ebenfalls der oder die in einer Gemeinde ansässigen Grundherren beziehungsweise deren Hofleute sowie der im Dorf wohnende Pfarrer oder Vikar.
Die Gemeinde war nicht nur nutzungsberechtigt, sondern in ihre Zuständigkeit fielen ebenfalls die Regelung der Allmendnutzung und deren Kontrolle. Allmendordnungen allgemeiner Art und Einzelbestimmungen wurden von ihr beschlossen, vielfach ohne Beteiligung von Seiten einer Herrschaft. Die Gemeinde bestimmte die Anzahl der von den Gemeindemitgliedern aufzutreibenden Tiere, sie traf Regelungen über die Art und Weise der Nutzung, erließ Anordnungen über Eröffnung und Dauer der Weidezeiten und stellte Regelungen für die Entnahme von Bau- und Brennholz auf. Die Aufsicht über die Gemeindewälder und -weiden wurde von den gemeindlichen Organen Hirten und Förster wahrgenommen. Diese wurden von der Gemeinde periodisch oder auf Lebenszeit bestellt – wobei das „Amt“ oft in der Familie blieb - , von ihr entlohnt und waren dem Gemeindevorsteher beziehungsweise der Gemeindeversammlung verantwortlich. Entsprechend den Rechten der Gemeinde zur Regelung der Allmendnutzung, gehörte es zu ihren Befugnissen, Zuwiderhandlungen gegen die von ihr aufgestellten Ordnungen zu ahnden (Nikolay-Panter 1976, S. 125-136).
Auch dort, wo die Wälder sich in herrschaftlichem Besitz befanden, standen den Gemeinden die Nutzung von Bau- und Brandholz sowie Schweinemast und Viehtrifft in den Wäldern zu, wohingegen Aufsicht und Kontrolle bei den herrschaftlichen Amtleuten lagen, vielfach auch in Konkurrenz zu den bäuerlichen Nutzern. Dass dies nicht konfliktfrei vor sich ging – daran lassen die Quellen keinen Zweifel.
Auseinandersetzungen gab es im Spätmittelalter nicht nur zwischen Gemeinde und Herrschaft, sondern auch zwischen benachbarten Gemeinden über die Nutzungsgerechtigkeiten in Wald und Flur. Im Zuge von Landesausbau und Siedlungsverdichtung nach der Agrarkrise des 14. Jahrhunderts kam es seit der zweiten Hälfte des 15. Jahrhunderts zu einer Erweiterung gemeindlicher Nutzungsräume, die schließlich – zunächst nicht in Form von Grenzlinien, sondern von Grenzsäumen – aneinander stießen, was den Blick für Grenzen, Distrikte, räumliche Zuständigkeitsbereiche schärfte. Die Vielzahl der Grenzstreitigkeiten im ausgehenden Mittelalter und die Heftigkeit, mit der diese Auseinandersetzungen geführt wurden, sind ein Hinweis für diesen fortlaufenden Distriktbildungsprozess auf lokaler Ebene.
Die Auseinandersetzungen um Grenzen und Nutzungsrechte, die Neubildung und Abspaltung von Gemeinden aus einem bis dahin größeren Verband, die seit dem späten Mittelalter zu beobachten sind, hatten zur Folge, dass das Gemeindegebiet und damit auch das Gemeindeland nicht statisch, sondern Veränderungen unterworfen war. Hinzukam, dass die Gemeinde dort, wo sie Grundvermögen besaß, vielfach eine rege An- und Verkaufstätigkeit entwickelte. Sie kaufte und verkaufte Liegenschaften, vergab Güter in Sondernutzung und erhielt dafür Zinsen oder Pacht. Die Adressaten solcher Gütergeschäfte waren nicht nur Gemeindemitglieder, die so ihre Eigenwirtschaft vergrößerten, sondern auch benachbarte oder in der Gemeinde begüterte Grundherrn beziehungsweise deren Hofleute oder Pächter. Diese kauften Gemeindeliegenschaften wie andererseits die Gemeinden Teile ehemals grundherrlichen Besitzes kauften oder pachteten.
Neben dem Kauf von Liegenschaften verwandten die Gemeinden ihre Einnahmen für die Entlohnung von Hirten, Förstern und anderen gemeindlichen Organen, ebenso wie für die Errichtung und Instandhaltung von Gemeindebauten beziehungsweise Einrichtungen, die von allen genutzt wurden. Ein besonderes Augenmerk scheinen einige Gemeinden auf Mühlen gelegt zu haben, die für die bäuerliche Wirtschaft sehr wichtig waren. Überkommen waren sie als herrschaftliche Bannmühlen, wo jeder der zum Herrschaftsverband gehörte, verpflichtet war, gegen Zahlung mahlen zu lassen. Seit dem ausgehenden Mittelalter ist eine Tendenz der Gemeinden dahingehend feststellbar, Mühlen selbst zu erwerben.
Auf der Ausgabenseite der Gemeinden standen auch – worauf oben hingewiesen worden ist – die Aufwendungen für die Kirche.
Aus alledem geht hervor, dass die Gemeinden Einnahmen und Ausgaben hatten, die – wenn auch auf noch so rudimentäre Weise – verwaltet werden mussten. Die Quellen zu diesem Punkt sind spärlich. Aus den wenigen Hinweisen hierzu kann man schließen, dass der Gemeindevorsteher in Verbindung mit mehreren anderen Personen aus der Gemeinde hierfür zuständig war. Ob dies der Rechen- oder Zinsmeister war, ein Gemeindeausschuss oder die Geschworenen – beides Gremien, die in größeren Gemeinden im ausgehenden Mittelalter belegt sind -, bleibt oft im Dunkeln.
8. Die Gemeindeversammlung
Die Entscheidungen über die Gemeindegeschäfte im Allgemeinen wurden nicht von den gemeindlichen Amtsträgern, sondern gemeinsam getroffen. Der Ort hierfür war die Gemeindeversammlung, zu der alle Gemeindemitglieder einberufen wurden. Vielfach bestand Erscheinungspflicht. Die Gemeindeversammlung tagte ein- oder mehrmals im Jahr an festen Terminen, bei denen alle periodisch zu regelnden Angelegenheiten behandelt wurden. Hierher gehörten Bestellung der Gemeindeorgane, Rechnungslegung, Beratungen über die Flurordnung oder die Erstellung von Gemeinde- oder Polizeiordnungen. Daneben gab es so genannte ‚gebotene’, das heißt eigens einberufene Gemeindeversammlungen, wo aktuell anstehende Fragen des Gemeindelebens beraten wurden. Bei der Beschlussfassung scheint Einmütigkeit intendiert gewesen zu sein. Erst gegen Ende des Mittelalters gibt es Hinweise auf das Mehrheitsprinzip. Neben allem dem waren die Gemeindeversammlungen auch „gesellschaftliche“ Ereignisse, die Gelegenheit boten zu gemeinsamem Essen und Trinken, aber auch zu nachbarschaftlichen Auseinandersetzungen, wovon die Quellen immer wieder Zeugnis geben.
9. Ausblick
Dieses große, gleichwohl regional und lokal unterschiedliche Ausmaß an politischer Handlungsfähigkeit der rheinischen Landgemeinden scheint im Gegensatz zu stehen zu mancherlei zeitgenössischen Berichten über die Situation der bäuerlichen Bevölkerung. So charakterisiert Sebastian Münster in den 1540er Jahren in seiner Kosmographie den Bauernstand wie folgt: Der vierte Stand ist der Menschen die auf dem Feld sitzen und in Dörffern, Höffen und Wylerlin und werden genannt Bawern, darum sie das Feld bawen und das zu der Frucht bereitet. Diese fürn gar ein schlecht und niederträchtig Leben. Es ist ein jeder von dem andern abgeschieden und lebt für sich selbst mit seinem Gesind und Viech. Ihre Häuser sind schlechte Häuser von Kot und Holz gemacht, uff daz Ertrich gesetzt und Strow gedeckt. Ihre Speiß ist schwarz trucken Brot, Haberbrei oder gekocht Erbsen und Linsen, Wasser und Molken ist fast ihr einzig Trank. Eine Zwilchgippe zwen Buntschuck und ein Filzhut ist ihre Kleidung. Diese Leute haben nimmer Ruh. Früw und spat hangen sie der Arbeit an: Sie tragen in die nächste Stett zu verkauffen was sie Nutzung überkommen auf dem Feld und von dem Viech, und kaufen dagegen, was sie bedörffen. Dann sie haben keine oder gar wenige Handwerkslewt bey ihnen sitzen. Ihre Herren müssen sie offt durch das Jahr dienen, das Feld bawen, säen, die Frucht abschneiden und in die Schwer führen, Holz hawen, und gräben machen. Do ist nichts, das das arm Volk nitt thun muß und on Verlust nicht aufschieben darff (Sebastian Münster, Cosmographia. Das ist: Beschreibung der ganzen Welt. Faksimlie-Druck nach der Ausgabe von 1628 bei Heinrich Petri in Basel, Lahnstein 2010, Band 1, S. 676).
Das hier gezeichnete Bild der Bauern, das die materielle und auch ideelle Dürftigkeit ihrer Lebenswelt in den Vordergrund rückt, berücksichtigt eine Seite der bäuerlich-ländlichen Wirklichkeit. Ihrer Untertänigkeit, ihrer vielfältigen herrschaftlichen Gebundenheit stehen auf der anderen Seite mannigfaltige Mitwirkungsmöglichkeiten im Rahmen der ländlichen Gemeinde und durchaus vorhandene Bereitschaft zur Auseinandersetzung mit der Herrschaft bis hin zu offenem Widerstand gegenüber. „Der einzelne Nachbar galt politisch wenig, wohl aber seine institutionell ausgeformte Gemeinschaft“ (Weber 1998, S. 63).
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Nikolay-Panter, Marlene, Die rheinische Landgemeinde im Spätmittelalter, in: Internetportal Rheinische Geschichte, abgerufen unter: https://www.rheinische-geschichte.lvr.de/Epochen-und-Themen/Themen/die-rheinische-landgemeinde-im-spaetmittelalter/DE-2086/lido/57d121cea779b1.40644228 (abgerufen am 05.12.2024)